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Aus: Ausgabe vom 09.03.2017, Seite 10 / Feuilleton
Glosse

Mord durch Verzicht

Von André Weikard

Manchmal ist es hilfreich, eine Sache zu Ende zu denken. Lernen kann man das Denken bei Denkern, warum nicht bei Kant? Der rät – und wer in der Schule aufgepasst hat, weiß es noch: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Einfacher ausgedrückt: Stell dir vor, wenn alle das täten, was du tust. Wo kommen wir da hin? Wenn alle bei Rot über die Ampel fahren, wenn jeder seinen Müll auf die Straße wirft und alle über den frisch gesäten Rasen trampeln? Stell dir vor, es wäre Krieg, und keiner geht hin? Oder alle Menschen wären Veganer.

Ja, was wäre denn dann? Die Schlachthöfe wären geschlossen, die Metzger hätten umgeschult, die Legebatterien bloß noch Ruinen. Und die Tiere? Wo wären die? Würden wilde Kuhherden durch den Schwarzwald ziehen? Blökende Schafe im Stadtpark grasen? Wohl eher nicht. Dass unser felloses Hausschwein hierzulande ausgewildert werden kann, ist recht unwahrscheinlich. Vermutlich wäre es vom Aussterben bedroht. Vielleicht würden ein paar Exemplare in Zoos ausgestellt. Das unnütze Nutztier wäre verschwunden. Die Veganer hätten ihr Ziel erreicht: die erbarmungslose Ausrottung der zahmen Viecher. Denn: Veganismus ist Massenmord.

Wenn das letzte Schwein geschlachtet, die letzte Kuh gemolken und das letzte Ei gelegt ist, werdet ihr merken, dass man Tofu zwar essen, aber nicht damit kuscheln kann. Unzählige ungeborene Ferkel habt ihr ermordet, Lämmern ihren Lebensraum genommen. Die jahrtausendealte Symbiose zwischen Mensch und Tier einseitig aufgekündigt. Jeder Schinken, den ihr verschmäht, verhindert ein Schweineleben. Jedes Glas Milch, das ihr nicht trinkt, verhindert eine Kälbchengeburt, jeder Wollpulli, den ihr euch weigert zu tragen, macht ein Schaf unmöglich. Ihr fürchterlichen Veganer, ihr verräterischen Fleischfeinde! Angeführt von den Großvegetariern Hitler und Lisa Simpson habt ihr euer Ziel nun bald erreicht. Jeder von euch, wenn er ein Durchschnittsdeutscher gewesen wäre, hätte in seinem Leben 945 Hühnern das Leben geschenkt, 46 Schweinen, 37 Enten, zwölf Gänsen und immerhin vier Schafen und vier Rindern. Und hätte sie allesamt genüsslich verspeist. Schämt euch!

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