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Aktuell

  • 15.01.2024 10:40 Uhr

    »Das Endspiel des Kapitalismus ist in vollem Gange«

    Der Däne Torkil Lauesen über die kommende Transformation und Antiimperialismus heute.
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    Das Referat des aus Kopenhagen angereisten Torkil Lauesen auf der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz gehört zu den wohl am heißesten erwarteten Beiträgen an diesem Sonnabend im Berliner Tempodrom. Der Däne gehörte in den 1970er Jahren einer kommunistischen Gruppe an, die Geldtransporter überfiel, um mit der Beute sozialistische Befreiungsbewegungen im globalen Süden zu unterstützen.

    In seinem Referat stellte er die Frage, »wie wir Sand in das Getriebe der kapitalistischen Maschine bekommen«, um auf ihren Trümmern ein »gleichberechtigtes und friedliches Weltsystem« aufzubauen. Dass dies angesichts des im globalen Norden weit verbreiteten Pessimismus bei Revolutionären denkbar wird, liegt laut Lauesen an den Krisen des neoliberalen Kapitalismus. Dabei hat er in erster Linie den aktuellen Niedergang der US-Hegemonie auf der einen, sowie den von China angeführten, aufstrebenden Nationen des Südens, die eine multipolare Weltordnung errichten, auf der anderen Seite, vor Augen.

    Dieser »Hauptwiderspruch« ermögliche ein Fenster für eine antimperialistische Praxis. In der Metropole sei eine solche aus zwei Gründen geboten: Erstens habe unsere »imperiale Lebensweise« die ökologische Klimakrise verursacht, zweitens verfügten unsere Staaten über Massenvernichtungsmittel, die das »Endspiel des Systems in eine Katastrophe verwandeln könnten«. Die treibende Kraft der Transformation werde jedoch der globale Süden sein. Diesen gelte es »konkret zu unterstützen«, unter anderem, indem der internationale Arbeiterkampf entlang von globalen Produktionsketten, in der Klima- sowie der Antikriegsbewegung gefördert werde.

    Antiimperialisten die sich im Norden an diesem Kamp beteiligen, so Lauesen, werden eine Minderheit in unserer Gesellschaft sein, aber eine wichtige Minderheit: »Wir werden als Landesverräter gelten – aber das ist besser, als ein Klassenverräter zu sein«. Zum Abschluss warnte der Referent: Auf die kommende Kriminalisierung der Bewegung solle man sich vorbereiten, sowohl auf persönlicher als auch auf organisatorischer Ebene. (kan)

  • 13.01.2024 20:29 Uhr

    Nicht vom Himmel gefallen

    Gegen die Passivität: Abschlusspodium der RLK debattiert über den politischen Kampf gegen die wachsende Gefahr von rechts
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    Das Podium der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am Sonnabend im Berliner Tempodrom

    Die abschließende Podiumsdiskussion der diesjährigen Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz verhandelt die Frage »Wer stoppt die Rechten?« Mit jW-Chefredakteur Stefan Huth diskutieren die Journalistin Alev Bahadir (DIDF), Żaklin Nastić (MdB, BSW), Shabnam Shariatpanahi (DKP), Luca Stüven (Perspektive Kommunismus) und Gerd Wiegel (Leiter des Referats »Demokratie, Migrations- und Antirassismuspolitik« beim DGB-Bundesvorstand).

    Alev Bahadir sagt, der Aufstieg der AfD sei nicht vom Himmel gefallen. Eine jahrzehntelange neoliberale Politik habe den Boden dafür vorbereitet. 2024 werde einmal mehr ein Jahr drastischer Kürzungen werden. Der arbeitenden Bevölkerung werde der Boden unter den Füßen weggezogen. In Zeiten von wirtschaftlicher Not gebe es zwei Möglichkeiten: Entweder gelinge es den linken Kräften, die Ursachen aufzuzeigen und Auswege anzubieten. Oder rechte Kräfte nutzen diese Lage für ihre Politik. Linke Kräfte müssten stärker eigene Akzente setzen.

    Auch Gerd Wiegel geht davon aus, dass die aktuellen Entwicklungen eine Vorgeschichte haben, die 20 bis 25 Jahre zurückreicht. Gewerkschaftliche Kräfte seien zum Teil den Weg des Neoliberalismus mitgegangen. Nun stehe man vor einer fundamentalen Krise der liberalen parlamentarischen Demokratie. Wiegel fordert eine schärfere inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD. Inhaltlich habe diese Partei einem Großteil ihrer Wähler nichts zu bieten. Sie würden statt dessen die Zeche zahlen, wenn die AfD einmal regiere. Aber nun sei die Lage sei so, dass sich mancher Gewerkschaftssekretär in Ostdeutschland überlege, ob er bei Betriebsversammlungen das Thema AfD kritisch anschneide: Da würden viele sagen, das sei »meine Partei«.

    Żaklin Nastić geht auf die Vorgeschichte ihres Austritts aus der Linkspartei ein. Die herrschende Politik sei die Ursache dafür, dass die AfD erstarkt sei. Es brauche Gegenmodelle; die Linkspartei, legt sie nahe, biete dieses Gegenmodell nicht mehr; Nastić nennt als Beispiel den Umgang mit der Friedensbewegung. Deshalb sei der Austritt ein notwendiger Schritt gewesen.

    Shabnam Shariatpanahi wirbt für antikapitalistische und antifaschistische Bündnisse und führt Beispiele aus der politischen Arbeit in Duisburg an. Man müsse mit den Menschen ins Gespräch kommen; das gehe nicht über Theorie, sondern über Arbeit auf der Straße.

    Luca Stüven berichtet über die Arbeit der Antifaschistischen Aktion Süd. Diese sei ein positives Beispiel in einer Zeit, in der die antifaschistische Bewegung in einer Situation relativer Schwäche dastehe. Es gehe nicht nur darum, den Rechten das Wasser abzugraben. Die Positionen der Rechten müssten als feindliche Klassenpositionen entlarvt werden. Außerdem müsse der Handlungsspielraum der Rechten eingeschränkt werden.

    Alev Bahadir geht auf Versuche der AfD ein, türkeistämmige Menschen für sich zu gewinnen. Man dürfe nicht übersehen, dass die Spaltungsversuche auch innerhalb migrantischer Gruppen stattfinden. Die herrschende Klasse betreibe Migrationspolitik als Druckmittel gegen die Arbeiterklasse. Das biete Möglichkeiten, Menschen mit Migrationshintergrund, die hier geboren sind, gegen Menschen auszuspielen, die gerade ankommen. Ohnehin seien rückschrittliche Kräfte etwa unter türkeistämmigen Menschen aktiv. Der deutsche Staat habe ein Interesse, die Arbeiterklasse zu spalten, der türkische Staat auch. Deutscher Rassismus und türkischer Nationalismus müssten gleichermaßen bekämpft werden.

    Gerd Wiegel sagt, die Gewerkschaften seien vermutlich die größte migrantische Organisation in Deutschland. Die Politik der Gewerkschaften habe sich in den vergangenen Jahren verändert und sei nicht mehr so stark auf »deutsche Stammbelegschaften« ausgerichtet. Ein Teil der Arbeiterklasse sei Arbeitsbedingungen ausgesetzt, die zu Spaltungstendenzen führen. Die Gewerkschaften müssten deutlich machen, dass sich die gemeinsamen Interessen im Betrieb gegen die Kapitalseite und nicht gegen die Kollegen aus der Türkei oder Polen.

    Żaklin Nastić erklärt, dass sich der Kampf gegen alle Rechten richten müsse. Die Regierung kenne ja auch »gute Faschisten«, zum Beispiel in der Ukraine. Die AfD sei für enorme Aufrüstung, für NATO-Beitritte. Um die AfD zu entlarven, müsse man die Herrschenden entlarven.

    Shabnam Shariatpanahi betont, kein Mensch, der fliehe oder migriere, tue das freiwillig. Auch diese Menschen müssten Linke vertreten.

    Zuletzt äußern sich die Diskutanten zur Frage eines AfD-Verbots. Gerd Wiegel findet die Debatte richtig, der konkrete Versuch könne aber zum Bumerang werden. Żaklin Nastić sieht das ähnlich. Ein Parteiverbot sei sehr schwierig und löse das zugrundeliegende politische Problem nicht. Alev Bahadir sagt, dass sich eine solche Verbotspraxis auch gegen Linke richten könnte. Die Debatte sei insofern auch scheinheilig, weil sie von SPD oder Grünen ausgehe, die der AfD mit ihrer Politik den Boden bereitet hätten. Luca Stüven nennt diese Auseinandersetzung eine Auseinandersetzung im bürgerlichen Lager. Der Faschismus sei ohnehin immer die letzte Option der Herrschaftssicherung im bürgerlichen Lager. Die Verbotsdiskussion führe auch zu einer gewissen Passivität bei den Gegnern der AfD. (np)

  • 11.01.2024 19:30 Uhr

    »Wir haben für alle Altersklassen etwas parat«

    Sozialistische Organisation »Rote Peperoni« bietet Kinderprogramm auf XXIX. Rosa-Luxemburg-Konferenz. Ein Gespräch mit Georg Zahn
    Marc Bebenroth
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    Auch für die Kleinsten ist gesorgt (Berlin, 14.1.2023)

    Auf der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am Sonnabend in Berlin werden die »Roten Peperoni« die Kinderbetreuung übernehmen. Ist das Motto »Wem gehört die Welt?« eine Frage, die Sie auch von den Kleinen häufiger zu hören bekommen?

    Für die Kinder ist klar, dass die Welt uns allen »gehört«, wobei »geliehen« vielleicht der bessere Begriff ist. In unseren Themeneinheiten, dieses Jahr »Grenzenlos solidarisch – Fluchtursachen bekämpfen«, versuchen wir auch, die Machtstrukturen und Einflüsse von Politik, Industrie, Medien und Lobbys kindgerecht zu vermitteln. Immer mit Beispielen und Hinweisen, wie man diese bekämpfen, umgehen oder ins Leere laufen lassen kann.

    Ihrem Selbstverständnis nach sind die »Peperoni« eine sozialistische Kinderorganisation.

    Wir versuchen auf unseren Freizeiten, den Kindern eine sozialistische Welt vorzuleben. Wir nehmen sie und ihre Meinungen ernst. Wir ermuntern sie, aktiv zu werden. Auf den Lagervollversammlungen haben sie die gleichen Rechte wie die Betreuerinnen. Wir sind immer wieder überrascht, wie vernünftig die Kinder damit umgehen.

    In den Themeneinheiten bekommen sie andere Perspektiven angeboten als vielleicht in der Schule oder in den Medien. Es würde wenig Sinn ergeben, mit ihnen »Das Kapital« oder das »Kommunistische Manifest« zu lesen. Wir arbeiten eher mit ganz praktischen, kindgerechten Ansätzen. Nach dem Motto: Das Große (Gesellschaftsmodell) im Kleinen leben. Dabei kommen wir immer wieder zum Punkt der Besitzverhältnisse zurück.

    Wir erleben protestierende Bauern, streikende Lokführer, Ärzte und Apotheker gehen auf die Straße. Motiviert das junge Menschen, sich für diese Berufe zu interessieren?

    Ich persönlich habe noch kein Kind gefragt, was es später mal werden will, wahrscheinlich weil ich das als Kind selbst nicht wusste. Die Berufe sind ohne Frage wichtig, aber vielleicht ist das generelle Interesse am Einstehen für unsere Rechte das wichtigere, unabhängig von der Profession und gesellschaftlichen Stellung. Streikrecht und Gewerkschaften sind immens wichtige Errungenschaften. Das sollte man Kindern unbedingt vermitteln und das tun wir auch. Man sollte auch immer beachten, wofür oder wogegen gestreikt wird. Für Dieselsubventionen die Straßen zu blockieren, finde ich beispielsweise weniger verständlich, als für die Umwelt zu demonstrieren.

    Seit Monaten wird alles teurer. Familien mit geringen Einkommen müssen erst recht jeden Euro mehrfach umdrehen. Bekommen die »Peperoni« das auch zu spüren?

    Auf der einen Seite treffen uns die Preiserhöhungen von Freizeitheimen, Zeltplätzen und Lebensmitteln. Auf der anderen Seite sehen wir auch genau diese Probleme bei den Familien. Unabhängig davon versuchen die »Roten Peperoni« schon immer, auch Kindern aus einkommensschwächeren Familien alle unsere Freizeiten zu ermöglichen. Unsere Preise sind im Vergleich zu anderen Ferienlagern sehr gering und es gibt einen Solifonds. Wir finanzieren uns nur durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Wir Betreuer werden nicht bezahlt, sondern zahlen sogar selbst unsere Beiträge, weil uns die Arbeit mit Kindern und das sozialistische Miteinander das wert sind. Trotzdem sorgen wir auf unseren Freizeiten für eine gesunde, ausgewogene und meistens auch vegane Ernährung.

    Die Rosa-Luxemburg-Konferenz findet erstmals im Tempodrom statt. Was bedeutet das für die Kinderbetreuung und Ihr Programm?

    Wir sind es in der jetzt 30jährigen Tradition der »Peperonis« ohne eigenes Haus oder Zeltplatz gewohnt, uns jedem Raum anzupassen. Daher gibt es auch dieses Jahr ein buntes Programm. Ähnlich wie im letzten Jahr Spiel- und Bastelangebote, wir haben Fotos und Filme von unseren Freizeiten dabei, bemalen unser neues Jahrestransparent und vielleicht gibt es ja noch die eine oder andere Überraschung. Wir sind gespannt auf die Kinder und haben für alle Altersklassen etwas parat.

  • 11.01.2024 19:30 Uhr

    »Wir müssen die Solidarität beibehalten«

    Über den Zustand von Labour, jüngste Arbeitskämpfe in Britannien und die Macht der Masse. Ein Gespräch mit Jeremy Corbyn
    Dieter Reinisch
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    Jeremy Corbyn auf einer Demonstration gegen Rassismus in London (November 2021)

    Anfang der Woche sprachen Sie im Unterhaus über den Gazakrieg und kritisierten die Politik der britischen Regierung. Labour schweigt zum Krieg Israels gegen Gaza. Wie geht es Ihnen, wenn sie Keir Starmer sehen, der sich weigert, für einen Waffenstillstand einzutreten?

    Dass es keinen Waffenstillstand gibt, zeigt das katastrophale Versagen der politischen Führung auf globaler Ebene. In den letzten Monaten mussten die Menschen ein Ausmaß an Grauen ertragen, das uns für immer verfolgen wird. Trauernde Mütter, Stadtteile ausgelöscht, Ärzte führen Amputationen ohne Betäubung durch, Tausende verwaiste Kinder.

    Deshalb habe ich immer wieder einen Waffenstillstand gefordert, und es ist unverständlich, dass sich so viele meiner Parlamentskollegen weigern, dasselbe zu tun. Ein Waffenstillstand ist die grundlegendste Forderung, um das Morden zu beenden – diese Forderung muss von jedem Abgeordneten gestellt werden, der glaubt, dass jedes menschliche Leben den gleichen Wert hat.

    Auch zur Gewerkschaftsbewegung schweigt Starmer. Der gesundheitspolitische Sprecher der Partei meinte sogar, die Ärztestreiks seien falsch. Ist Labour noch eine Partei der britischen Arbeiter?

    Als ich der Labour Party beitrat, schloss ich mich einer von Gewerkschaften gegründeten Bewegung an. Als ich Abgeordneter wurde, wurde ich für das Versprechen gewählt, mich den Streikposten der Arbeiter anzuschließen. Die Entscheidung, ob die Streikenden unterstützt werden, sollte keine Frage der Strategie oder des Wahlmanagements sein. Es ist eine Grundsatzfrage – und es sollte einer von Gewerkschaften gegründeten Partei nicht schwerfallen, diesen Grundsatz zu unterstützen.

    Denken wir daran, dass Ärzte, Lehrer und Bahnpersonal nicht nur streiken, um ihre Gehälter zu schützen und die Reallohnverluste auszugleichen. Sie streiken, um unsere öffentlichen Dienstleistungen zu retten, die Armut zu beenden und sich gegen die Gier der Unternehmen zu wehren. Politiker mögen ihr Bestes tun, um Arbeiter und Öffentlichkeit gegeneinander auszuspielen. Aber Arbeiter sind die Öffentlichkeit, und die Öffentlichkeit sind die Arbeiter – und letztendlich werden bei Streikaktionen Siege für uns alle errungen!

    Es gibt Massenproteste gegen den Gazakrieg, und seit Juni 2022 sind Millionen von Arbeitern in den Streik getreten, ohne dass sie von der Labour-Führung Unterstützung erhalten hätten. Dennoch liegt Starmer in den Umfragen mit mehr als 20 Prozent vorn. Interessieren sich die britischen Wähler nicht für Gaza und Arbeiterfragen?

    Die Menschen im ganzen Land haben die Nase voll von einer Tory-Regierung, die in den letzten 14 Jahren unsere öffentlichen Dienste dezimiert und Millionen Menschen in die Armut gestürzt hat.

    Aber es reicht nicht aus, die Tories zu besiegen. Es gibt einen Grund, warum Hunderttausende Menschen für Frieden und Gerechtigkeit für das palästinensische Volk marschiert sind. Es gibt einen Grund, warum eine große Zahl von Menschen in den Streik getreten ist. Es gibt einen Grund, warum Tausende auf die Straße gehen, um zu fordern, dass wir unsere Energie, Wasser, Bahn und Post in öffentliche Hände geben: Es gibt eine breite Nachfrage nach transformativen Veränderungen. Von Mietpreisbindungen über öffentliches Eigentum, Vermögenssteuern bis hin zu Sozialwohnungsbauten und einem nationalen Pflegedienst bis hin zu einem »Green New Deal« – die Menschen erkennen die Notwendigkeit mutiger Lösungen für die Krisen, mit denen wir alle konfrontiert sind.

    Der Wunsch nach transformativen Veränderungen ist groß. Wir können es uns nicht leisten, diese Energie verpuffen zu lassen. Wir brauchen die Umverteilung von Reichtum und Macht, um eine investitionsgesteuerte Wirtschaft aufzubauen, die sich an menschlichen Bedürfnissen orientiert und nicht an der Gier der Unternehmen!

    Lassen Sie uns über das vergangene Jahr in Großbritannien sprechen. In den letzten 18 Monaten gab es die größte Streikwelle seit Margaret Thatcher. Welche bleibenden Auswirkungen werden diese Ausstände haben?

    Die unmittelbare Auswirkung wird eine bessere Bezahlung der arbeitenden Bevölkerung sein. Längerfristig gesehen, haben diese Streiks dazu geführt, dass in den Menschen das Gefühl geweckt wurde, dass kollektives Handeln möglich ist. Immer mehr Menschen erkennen, dass sie nicht zurückstecken und die ungleichen, unfairen und ungerechten Bedingungen dieser Wirtschaft akzeptieren müssen. Dass sie gemeinsam viel mehr erreichen können als allein. Dass in der Einheit wahre Kraft liegt.

    In diesem Sinne ein großes Lob an die RMT, deren entschlossenes Handeln und die offensichtliche Entschlossenheit ihrer Mitglieder, die Streiks zu unterstützen, die sowohl die Regierung als auch die Londoner Verkehrsbetriebe dazu zwangen, eine Stunde vor Ablauf der Frist ihren Forderungen nachzugeben. (Corbyn spricht hier die kurzfristige Absage der Streiks der Londoner U-Bahn-Angestellten an, da der Betreiber vergangenes Wochenende Gesprächen mit der RMT-Gewerkschaft zugestimmt hat. jW)

    Ich hoffe, dass die Streikaktion zu einer neuen Welle der gewerkschaftlichen Rekrutierung führen wird, die ansonsten isolierte Arbeiter zusammenbringt: junge Menschen, diejenigen, die in der Gig-Economy tätig sind, und diejenigen, die zu Hause unbezahlte Arbeit leisten. Die jüngsten Aktionen der Amazon- und Starbucks-Mitarbeiter geben uns die dringend benötigte Hoffnung, dass wir Erfolg haben können.

    Wir beginnen das Jahr in einer Zeit enormen und intensiven Stresses für viele Arbeiter, insbesondere im Gesundheitswesen und im Bildungswesen. Es ist wichtig, dass wir sicherstellen, dass die kollektive Solidarität, die wir im Jahr 2023 gezeigt haben, nicht nur im Jahr 2024 anhält, sondern auch an Größe und Breite zunimmt.

    Anstatt mit den Gewerkschaften zu verhandeln, führte die Tory-Regierung ein Antistreikgesetz ein, die Minimum Service Bill. Was muss getan werden, um den Gesetzentwurf zu vereiteln?

    Wir haben bereits einige der gewerkschaftsfeindlichsten Gesetze der Welt. Zu behaupten, dass die aktuelle Wirtschaftskrise durch eine weitere Verschärfung gelöst werden kann, ist absurd und eine Beleidigung für die Millionen von Arbeitern, die ums Überleben kämpfen. Es handelt sich um eine Sündenbockstrategie, die sich durch die gesamte Agenda der Regierung zieht.

    Ich werde weiterhin meine Stimme im Parlament nutzen, um dieses drakonische Gesetz aufzuheben, und mich dafür einsetzen, meine Kollegen aus allen Parteien zu ermutigen, dasselbe zu tun. Die Aufhebung der Antistreikgesetze ist nicht nur zwingend erforderlich, sie ist das absolute Minimum. Wir müssen die Arbeiterrechte nicht nur verteidigen. Wir müssen sie aufbauen, erweitern und verstärken – und das positive Recht verteidigen, einer Gewerkschaft beizutreten und von ihr vertreten zu werden, unabhängig davon, ob die Unternehmen sie anerkennen oder nicht.

    Viele politische Aktivisten in Großbritannien waren begeistert, als Sie an die Spitze der Labour-Partei kamen. Was ist Ihre glücklichste und stolzeste Erinnerung an Ihre Jahre als Parteichef?

    Ich war stolz auf das transformative Programm, das wir vorgelegt haben: ein Green New Deal, öffentliches Eigentum, Arbeiterrechte, Würde von Migranten und Flüchtlingen und eine ethische Außenpolitik, die auf Frieden und Gerechtigkeit basiert. Ich habe mich im Namen der Labour Party für ihre beschämende Rolle im Irak-Krieg entschuldigt.

    Unsere Politik wurde nicht von oben durchgesetzt. Sie wurde von Mitgliedern entwickelt, formuliert und verteidigt. Dank der Mitglieder konnten wir eine Partei aufbauen, die stolz gegen Austerität und für Antiimperialismus eintrat. In diesem Sinne bin ich am stolzesten auf die Art von Bewegung, die wir gemeinsam aufgebaut haben: kollektiv, demokratisch und gemeinschaftsbasiert.

    Als ich zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, erkannte ich, dass mich meine Parteikollegen dorthin geschickt hatten. Die größten Probleme, die vor mir lagen, würden von Abgeordneten ausgehen, die meiner Führung feindlich gegenüberstanden, und es erforderte viel Zeit und Durchhaltevermögen, sie zu lösen. Einige Leute waren der Meinung, dass sie dadurch gelöst werden sollten, dass man Kandidaten durchdrückt, Entscheidungen durchsetzt und Diktate auferlegt. Für mich war die Parteiendemokratie viel zu wichtig. Wahre Stärke entsteht durch die Stärkung der Masse der Mitglieder und der angeschlossenen Gewerkschaften. Meine Philosophie bestand darin, die Parteiendemokratie zu verbessern. Es ist kein Zufall, dass die Mitgliederzahl auf 600.000 gestiegen ist.

    Demokratie ist für eine gesunde, kreative und kollektive Bewegung unerlässlich. Und letztendlich kann nur eine Partei, die ihre Mitglieder stärkt, die transformative Politik vorantreiben, die dieses Land dringend braucht.

    Und Ihre größte Enttäuschung?

    Es bleibt eine bittere Enttäuschung, dass es uns nicht gelungen ist, unsere Massenbewegung in eine Mehrheit für einen transformativen Wandel umzusetzen. Doch die Niederlage bedeutet keinen Rückschritt. Wir wussten, dass die Krise in den Bereichen Wohnen, Gesundheit und Klima nicht aufhören würde. Und wir wussten, dass der Wunsch nach einer neuen Art von Politik nicht verschwinden wird.

    In diesem Jahr finden Parlamentswahlen statt. Was wird Jeremy Corbyn am Wahltag tun?

    Ich bin sehr stolz, Abgeordneter für Islington North zu sein. Seit 40 Jahren setzen wir uns gemeinsam für eine gleichberechtigtere, nachhaltigere und friedlichere Gesellschaft ein – und wir werden das weiterhin tun.

    Welche Aufgabe werden Gewerkschaften und linke Aktivisten unter einer von Starmer geführten Labour-Regierung haben?

    Seit ich 1983 Abgeordneter für Islington North wurde, habe ich die damalige Regierung für das Streben nach einer gleichberechtigteren Gesellschaft in die Pflicht genommen. Das war unabhängig davon der Fall, wer der Premierminister ist und welcher Partei er angehört. Das werde ich auch weiterhin tun.

    Als Abgeordneter ist es meine Aufgabe, meine Wähler zu vertreten und mich für die Themen einzusetzen, die ihnen am Herzen liegen: Wohnungskrise, Gesundheitswesen, Ungleichheit, Verschwinden unserer Grünflächen, soziale Isolation und psychischer Stress. Ich habe immer eine fortschrittliche Politik unterstützt, die darauf abzielt, Reichtum und Macht neu zu verteilen – und werde das auch weiterhin tun.

    Allerdings werden wir den transformativen Wandel nicht allein im Parlament herbeiführen. In der Politik sollte es darum gehen, Menschen zu befähigen, zusammenzukommen und Veränderungen herbeizuführen. Das bedeutet, gegenseitige Hilfe aufzubauen, Arbeiter bei Streiks zu unterstützen und Mietergewerkschaften beizutreten. Ich bin stolz darauf, in den letzten 40 Jahren an so vielen dieser Kampagnen in Islington teilgenommen zu haben – darum geht es bei der Arbeit als Abgeordneter.

  • 10.01.2024 19:30 Uhr

    Im Geiste Rosas

    Seit 1998 Teilnehmer der RLK: Der US-amerikanische Bürgerrechtler und politische Gefangene Mumia Abu-Jamal
    Jürgen Heiser
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    Demonstranten während des Berufungsverfahrens vor dem Bundesgerichtsgebäude (Philadelphia, 17.5.2007)

    Am kommenden Sonnabend wird der US-Bürgerrechtler Mumia Abu-Jamal wieder an der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz (RLK) teilnehmen. Wie in den 26 Jahren zuvor jedoch leider nur mit einem Diskussionsbeitrag. Denn der seit 1981 inhaftierte politische Gefangene muss weiter um seine Freiheit kämpfen.

    In diesem Jahr wird die afroamerikanische Schriftstellerin Julia Wright den Beitrag des inhaftierten Journalisten einleiten. Im jW-Gespräch ließ die Panafrikanistin die Welt erneut wissen, »wer Mumia ist – nämlich nicht der ›Cop Killer‹, als der er von der Polizei dämonisiert wird«, sondern »der Autor, Gelehrte und Historiker«, dem »ein Verbrechen in die Schuhe geschoben wurde«. Er bleibe jedoch »der Mann, der mit dem Genie seiner Feder Zeugnis von einer Gesellschaft ablegt, die die höchste Haftrate auf der ganzen Welt hat« und im Zuge dieser Masseninhaftierung viele Schwarze, Latinos, Indigene sowie in Armut lebende Menschen einsperre.

    Als Mitbegründer des »Bundestreffens der Mumia-Abu-Jamal-Unterstützungskomitees«, als Knastbesucher bei Abu-Jamal seit 1990 und als Verleger seiner ersten Bücher bekam der Verfasser im Januar 1998 Gelegenheit, Abu-Jamals Fall und Vita zum ersten Mal auf der RLK vorzustellen. Zu diesem Zeitpunkt war der erste Hinrichtungsbefehl des damaligen Gouverneurs von Pennsylvania bereits niedergekämpft. Ein nur aus Spendenmitteln finanziertes Verteidigungsteam unter Leitung des US-Bürgerrechtsanwalts Leonard Weinglass (1933–2011) hatte gemeinsam mit der internationalen Solidaritätsbewegung verhindert, dass Abu-Jamal im August 1995 mit der Giftspritze ermordet wurde. Auch der zweite Versuch, den zum Staatsfeind erklärten Journalisten »legal« zu töten, scheiterte im Herbst 1999.

    Das »Bundestreffen« mit seinen damals über 40 Gruppen kämpfte fortan gemeinsam mit den auf der RLK versammelten Aktivisten beharrlich für Leben und Freiheit des Kollegen und Genossen. Noch bis 2011 musste er in einem Todestrakt in Pennsylvania ausharren, bis ein US-Bundesgericht sein Todesurteil rechtskräftig als verfassungswidrig einstufte und in lebenslange Haft ohne Bewährung umwandelte. Der nie bewiesene Schuldspruch wegen »Polizistenmordes« blieb unangetastet.

    Seitdem tritt die internationale Freiheitskampagne dafür ein, dass Abu-Jamal, der am 24. April 70 Jahre alt wird, endlich zu seiner Familie und in die Bewegungen zurückkehren kann. In den über vier Jahrzehnten seiner Haft hat er viele inspiriert, den Kampf zur Veränderung der Welt trotz aller Widrigkeiten fortzuführen. Viele junge Oppositionelle haben durch sein Beispiel den Kampf gegen das Imperium aufgenommen.

    Auch in seinem ersten Beitrag für die RLK vom 10. Januar 1998 – damals noch handschriftlich per Luftpost übermittelt – trieb Abu-Jamal die Frage um: »Wie können wir den Geist Rosas wieder aufleben lassen?« Und »wie können wir junge Aktivistinnen und Aktivisten dazu ermutigen, sich ein solches Engagement zu eigen zu machen?«

    Rosa Luxemburg habe uns »deutlich vor Augen geführt, welche Macht Ideen entwickeln können«. Zudem habe ihr Beispiel gezeigt, »dass der Weg der Mehrheit nicht immer der richtige Weg ist«. Er bedauerte, nicht persönlich an der RLK teilnehmen zu können, und wünschte der Konferenz, sie möge Antworten auf die drängenden Fragen finden, um die Bewegungen zu stärken, »die für die Freiheit, eine neue Gesellschaftsordnung und für die Revolution eintreten«.

    In seiner »Grußbotschaft an Mumia« antwortete das RLK-Plenum, es halte seine Einladung aufrecht, sei sich indes bewusst, dass dafür »die Kampagne für Deine Freilassung verstärkt und international verbreitet werden muss«. So steht auch die vor 26 Jahren geäußerte Forderung am Sonnabend wieder auf der Tagesordnung: »Mumias sofortige Freilassung!«

  • 09.01.2024 19:30 Uhr

    »Man wird zum Schweigen gedrängt, mundtot gemacht«

    Über politische Spoken-Word-Kunst, den Krieg in Gaza und Ohnmacht als Dauergefühlszustand. Ein Gespräch mit Faten El-Dabbas
    Hagen Bonn
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    Aus Ruinen: Graffiti prangern israelische Bombardierung an und fordern ein »freies Palästina« (Deir Al-Balah, 8.6.2023)

    Sie treten auf als »Spoken-Word-Künstlerin«. Was ist das, und was hat das mit »Poetry Slam« zu tun?

    Poetry Slam steht für Dichterwettstreit/Dichterschlacht und ist die bekannteste Form des »Spoken Words«. Dabei wird der vorab selbst verfasste Text im Rahmen eines Wettbewerbs mit bestimmten Regeln wie einem Zeitlimit vorgetragen. Das Publikum kürt in der Regel die Gewinner. Spoken Word ist, wie der Name schon sagt, eine mündliche Kunstform, bei der lyrische Texte für die Bühne als Live-Performance geschrieben werden: Betonung, Gestik und Mimik stehen im Vordergrund.

    Sie sind deutsch-palästinensische Künstlerin. In Palästina wütet das Grauen. Können Sie das literarisch fassen? Politisch? Wie ertragen Sie die Situation in Gaza?

    Ich lebe seit über drei Monaten wie in einer Parallelwelt. Es ist sehr schwer in Worte zu fassen. Und gleichzeitig will man so viel sagen, laut sein und Israels Verbrechen beim Namen nennen, aber man wird zum Schweigen gedrängt, mundtot gemacht. Mein Dauergefühlszustand ist geprägt von Ohnmacht. Dazu gesellt sich die Trauer über das Ausmaß des Leidens der Palästinenser, die Wut über die Politik Deutschlands und der anderen imperialistischen Hauptmächte. Ich habe immer versucht, meine verlorene Stimme in meinen Texten wiederzufinden und die Kunstfreiheit zu nutzen:

    Ich bin Künstlerin / Ich spreche in Reimen / über Dinge auf der Welt, / die alles andere als zusammengereimt sind.

    Eines Ihrer Gedichte beginnt mit: »Ich mache Ali Baba nach und rufe: Blockade, öffne dich! Blockade, öffne dich! Blockade, öffne dich! Aber nichts geschieht.« Dann am Ende: »Frieden – du bist so fern wie 1001 Nacht.«

    Wir erleben gerade die zweite Vertreibung der Palästinenser seit 1948. Aber diesmal wird dieses Verbrechen in Echtzeit mitverfolgt, weltweit, und nicht wie damals hinter verschlossenen Türen. Deshalb protestieren die Menschen aus aller Welt auf den Straßen für Frieden und Freiheit in Palästina. Aber der »Wertewesten« schaut weg, mit Vorsatz. Selbst die arabischen Nachbarstaaten versagen kläglich. Aber ehrlich, es ist gerade schwer, eine Chance auf Frieden zu sehen.

    Wie schätzen Sie die derzeitige Stimmung in der Poetry-Szene ein? Ist Palästina ein Thema?

    Schön wär’s. Die deutsche Poetry-Slam-Szene hat ja schon immer den Ruf, dass sie nur lustige WG-Geschichten und Herzschmerz hervorbringt. Aber in den letzten Jahren ist durchaus eine gesellschaftskritische Stimmung zu erkennen gewesen. Rassismus, Klima und soziale Ungleichheit werden thematisiert. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Palästina und Israel oder Themen wie Imperialismus, Kolonialismus findet man leider nicht. In Deutschland bin ich wahrscheinlich eine Ausnahme.

    Müssen Sie jetzt eine Schere im Kopf herumtragen?

    Es ist traurig, aber ja. Man wird ausgegrenzt und diffamiert, wenn man öffentlich Israel kritisiert. Das war in der BRD schon immer ein Tabuthema, im Gegensatz zur DDR, die der Hauptunterstützer der PLO weltweit war. Die aktuellen innenpolitischen Entwicklungen gegenüber palästinensischen Positionen werden immer grotesker. Aber es geht letztendlich um imperialistische Interessen. Das muss man verstehen.

    Der legendäre palästinensische Dichter Mahmud Darwisch, er lebte von 1941 bis 2008, hat Sie sehr geprägt?

    »Mut ist, Waffen mit Worten zu begegnen« – dieses Zitat von Mahmud Darwisch begleitet mein gesamtes Künstlerdasein. Einerseits habe ich durch Darwisch meine Leidenschaft für Lyrik entdeckt – und das Potential, Menschen durch diese Kunst zu bewegen. Gleichzeitig habe ich durch seine Gedichte – neben den Erzählungen meines Großvaters – bereits in sehr jungen Jahren eine solche Sehnsucht nach meiner Heimat aufgebaut, obwohl ich bis zu meinem 20. Lebensjahr nie dort gewesen bin.

  • 09.01.2024 19:30 Uhr

    Politische Leerstelle

    Der AfD muss endlich das Wasser abgegraben werden. Dazu bedarf es eines Gegenmodells zur herrschenden Politik
    Żaklin Nastić
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    Mogelpackung. Die AfD gibt vor, die Interessen der kleinen Leute zu vertreten, setzt aber auf Marktradikalismus und Aufrüstung (Vereinnahmungsversuch der AfD bei den Bauernprotesten, Berlin, 8. Januar 2024)

    Traditionell bildet die Podiumsdiskussion den Abschluss der Internationalen Rosa-­Luxemburg-Konferenz. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Wer stoppt die Rechten?«. Wie in den Jahren zuvor, haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt vorab vorzustellen. (jW)

    Es scheint unaufhaltsam: Wo man hinschaut, ist die Rechte im Aufwind. Ob Geert Wilders in den Niederlanden, die Postfaschistin und Ministerpräsidentin Italiens Giorgia Meloni, Marine Le Pen in Frankreich, die fast ein Jahrzehnt herrschende polnische PiS-Partei, die gerade erst abgewählt wurde, der frisch gewählte Javier Milei in Argentinien, der für das Jahr 2024 erneut das Präsidentenamt der mächtigsten Nation der Welt anstrebende Donald Trump – oder die AfD in Deutschland. Die in den Parlamenten vertretenen Parteien wissen dem Durchmarsch der Rechten offenbar wenig bis nichts entgegenzusetzen.

    Auch die Bundesrepublik Deutschland steht unter erheblichem Druck von rechts. Noch nie in der bundesdeutschen Geschichte ist es einer politischen Partei mit offen rassistischer und rechtsextremer Programmatik gelungen, sich derart prominent in die öffentliche Meinungsbildung einzubringen und Wahlerfolge zu erzielen, wie es der AfD seit geraumer Zeit gelingt.

    Volkes Unbehagen

    Wahlergebnisse unterscheiden sich von Umfrageergebnissen: Eine Umfrage bezieht sich in der Art der Datenerhebung potentiell auf eine Grundgesamtheit, während tatsächliche Wahlen eben nur die Grundgesamtheit minus derer, die sich an den Wahlen nicht beteiligen, abbilden. Wenn also von zehn Bürgern seit geraumer Zeit nur sechs bis sieben wählen gehen – wie repräsentativ kann das in den Parlamenten abgebildete Spektrum dann tatsächlich sein? Die AfD hat diesen Makel identifiziert und widerspricht, wenn es sein muss, ungeniert ihrem eigenen Parteiprogramm. Sie inszeniert sich als letzte Bastion der »normalen« Leute, als Partei wider die soziale Kälte und gar als Friedenspartei, obwohl sie die ungehemmte Aufrüstung wie auch die NATO befürwortet. Das hätte skurrile Züge – wenn es nicht so ernst wäre.

    Die AfD spricht verächtlich von den »Altparteien«, vom »Establishment« und stilisiert sich gekonnt als Opfer. Dafür bekommt sie allenthalben dankbare Steilvorlagen geliefert, besonders aus dem parlamentarischen Raum. Erfolg hat die AfD vor allem, weil ihre Erzählung auf einen seit Jahrzehnten gereiften Nährboden fällt, vor dem die politischen »Eliten« – ob aus Bequemlichkeit oder Hilflosigkeit – die Augen verschließen.

    Nur noch 40 Prozent der deutschen Bevölkerung haben das Gefühl, ihre politische Meinung frei artikulieren zu können. 44 Prozent fühlen sich dagegen gezwungen, mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig zu sein. Dies ist der tiefste seit den 1950er Jahren in Deutschland gemessene Wert, wie das Institut für Demoskopie Allensbach und das Meinungsforschungsinstitut »Media Tenor« Ende Dezember herausgefunden haben. Interessanterweise tun sich je nach Parteizugehörigkeit erhebliche Unterschiede auf. Während unter den Grünen-Wählern 75 Prozent angeben, frei ihre Meinung artikulieren zu können, und nur 19 Prozent lieber Vorsicht walten lassen, fürchtet sich unter den Wählern der AfD (62 Prozent) und der FDP (57 Prozent) eine klare Mehrheit davor, ihre wahren Gedanken kundzutun. Auch Anhänger aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien meinten mehrheitlich, ihre Meinung nicht frei aussprechen zu können.

    Neben der Parteipräferenz wurde auch die Schulbildung abgefragt. So trauten sich unter den Befragten mit Volks- oder Hauptschulabschluss nur 28 Prozent, ihre Meinung zu artikulieren. Bei denjenigen mit Mittlerer Reife waren es hingegen schon 35, bei denen mit Abitur oder Studium 51 Prozent. Zudem gab es deutliche Differenzen zwischen unterschiedlichen Altersgruppen. Kaum parteipolitische oder von der Altersgruppe abhängige Unterschiede tun sich hingegen bei Fragen etwa zum Gendern auf. Im Jahr 2021 sprachen sich 71 Prozent gegen eine gendergerechte Sprache aus, auch unter 30jährige hielten zu 65 Prozent einen solchen Sprachgebrauch für übertrieben. Ähnliche Beispiele, den »korrekten« Sprachgebrauch betreffend, ließen sich anführen.

    Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit derjenigen, die sich nicht traut, ihre Meinung zu sagen, sehr wohl um das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit weiß. Allein, mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat das Gefühl, nicht mehr sagen zu dürfen, was sie denkt – und auch, von der Politik nicht mehr vertreten zu werden. So sagten laut »Freiheitsindex« im November 2023 56 Prozent der Befragten, ihnen fehlten »Politiker, die Dinge beim Namen nennen«. Das ist genau die Lücke, in die Rechte in Deutschland zunehmend vorstoßen.

    Die AfD ist lernbereit. Sie hat erkannt, dass sie mit einer öffentlich zu schroffen Fremdenfeindlichkeit über ihr Stammpotential hinaus in Deutschland keinen Zuwachs mehr generieren kann. Und sie hat mit den »Verdrossenen«, wahlweise auch »Abgehängten«, eine zweite Wählergruppe identifiziert.

    Diese Wähler haben keinesfalls alle eine rechte Gesinnung. Sie dennoch allesamt so zu behandeln, birgt die reale Gefahr in sich, sie für immer zu verlieren. Vielmehr haben diejenigen Wähler der AfD, die sie aus Protest und nicht aus rechtsextremer Gesinnung wählen – wobei es letzteres natürlich auch gibt und dies keinesfalls verharmlost werden soll –, das Empfinden, dass die regierenden Politiker ihre Probleme nicht kennen, ihnen nicht zuhören, sich nicht um sie kümmern und eine ideologiegetriebene Agenda verfolgen. Drei Viertel der 18- bis 65jährigen haben einer Studie der »Identity Foundation« zufolge sogar das Gefühl, »dass unsere Politiker keine Ahnung haben von dem, was sie tun«. Zugleich haben sie den Eindruck, eben diese Politiker wollten ihnen – aus ihrer urbanen Blase heraus, die mit der Lebensrealität vieler kaum etwas zu tun hat – vorschreiben, wie sie zu leben haben, wie sie reden, was sie essen und einkaufen sollen.

    In der Coronazeit wurde das Fass aus Sicht ohnehin schon Unzufriedener zum Überlaufen gebracht: Sie fühlten sich eingesperrt, ihrer sozialen Kontakte beraubt. Und das, ohne schlüssige Erklärungen zu hören, warum diese oder jene Maßnahme wirksam sein sollte. Ein besonders gutes Beispiel sind die monatelangen Schulschließungen, die Familien erheblich belastet haben. Nicht wenige haben gar ihre Jobs verloren, weil sie ihre Kinder zu Hause betreuen – und beschulen – mussten. Geld für flächendeckende Lüftungstechnik in Schulen wollten die Regierenden hingegen nicht zur Verfügung stellen.

    Ein Angebot schaffen

    Politik muss erklären, darf aber nicht als bevormundend wahrgenommen werden. Das Gegenteil allerdings tut die Ampelregierung, die dazu noch in ihrer personellen Besetzung, in der Überschaubarkeit ihres gemeinsamen Nenners und auch ihrer Gefährdung der Interessen der eigenen Bevölkerung – Stichwort Russland-Sanktionen mit ihren negativen Auswirkungen hierzulande oder die drastischen Kürzungen im sozialen Bereich zugunsten einer Aufrüstungsorgie – eine regelrecht demokratiegefährdend schlechte Regierung ist. Auch die Partei Die Linke hat als Opposition, als linke Alternative, versagt. Nicht nur während der Coronapandemie, in der sie die Regierungspolitik mitgetragen, ja vielerorts sogar noch darüber hinausgeschossen ist, insbesondere was die Diffamierung derjenigen angeht, die andere Sichtweisen einbrachten. Auch in nahezu allen anderen Politikfeldern, inklusive des sozialen Bereichs, baut sie kaum mehr als verbale Luftschlösser auf, die nicht nur in vielen Fällen unrealistisch sind, sondern sich auch dem mehr und mehr als bevormundend wahrgenommenen, »woken« Elitenmainstream immer weiter anpassen. Zudem hat die Partei Die Linke in der Friedenspolitik erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

    Hinzu kommt: Die inhaltliche Nähe vieler Hauptstadtjournalisten zum Kurs der Ampel nimmt der vierten Gewalt die Fähigkeit, skeptisch oder zumindest differenziert aufzutreten. Auch das förderte der »Freiheitsindex 2023« zu Tage: Demzufolge fühlt sich seit gut 30 Jahren die Mehrheit der Berufsanfänger bei den öffentlich-rechtlichen Sendern den Grünen verbunden, nicht aber etwa den Liberalen oder den Unionsparteien.

    Es fehlt – bislang – ein Gegenmodell zur herrschenden Politik, die die Wirtschaft ruiniert und die Preise für die Verbraucher steigen lässt. Diese Politik belastet insbesondere diejenigen Menschen, die ohnehin nicht auf der Sonnenseite stehen. In diesem Jahr steigt – zusätzlich zur hausgemachten Inflation, zu gestiegenen Gas- und Strom- sowie Lebensmittelpreisen – noch der CO2-Preis, und die Mehrwertsteuer auf Gas, Fernwärme und Gastronomie wird erhöht. Das deutsche Bildungssystem liegt am Boden, um die Infrastruktur ist es mindestens genauso schlimm bestellt, eigentlich öffentliche Investitionen werden privatisiert, weil die Schuldenbremse für heilig erklärt wird – außer es geht um Aufrüstung und Waffenlieferungen an die Ukraine.

    Mit Verboten, mit undemokratischen Mitteln, wird man die Rechten nicht kleinkriegen, im Gegenteil. Es braucht ein politisches Angebot, das die Lücke im Parteiensystem schließt und auf Vernunft und soziale Gerechtigkeit setzt, aber auch diejenigen ernst nimmt, die aus Protest ihr Kreuz bei der AfD setzen. Dass eine Mehrheit glaubt, ihre Meinung nicht mehr sagen zu können, ist Gift für eine Demokratie. Eine solche Stimmung muss endlich ernstgenommen und diejenigen, die sich abgehängt fühlen, müssen gehört werden, statt sie pauschal als Rechte zu diffamieren.

  • 09.01.2024 19:30 Uhr

    »Die Entwicklung des Kapitalismus begünstigt die AfD«

    Die mögliche Machtübernahme von rechts und antifaschistische Gegenstrategien. Ein Gespräch mit Gerd Wiegel
    Karim Natour
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    Potentiell starker Bündnispartner: Die Gewerkschaften unterm Dach des DGB

    Zehn Jahre nach ihrer Gründung steht die AfD bundesweit stärker da als je zuvor. In Sachsen ist sie laut einer Umfrage von Anfang Januar mit 37 Prozent stärkste Kraft. Warum ist die Partei so erfolgreich?

    Das hat mehrere Gründe. Erstens, weil wir es in den letzten Jahren mit einem gravierenden Politikversagen zu tun haben. Die aktuelle Bundesregierung macht eine Politik, die immer größere Teile der Bevölkerung verärgert. Die Sparpolitik trägt dazu bei, jene Narrative zu bedienen, die die AfD in den letzten Jahren groß gemacht haben: »Staatsversagen« und das »Versagen der politischen Eliten«, wie sie von der Partei genannt werden. Wir sind in einer Situation, in der mit den Themen Flucht und Migration das zentrale Gewinnerthema der AfD wieder ins Zentrum der politischen Debatte gerückt ist und von allen anderen Parteien bedient wird. Damit surft die AfD momentan auf einer Erfolgswelle. Hinzu kommt, dass die Partei mit der Entwicklung seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Thema besetzen konnte, das sie vor allen Dingen in Ostdeutschland noch stärker macht. Die Selbstinszenierung als angebliche Friedenskraft zeigt, dass diese Frage von den anderen Parteien, inklusive der Linken, nicht ausreichend bearbeitet worden ist.

    Die Union hat im Hinblick auf die Migration nahezu alle Forderungen der AfD übernommen, die »Brandmauer« bröckelt auch bei anderen Themen. Haben wir nach der nächsten Bundestagswahl eine schwarz-blaue Koalition?

    Nein, formal wird es zu einer solchen Koalition 2025 auf keinen Fall kommen, weil das die Union zu viele Stimmen in der Mitte kosten würde. CDU und CSU blinken zwar eindeutig nach rechts, haben aber ein großes Wählerreservoir, das eher der Mitte zuzuordnen ist. Dieser Teil der alten »Merkel-CDU« ist nicht verschwunden. Wenn die Rechtswende der Union durch eine schwarz-blaue Koalition formal dokumentiert würde, könnten diese Wähler an SPD, Grüne oder FDP verlorengehen. Das bedeutet aber nicht, dass die sogenannte Brandmauer nicht noch weiter bröckeln wird.

    Ist die AfD eine bürgerliche Partei?

    Sie kommt aus dem bürgerlich-konservativen Lager, wird aber im Moment von dem Teil dominiert, der eindeutig der völkischen, extremen Rechten zuzuordnen ist.

    Auch die Ampelparteien sprechen inzwischen von »irregulärer Migration«. Wie kann die Übernahme der AfD-Agenda durch das regierende Establishment gestoppt werden?

    Das Establishment selbst könnte es stoppen, indem es Themen links der Mitte setzt, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Und die liegen auf der Hand: die soziale Frage, die Frage, wie der Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland gesichert werden kann, wie gute Arbeit und ein auskömmlicher Lohn garantiert werden könnten. All das könnte auch von der aktuellen Regierung thematisiert werden. Ein Problem dabei ist, dass SPD, Grüne und FDP dabei Positionen haben, die quer zu solchen Themen stehen. Man nimmt sich also lieber die Migration vor, auf die viele Ängste projiziert werden, die mit den aktuellen Veränderungen des globalen Kapitalismus zusammenhängen, die wiederum Ursache für den Aufstieg von Parteien wie der AfD sind.

    Verschiedene Kapitalverbände distanzierten sich zuletzt von der AfD. Wen vertritt die Partei?

    Die AfD vertritt unterschiedliche Interessen, das macht einen Teil ihrer Stärke aus. Sie repräsentiert einerseits mittelständische Kapitalfraktionen, die weniger stark auf das Thema Globalisierung setzen als transnational ausgerichtete und glauben, dass sie sich durch eine Abschottung von der internationalisierten Entwicklung des Kapitalismus eher bereichern könnten. Daneben profitierte die AfD in den letzten Jahren verstärkt von den Ängsten vieler abhängig beschäftigter Menschen. Die angesprochenen Veränderungen im Kapitalismus, wie wir sie seit 25 Jahren erleben, wirken sich ganz konkret auf das Leben dieser Menschen aus. Die AfD greift das auf und verbindet es mit Migration und Zuwanderung. Damit erreicht sie einen Teil von Personen, die traditionell eher von links zu erreichen waren, die aber heute der Linken nicht zutrauen, dass sie eigene Konzepte entwickelt, mit denen ihnen diese Sorgen genommen werden können.

    Am Montag hat Sahra Wagenknecht ihre neue Partei gegründet, mit der sie der sogenannten Repräsentationskrise der bürgerlichen Parteien, von der die AfD aktuell profitiert, von links begegnen will. Kann diese Strategie aufgehen?

    Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher. Kurzfristig kann es zwar einen Effekt haben, der auch zu Stimmverlusten für rechte Parteien führen kann, langfristig aber nicht. In vielen Ländern gab es ähnliche Versuche, Parteien dieses Typs mit alternativen Angeboten von rechts oder auch angeblich von links zu begegnen, indem solche Themen bedient werden, die diese Parteien stark gemacht haben. Das sehe ich auch bei Wagenknecht, die zwar versucht, sich sozialpolitisch links aufzustellen, gesellschaftspolitisch allerdings eher ein konservatives Projekt im Auge hat. Von durchgreifenden Änderungen in der Wirtschaftspolitik oder gar der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse sehe ich dort nichts. Die Wurzeln der Probleme können solche Versuche nicht beheben.

    Wie könnten dann diese grundlegenden Veränderungen durchgesetzt werden?

    Das ist die Millionenfrage, die bisher noch nirgends wirklich beantwortet werden konnte. Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das kein spezifisch deutsches ist, sondern auch in europäischen Nachbarländern, den USA und auch sonst zu beobachten ist. Es bräuchte eine Politik, die, wenn schon nicht die Überwindung des Kapitalismus anstrebt, zumindest seine Einhegung forciert. Das wäre ein Modell, das den finanzialisierten Kapitalismus zurückdrängt, die realen Sorgen und Nöte der Menschen ernst nimmt und wieder stärker auf eine staatliche Verantwortung für die Daseinsvorsorge setzt.

    Also eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der 1960er und -70er?

    Eine einfache Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat ist wohl eine Illusion, dafür hat sich zu viel verändert. Der globalisierte Kapitalismus bietet viele Ausweichmöglichkeiten, den sozialstaatlichen Verpflichtungen zu entgehen. Insofern braucht es eher eine Weiterentwicklung. Allerdings stoßen die Ansätze, die innerhalb der gesellschaftlichen Linken aktuell diskutiert werden, bei den Leuten, die man erreichen will, nicht auf genügend Resonanz.

    Ist auch die Linkspartei an der Repräsentationskrise der Parteien schuld?

    Die Linkspartei hat definitiv ihren Anteil an dieser Krise. Sie war nicht imstande, die soziale Frage in einer Art und Weise zu thematisieren, die den »neuen Anforderungen« gerecht wird. Dazu kommt, dass sie auch sonst einige Lücken gelassen hat, die von rechts genutzt werden – zum Beispiel in der Friedensfrage. Wenn die Rechte stark ist, hat das immer auch etwas mit dem Versagen der Linken zu tun. Aber das ist eben nur ein Teil des Problems.

    Wie kann der Vormarsch ultrarechter Kräfte gestoppt werden? Sollte man weiter AfD-Parteitage blockieren, oder die Partei verbieten?

    Das Verbot ist in der Tat eine Möglichkeit aus dem Grundgesetz. Allerdings drückt diese Strategie eher die momentan herrschende Ratlosigkeit aus. Parteiverbote sind sicherlich eine Schlussfolgerung aus der historischen Erfahrung des Faschismus, bleiben aber die Ultima Ratio. Was die Möglichkeit betrifft, ein Verbot der AfD auch real umzusetzen, bin ich pessimistisch. Es brächte zudem kurzfristig keine Lösung, weil das betreffende Verfahren drei bis vier Jahre dauern würde. Außerdem wären damit die anderen politischen Parteien nicht der Aufgabe enthoben, die grundsätzlichen Probleme anzugehen, die den Aufstieg der AfD erst ermöglicht haben. Es würde höchstens den aktuellen Druck dieses Problems beseitigen.

    In dieser Woche protestieren landesweit die Bauern gegen die geplante Abschaffung der Agrardieselsubventionen. Ist da aktuell ein rechter Mob auf den Straßen?

    Nein, das lässt sich meines Erachtens nicht generell als rechter Mob bezeichnen. Natürlich gibt es immer wieder Versuche, Proteste von rechts zu besetzen, in Teilen gelingt das auch. Aktuell sind aber vor allem Leute für ihre eigenen Interessen auf der Straße – unabhängig davon, wie berechtigt deren Unbehagen sein mag.

    Welche Bündnisse müssen Antifaschisten gegenwärtig eingehen, und mit welchen Herausforderungen sehen sie sich konfrontiert?

    Wenn man die aktuelle Situation tatsächlich als bedrohlich für die Verfasstheit der liberal-bürgerlichen Demokratie begreift – und das kann man mit Blick auf Entwicklungen in den USA oder Brasilien durchaus so sehen – dann ist es wichtig, Bündnisse gegen die extreme Rechte auch mit Kräften einzugehen, mit denen man politisch sonst nicht so viel am Hut hat. Problematisch daran ist, dass man in diesem Fall Bündnisse mit Akteuren eingeht, die für die Situation, in der eine Partei wie die AfD gedeihen konnte, gerade verantwortlich sind. Diejenigen, die diese Entwicklung vorangetrieben haben, sind gleichzeitig diejenigen, mit denen man als Linke die Demokratie gegen die extreme Rechte verteidigen will …

    Kann es funktionieren, sich mit diesen Kräften gemeinzumachen?

    Für die konkrete Abwehr einer rechten Machtübernahme sicherlich. Das zugrundeliegende Problem kann man langfristig aber nicht auf diese Weise lösen.

  • 08.01.2024 19:30 Uhr

    Wachhunde des Systems

    Nur der gemeinsame Kampf der Werktätigen kann die Rechten stoppen
    Alev Bahadir
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    Die ideologische Auseinandersetzung mit rechten Kräften in der Friedensbewegung darf nicht gescheut werden. Antikriegskundgebung vor dem Brandenburger Tor (25.11.2023)

    Wie ein Bandwurm hat sich die Rechte in der Gesellschaft durchgefressen und festgesetzt. Dass die Lage mehr als bedrohlich ist, können wir bereits seit Jahren auf internationaler Ebene beobachten: in Italien, Polen, Ungarn oder jüngst in den Niederlanden und in Argentinien. Beispiele dafür, dass die Rechten Auftrieb gewinnen, gibt es genug. Dieser Auftrieb kommt nicht von irgendwo her. Es sind die Auswirkungen der imperialistischen Kämpfe um Märkte und Hegemonie sowie die jahrelange neoliberale Politik, die die rechten Kräfte weltweit erstarken lassen.

    Auch in Deutschland haben progressive Kräfte und Linke den Rechten zu lange das Feld überlassen. Die Maßnahmen der Bundesregierung während der Coronapandemie, die immer weiter steigende Inflation und der Krieg in der Ukraine: All diese Themen konnte die Rechte an sich reißen und dadurch Menschen gewinnen. Wir alle haben die Unzufriedenheit, die in großen Teilen der Bevölkerung zu wachsen begann, gesehen und haben nicht ausreichend und nicht rechtzeitig reagiert. Statt dessen konnten AfD, Verschwörungserzähler und andere rechte Gruppen die angeblichen Ursachen für all diese Probleme benennen. Nicht mehr der kapitalistische Staat, der nur überleben kann, indem er für Profitmaximierung der eigenen Industrie Kriege schürt und auf Kosten der Werktätigen Politik im Interesse der Konzerne übt, soll der Verursacher der tatsächlich vorhandenen Probleme sein. Die Schuldigen sind, wird da behauptet, die ohnehin schwächsten Teile dieser Gesellschaft: Geflüchtete, Migranten und Empfänger von Bürgergeld. Es kommt nun darauf an, das Narrativ der AfD und anderer rechter Gruppen und Parteien zu entlarven, nur sie würden sich um die wirklichen Probleme der Menschen kümmern. Sie sind die Wachhunde dieses Systems, die von der Leine gelassen werden, wenn sie gebraucht werden.

    Hetze gegen Flüchtlinge

    So einer Politik kann nur etwas entgegengesetzt werden, wenn konsequent mit solchen Behauptungen und Feindbildern gebrochen wird. Nicht Migration oder Flucht verstärken die Probleme. Die Diskussionen um überlastete Kassen wegen der Unterbringung von Geflüchteten könnten nicht scheinheiliger sein in einer Zeit, in der Konzerne subventioniert werden und der Militäretat kontinuierlich steigt. Es ist pervers, dass ausgerechnet von den herrschenden politischen Kräften (und den Rechten, die sie vor sich her treiben) gegen Geflüchtete gehetzt wird, während der Grund, warum die Menschen hierher kommen, deren Politik der Kriege, der Umweltzerstörung und Ausbeutung ist. Statt dessen sollen Migrantinnen und Migranten, wie bereits schon öfter in unserer Geschichte, als billige Arbeitskräfte und als Mahnung für die Arbeiterklasse in Deutschland herhalten: Spurt ihr nicht, ersetzen wir euch.

    Die herrschende Politik schafft durch Sozialabbau, Einschränkungen unserer hart erkämpften Rechte und durch Kriegspolitik erst den Nährboden, auf dem die Rechten erstarken. Das könnte aber durchaus auch der Nährboden für linke, fortschrittliche Kräfte sein. Gerade weil die Menschen Zukunftsängste haben und auf der Suche nach Alternativen sind, ist es am einfachsten, auf die echten Ursachen der Probleme hinzuweisen. Und genau das ist die Herausforderung.

    Es ist auch ein ideologischer Kampf, der hier geführt werden muss. Natürlich bedeutet, sich gegen rechts zu positionieren, sich den Nazis auf der Straße entgegenzustellen, ihnen Einhalt zu gebieten und sie zu bekämpfen. Deshalb sind breite Bündnisse gegen rechts in diesen Zeiten nicht wegzudenken. Besonders, da sich die Zahl der rechten Übergriffe im Zeitraum von Juli bis September 2023 im Vergleich zu den Vorjahresmonaten fast verdoppelt hat. Und dazu zählen, entgegen dem aktuell vermittelten Bild in der Öffentlichkeit, auch antisemitisch motivierte Straftaten, die bis zum heutigen Tag zu 83 Prozent von Rechten begangen werden. Antifaschistische Arbeit ist und bleibt also eine Kernaufgabe linker Kräfte. Dass dabei das Gedenken der Opfer und die Aufklärung von rechten Gewalttaten eine wichtige Rolle spielen kann, haben wir sowohl im NSU-Komplex als auch im Fall von Hanau gesehen.

    Nichtsdestotrotz können wir es uns nicht leisten, den antifaschistischen Kampf losgelöst von den sozialen Kämpfen zu betrachten. Rechte Kreise und Nazis gewinnen an Kraft und Selbstvertrauen, wenn die gesellschaftliche Stimmung dies zulässt. Weiteren Schub verleiht der Aufstieg der AfD. Die wiederum nährt sich an den sozialen Problemen der Menschen, ohne sie lösen zu wollen. Um so wichtiger ist es, die Themen dieser Zeit auf die Straßen zu tragen. Die Arbeitskämpfe des vergangenen Jahres haben gezeigt, dass die Werktätigen zu kämpfen bereit sind. Teilweise monatelang waren sie unnachgiebig auf den Straßen, um ihr Recht einzufordern: Löhne, die nicht unmittelbar von den Preissteigerungen aufgezehrt werden, und Arbeitszeiten, die ein Leben außerhalb des Betriebs möglich machen.

    Auch wenn die Spitzen der Gewerkschaften diese Kampfbereitschaft zu schnell abgewürgt haben, zeigt das nur, dass nicht Austritte und Flüche gegen die Gewerkschaft das richtige Mittel sind, sondern die aktive Arbeit in ihr, um etwas zu verändern. In Orten, wo zum Beispiel fortschrittliche Kräfte in der Gewerkschaft eine aktive Rolle spielen, konnten wir sehen, dass Themen wie »Frieden statt Sondervermögen« durchaus auf die Tagesordnung kommen können. Und so dürfen wir auch das Friedensthema nicht länger den Rechten überlassen. Bündnisse, die sich nach rechts abgrenzen, aber nicht automatisch jeden, der bei solchen Demonstrationen dabei war, als »Faschisten« oder »Faschistin« abstempeln, sind um so notwendiger. 20.000 waren am 25. November in Berlin für den Frieden auf der Straße. Ein guter Anfang, aber wir haben die Pflicht, an dieser Stelle weiterzumachen. Das impliziert auch, dass wir den Spaltungsversuchen in der Friedensbewegung entgegentreten müssen, aber zugleich die ideologische Auseinandersetzung nicht scheuen dürfen.

    AfD-Zielgruppe: Migranten

    Die Rechte zu bekämpfen, bedeutet auch, das mit und in Zusammenhängen zu tun, zu denen der Zugang schwieriger ist. Die Migrantinnen und Migranten in Deutschland sind keine homogene Gruppe. Neben den unterschiedlichen Herkunftsländern und Religionen, spielt politische Zugehörigkeit ebenfalls eine große Rolle. Ohne es überbewerten zu wollen, müssen wir ein Auge darauf haben, wie die AfD versucht, mittlerweile gezielt unter Menschen mit Migrationshintergrund zu werben. So auch bei türkeistämmigen Menschen. Maximilian Krah, Spitzenkandidat für die AfD bei der Europawahl 2024, erklärt auf Tik Tok Türkeistämmigen (bei ihm »Türken« genannt), warum sie die AfD wählen sollten. Mit der Berufung auf ein heteronormatives Familienbild, der Vorstellung von »Ehre Vater und Mutter«, der Ansage, die AfD würde Partnerschaften und »Waffenbrüderschaften« mit Ländern, mit denen man bereits seit langem zusammenarbeite, weiter pflegen, versucht Krah gezielt Türkeistämmige für die AfD zu mobilisieren. Aber auch Versprechen von der Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie oder Steuervergünstigungen für Kleinladenbesitzer sind zu finden. Und schließlich noch ein Thema, das sein Ziel sicherlich nicht verfehlt: die Blockade weiterer Zuwanderung. Schließlich würden die »neuen« Migrantinnen und Migranten den »alten« die Arbeitsplätze wegnehmen. Eine Masche, die durchaus funktioniert. Denn genauso, wie Arbeitern ohne Migrationshintergrund Angst mit Zuwanderung gemacht wird, funktioniert das auch bei jenen, die bereits seit Jahrzehnten hier sind.

    Die Föderation Demokratischer Arbeitervereine, DIDF, hat sich gegründet, um (allen voran) türkeistämmige Werktätige in die sozialen und politischen Kämpfe in Deutschland einzubinden. Aber auch, um sie nicht dem alleinigen Einfluss der türkischen Rechten zu überlassen, die ein starkes Standbein in Deutschland hat. Doch mittlerweile müssen wir, auch wenn der Anteil derjenigen, die die AfD tatsächlich wählen, sicherlich noch gering ist, auch dem Einfluss der deutschen Reaktion etwas entgegensetzen. Dass auch die türkeistämmige Linke aktuell nicht besonders gut aufgestellt ist, ist ebenfalls kein Geheimnis. Den Kopf in den Sand zu stecken oder unsere Arbeit nur auf die zu beschränken, die ohnehin schon links sind, ist da kein guter Ratgeber.

    Der Kampf gegen rechts muss vielschichtig sein und ohne zu zögern geführt werden. Die bürgerliche Demokratie, die schlussendlich die Diktatur des Kapitals ist, wird die in ihrer Natur innewohnenden Widersprüche, die sie verwundbar machen, nicht lösen können. Im Gegenteil, diese Widersprüche werden immer größer. Dass sich die Werktätigen nicht länger spalten lassen und den Kampf für eine bessere Gesellschaft gemeinsam führen, ist also die einzige Antwort auf die Frage, wer die Rechten stoppt. Es ist der Zeitpunkt, an dem wir die soziale Frage und somit auch die Systemfrage in den Vordergrund rücken müssen, sonst, und das wissen wir aus der Geschichte, drohen uns noch stärkere Verfolgung und Repressalien. Deshalb dürfen wir nicht zögern.

  • 08.01.2024 19:30 Uhr

    Krise als Basis des Rechtsrucks

    Langfristig kann nur der Bruch mit dem Kapitalismus die faschistische Gefahr bannen. Aufbau antifaschistischer Kampforganisationen ist notwendig
    Luca Stüven
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    Antifaschistischer Protest gegen eine Kundgebung von AfD und rechtem Compact-Magazin in München (18.2.2023)

    Traditionell bildet die Podiumsdiskussion den Abschluss der Internationalen Rosa-­Luxemburg-Konferenz. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Wer stoppt die Rechten?«. Wie in den Jahren zuvor, haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt vorab vorzustellen. (jW)

    Der Rechtsruck steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Krise des Kapitalismus. Er ist damit keine rein ideologische Entwicklung hin zum Reaktionären, sondern hat seine materielle Basis in der Krise selbst. Wir gehen im folgenden also davon aus, dass antifaschistische Aufklärung ohne den Versuch, die Krise und das System, das sie hervorbringt, zu bekämpfen, letztlich zum Scheitern verurteilt ist.

    Dabei kommt dem Rechtsruck ein Doppelcharakter zu. Er ist einerseits eine reaktionäre Bewältigung der Krisenverwerfungen. Getragen wird er von Teilen des Kleinbürgertums, deren ökonomische Situation sich tendenziell verdüstert und die nicht von den zentralen Projekten des deutschen Großkapitals profitieren (Wirtschaftskrieg gegen Russland, US-, EU- und NATO-Orientierung, Klimapolitik als Wettbewerbsvorteil). Das vermischt sich mit einem Sammelsurium reaktionärer Ideologien, die Sündenböcke suchen und identitätsstiftend wirken. Rassismus, Nationalismus und antisemitische Weltverschwörungstheorien sind nichts Neues in Deutschland. Angesichts der kapitalistischen Krise, die auch eine Legitimationskrise bürgerlicher Politik ist, werden sie für Teile der Bevölkerung nun aber zu sicheren Orientierungspunkten, schlagen sich in diffus-rechten Massenmobilisierungen nieder und wachsen tendenziell zu geschlossenen Weltanschauungen zusammen. Die zahlreichen Ansätze auf diesem Feld eint dabei, dass sie die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse nicht antasten. Besonders die AfD beweist mit ihrem extrem neoliberalen Programm, auf welche Klasseninteressen dieser Kurs zugeschnitten ist.

    Rassismus und Repression

    Der Rechtsruck ist andererseits die Krisenpolitik der Herrschenden selbst. Sicherlich ist die Übernahme von rechten Positionen ein Mittel der Regierenden, um Wählerinnen und Wähler nicht an die Konkurrenz von rechts zu verlieren. Es gibt aber auch ein Eigeninteresse an Verschiebungen nach rechts: Migration als »größtes aller Probleme« zu inszenieren, ist ein günstiger Weg, um sie nicht mehr nach humanitären Kriterien bewerten zu müssen, sondern sie anhand der Verwertbarkeit von Migrantinnen und Migranten für den Arbeitsmarkt zu gestalten. Und es bleibt ein wirksames Mittel, um Konkurrenz und Spaltung in der Arbeiterklasse zu befeuern und von den eigentlichen Profiteuren der Krise abzulenken.

    Ein Ausdruck dieses Rechtsrucks der Herrschenden ist auch das härtere Vorgehen gegen linke Bewegungen. Unabhängig von deren realer Stärke sollte die Repression auch als Vorbereitung verstanden werden, kommende Kämpfe möglichst klein zu halten. Vor diesem Hintergrund müssen auch Testballons der Aufstandsbekämpfung zum Beispiel gegen Fußballfans betrachtet werden.

    Falls das aktuelle Krisenmanagement von Ampelregierung und CDU in größerem Umfang scheitern sollte, könnten die beiden Stränge des Rechtsrucks zusammenfinden und aus der jetzigen rechten Opposition, zum Beispiel in Form einer CDU/AfD-Koalition, eine autoritär-faschistoide Regierung erwachsen.

    Für die Gegenbewegung ergibt sich daraus, dass Antifaschismus Teil des Kampfes gegen bürgerliche Krisenverwaltung sein muss. Das sollte nicht verwechselt werden mit dem bürgerlichen Kulturkampf zwischen einer (links-)liberalen und einer rechtskonservativen Richtung. Das liberale Regierungslager als »kleineres Übel« anzusehen, ignoriert nicht nur die autoritäre Formierung, die von ihm gerade vorangetrieben wird, sondern auch dessen Rolle im Klassenkampf von oben, der überhaupt erst den sozialen Nährboden für die Rechten schafft. In den politisch-kulturellen Auseinandersetzungen zum Beispiel um Diversität und Klimaschutz ist es natürlich wichtig, den Rechten zu widersprechen. Weil sie jeder Befreiungsperspektive entgegenstehen und besonders weil sie verbreitete reaktionäre Ressentiments mit realen sozialen Problemen vermischen und sich damit zum Widerstand gegen die »links-grüne Elite« inszenieren. Die »progressive Linie« des Regierungslagers und die Verengung linker Politik auf Diversität und »Wokeness« sind allerdings der andere Teil des Problems. Denn diese Ansätze knüpfen eben nicht an der sozialen Realität großer Teile der Arbeiterklasse an, sondern an den Idealen privilegierter kleinbürgerlicher Milieus. Darüber hinaus werden dergestalt aktuell Aufrüstung und Krieg legitimiert – an der Seite der »progressiven NATO gegen das reaktionäre Russland«, an der Seite Israels »gegen den Antisemitismus der Palästinenser«.

    Es gibt allerdings eine dritte Position: Die Kämpfe für Rechte und Selbstbestimmung von Frauen, Queers und Migrantinnen und Migranten sowie gegen Umweltzerstörung als politische Teile des Klassenkampfes zu verstehen, als Potentiale des Widerstands gegen die soziale Misere und die Kriegspolitik.

    Es scheint naheliegend, den Rechten mit Versprechen von sicheren und guten Arbeitsplätzen, industriellem Wiederaufschwung, Friedenssicherung etc. das Wasser abzugraben. Für die Umsetzung wäre allerdings eine neue Art von Sozialpartnerschaft mit erheblichen Zugeständnissen an die Arbeiterklasse und die Abnahme imperialistischer Konkurrenz notwendig. Die Vertiefung der kapitalistischen Krise weist aber in die entgegengesetzte Richtung. Der Druck zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitals und zur Fähigkeit, eigene Interessen auch militärisch durchzusetzen, verengen die Verteilungsspielräume. Deshalb fließt staatliches Geld in den Rüstungssektor, während die Daseinsfürsorge verkümmert. Deshalb sinken die Reallöhne kontinuierlich. Deshalb die harten Bandagen der Gegenseite in Arbeitskämpfen.

    Zurückweichen heißt Verlieren

    Ein häufiger Auswuchs reformistischer Ansätze besteht darin, die offene Konfrontation mit den Rechten zu vermeiden – in der Hoffnung, Sympathisanten für linke Alternativen gewinnen zu können. Das unterschätzt allerdings die Gegenseite. Aller Erfahrung nach versuchen rechte Strukturen, jeden Raum, in dem sie ohne aktive Gegenwehr agieren können, zum eigenen Aufbau zu nutzen: auf der Straße, im Diskurs, in der Kultur usw. – und das zumindest in den vergangenen Jahren weitaus erfolgreicher als die Linke. Wer auf Konfrontation mit den Rechten verzichtet, steht ihnen nicht nur machtlos gegenüber, sondern wird auch nur ein lediglich abstraktes antifaschistisches Bewusstsein hervorbringen können, dessen Festigkeit und Wert solange nicht bewiesen ist, wie es den Kampf ausspart.

    Die Geschichte hat bewiesen, dass der Kampf gegen den Faschismus proletarisches Klasseninteresse ist: die Abwehr bürgerlicher Krisenbewältigung durch Terrorherrschaft, die die Ausbeutung und Unterdrückung auf eine neue Ebene hebt und den Klassenkampf von unten im Keim ersticken soll. Daraus folgt:

    1. Antifaschistische Bündnisse zwischen revolutionären, reformistischen und bürgerlich-humanistischen Kräften sind berechtigt und notwendig. Unser langfristiger Ausgangspunkt der Zusammenarbeit muss aber das proletarische Klasseninteresse sein. Sonst besteht die Gefahr in der vermeintlichen Suche nach Gemeinsamkeiten, bürgerliche Klassenpositionen zu übernehmen.

    2. Antifaschismus muss auf der Straße stattfinden und muss die unmittelbare Konfrontation mit dem Gegner beinhalten. Terror und Gewalt sind immer Bestandteile des Faschismus, sowohl als Bewegung als auch an der Macht. Antifaschismus kann daher nie nur Aufklärung sein, sondern muss sich in die Lage versetzen, die faschistische Gewalt zu brechen. Dabei ist ein Sieg auf der Straße nicht immer auch ein politischer Sieg. Wenn Antifaschistinnen und Antifaschisten aber auf der Straße zurückweichen müssen, ist das immer auch eine Niederlage für unsere Seite.

    3. Es braucht eigenständige antifaschistische Kampforganisationen: Antifaschismus ist der gezielte Kampf gegen einen politischen Gegner – der aktuell mit immenser Wirkmächtigkeit agiert. Es gibt keine »gute, klassenkämpferische Politik«, die die Rechten quasi im Vorbeigehen besiegen würde. Dazu braucht es gezielte Arbeit und eine Organisation, die den verschiedenen Besonderheiten dieses Kampffeldes gerecht werden kann. Ein Ansatz, der in diese Richtung weist, ist die Antifaschistische Aktion Süd, die vor zwei Jahren gegründet wurde und acht Ortsgruppen in Süddeutschland hat.

    Langfristig kann nur der Bruch mit dem Kapitalismus und der Aufbau des Sozialismus die faschistische Gefahr bannen. Nun befindet sich die Linke, die diese Perspektive verfolgen könnte, in einer historischen Defensive, während die eng miteinander verzahnten kapitalistischen Krisensymptome sich in hoher Geschwindigkeit entwickeln. Bisher, ohne größere Kämpfe »unten gegen oben« hervorzubringen. Wie mit diesem Widerspruch umgehen?

    Es liegt nicht auf der Hand, wo sich revolutionäres Klassenbewusstsein in kommender Zeit entwickeln könnte. Sinnvoll erscheint uns daher, sich in verschiedenen politischen und sozialen Fragen voranzutasten und dabei insbesondere die Fähigkeit zu entwickeln, Gegenmacht aufzubauen – also Strukturen und Praxen zu entwickeln, die einerseits die eigene Legitimität antikapitalistischer und revolutionärer Politik in den Vordergrund stellen, andererseits – zunächst im Kleinen – real die bürgerliche Macht schmälern und die unserer Seite stärken.

    Den antifaschistischen Kampf verstehen wir in diesem Sinne als einen von mehreren Teilkämpfen, der mit eigener Organisierung und besonders dem Aufbau von Straßenmacht im Widerspruch zum staatlichen Gewaltmonopol, ein Standbein proletarischer Gegenmacht bildet. Weil die Rechten inzwischen in allen Fragen des Klassenkampfes präsent sind, wird die Herausforderung der kommenden Zeit sein, antifaschistische Standpunkte und eine antifaschistische Praxis in verschiedene Kämpfe (Krieg, Klima, Sparpolitik usw.) einzubringen, ohne sie darauf zu verengen.

  • 08.01.2024 19:30 Uhr

    »Ich habe nichts gegen militante Aktionsformen«

    Über reaktionären Staatsumbau, die AfD als Scheinopposition und linke Strategien. Ein Gespräch mit Shabnam Shariatpanahi
    Marc Bebenroth
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    Was sich heute noch gegen die AfD richtet, kann sich morgen gegen die revolutionäre Linke wenden (Leipzig, 22.10.2023)

    Zum Rechtsruck in der BRD gehören nicht nur die guten Umfragewerte für die AfD, sondern auch, dass ihre Positionen teilweise von den Regierungsparteien übernommen werden. Wodurch ist dieses Handeln der Herrschenden aus Ihrer Sicht motiviert?

    Die Bindung zu den bürgerlichen Parteien nimmt ab. Auch die kleinsten sozialen Versprechungen der Ampelkoalition werden von der Bevölkerung nicht mehr ernst genommen. Da linke Kräfte wenig sichtbar sind, kann die AfD mit ihren rassistischen Forderungen gegen migrantische Teile der Arbeiterklasse Stimmen holen. Die bürgerlichen Parteien übernehmen teilweise deckungsgleich diese Forderungen oder sie setzen sie um und verkaufen es als kleineres Übel. Die eigentliche Motivation ist aus meiner Sicht ein reaktionärer Staatsumbau, um die imperialistischen Interessen eines Teils des deutschen Kapitals durchsetzen zu können. So möchte man wieder kriegsfähig werden, Proteste an der Heimatfront dürfen dann nicht zu groß werden und die Bevölkerung muss diesen Umbau bezahlen. Die AfD übernimmt hierbei die Rolle einer Scheinopposition, die den sozialen Protest spaltet.

    Nun wird wieder die Debatte über ein Verbot der AfD geführt. Welche Strategie ist für Sie die richtige?

    Wenn von Teilen der bürgerlichen Parteien ein AfD-Verbot gefordert wird, aber gleichzeitig AfD-Forderungen umgesetzt werden, müssen wir als Linke konsequenterweise die Übernahme dieser Positionen offenlegen. Alle Verschärfungen, die von den Ampelparteien kommen und mit der Gefahr von rechts begründet werden, würden wie bisher auch als Repression gegen Linke genutzt. Außerdem entzieht man der AfD die Zustimmung von Teilen der Bevölkerung nicht durch ein Verbot, sondern durch das Aufzeigen kämpferischer Alternativen im Alltag der Menschen.

    Sie engagieren sich in Duisburg im Bündnis »Heizung, Brot und Frieden«. Den Unmut angesichts weiter steigender Preise nutzen die Rechten für ihre Demagogie. Was bedeutet das für Antifaschisten?

    Antifaschistischer Protest muss immer antikapitalistisch sein. Bei jeder Kürzung gibt es Profiteure und Verantwortliche, und wir versuchen, sie zu benennen. Wir zeigen auf, was zum Beispiel mit den 100 Milliarden Euro des Aufrüstungspakets in Duisburg für die Menschen machbar wäre. Wir gehen damit in die Stadtteile, die besonders von Armut betroffen sind und zu Bevölkerungsgruppen, die von den antifaschistischen Protesten nicht erreicht werden. Wir versuchen ihnen klar zu machen, dass in Krieg und Krise die Reichen reicher werden und der Rest bezahlt und nur gemeinsame Gegenwehr diese Verhältnisse verändert.

    Von AfD bis Bündnis 90/Die Grünen will niemand diese Profiteure zur Kasse bitten. Zahlen soll entweder die arbeitende Bevölkerung oder es wird rassistisch ausgegrenzt mit dem Scheinversprechen, dass es so in der Arbeiterklasse weniger Konkurrenz um Arbeitsplatz und Wohnraum gibt. Hier müssen Linke nicht nur auf die Parlamente schauen, sondern wieder versuchen, sozialen Protest in Betrieben und Stadtteilen zu organisieren und dabei immer der rassistischen Spaltung entgegentreten.

    Die Proteste von Landwirten gegen den Versuch der Bundesregierung, durch das Streichen von Subventionen Löcher im Haushalt zu stopfen, zeigten erste Erfolge. Doch schnell wurden sie von der Regierung und ihren Anhängern als »rechter Mob« markiert. Wie sollte linker Protest auf dieses politische Umfeld reagieren?

    Als migrantisches Großstadtkind bin ich keine Expertin für deutsche Bauernproteste, aber Protest gegen Kürzungspolitik ist berechtigt. Als Kommunistin habe ich auch nichts gegen militante Aktionsformen. Die Proteste in die rechte Ecke zu stellen erinnert mich sehr an die mediale Diffamierung der Friedensbewegung als nach rechts offen. Wir als Linke sollten die Proteste unterstützen, die sich gegen Kürzungen richten, sollten aber auch benennen, dass die Diktate der Lebensmittelkonzerne und die Entwicklung hin zu immer größeren Agrarbetrieben durchbrochen werden müssen. Also muss man auch hier eine antikapitalistische und antimonopolistische Perspektive aufzeigen, die die Möglichkeit einer umweltverträglichen Agrarwende beinhaltet.

  • 08.01.2024 19:30 Uhr

    »Geschichte des Kapitalismus ist eine der ewigen Krisen«

    Über das Dasein als Musiker in düsteren Zeiten und kleine Hoffnungsschimmer. Ein Gespräch mit Calum Baird
    Norman Philippen
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    Calum Baird singt beim Solidaritätskonzert für den Erhalt der Zeitschrift Melodie & Rhythmus (Berlin, 22.6.2018)

    Ein verspätetes Happy New Year Ihnen. Wie lief 2023 für Sie als Künstler?

    Happy New Year! Als Musiker war 2023 ein ziemlicher Erfolg. Ich habe in Tobias Thieles großartigem Blue Lizard Studio in Funkenhagen vier neue Singles aufgenommen, die mir viel Lob und Anerkennung einbrachten. Erstmals wurde meine Musik bei BBC gespielt, was für einen unabhängigen Musiker eine große Sache ist. Besonders schön war, dass mein Song »Beauty in the Worst of Times« im Oktober in Tom Robinsons BBC-Sendung »Introducing Mixtape« lief. In Toms Sendung »New Year’s Day Mixtape« wurde ich von ihm als einer von nur zwei schottischen Künstlern gewählt, nach denen man 2024 Ausschau halten sollte. Vielleicht erinnern sich manche Leser übrigens daran, dass Tom Robinson und seine Band in den 1970ern auch in der DDR tourten. Außerdem spielte ich auf dem Edinburgh International Fringe Festival mit Ken Loach und Jeremy Corbyn sowie beim junge Welt-Konzert für Víctor Jara im Berliner Kino Babylon.

    Wir freuen uns, dass Sie das Kulturprogramm der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar bereichern werden, deren Motto »Wem gehört die Welt?« lautet. Was denken Sie, wem die Welt tatsächlich gehört?

    Ich freue mich, an dieser großen und wachsenden internationalen Konferenz für Politik und sozialistische Kultur beteiligt zu sein. Die Frage »Wem gehört die Welt?« ist in Zeiten des Klimawandels und des Zusammenbruchs, des erneuten Kalten Krieges und der immensen globalen Ungleichheiten sehr relevant. Es ist enorm wichtig, dass junge Welt diese Frage aufgreift und international präsentiert. Heute muss sich die westliche Gesellschaft der Tatsache stellen, dass die Geschichte des Kapitalismus eine der ewigen Krisen ist, die weit ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Und jede Krise ist destabilisierender als die vorherige.

    Was diese Krisen stets kennzeichnet, sind obszöne Ausgaben für Krieg und Luxus. Wenn wir die Welt heute betrachten, kann das geleugnet werden? Wenn wir den Klimakollaps, die globalen Ungleichheiten und den neuen Kalten Krieg betrachten – dessen Fronten in Gaza und der Ukraine verlaufen und wo Milliarden von Euro, Pfund und US-Dollar fließen, um diese Konflikte anzuheizen? Während die deutsche und französische Börse Allzeithochs erreicht.

    Der Kapitalismus ist allmächtig, und wir verbeugen uns vor ihm – um Marx zu paraphrasieren. Doch obwohl es ein allumfassendes System ist, ist es ein menschliches System, das wir demontieren und durch ein besseres ersetzen können. Wir als Menschen haben das schon einmal getan.

    Sie erwähnten Ihren Song »Beauty in the Worst of Times«. Die Zeiten sind mies und hässlich, Schönheit wird dringend gebraucht. Wirkt sich der globale Niedergang negativ auf Ihre Kreativität als Songwriter aus, oder fühlen Sie sich eher herausgefordert?

    Auch ich empfinde diese Zeiten als hässlich. Ich denke, alles fühlt sich jetzt so an, weil die materielle Basis des westlichen Imperialismus in Frage steht wie nie zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Immenses Leiden herrscht überall auf der Welt. Zu Hause beeinflussen mich der Druck steigender Lebenskosten, die von der extremen Rechten ausgehenden Gefahren und die konstante Existenzangst, so wie uns alle. Diese sozialen Konditionen beeinflussen meine Musik positiv wie negativ.

    »Beauty in the Worst of Times« handelt genau davon, beim Fokussieren des Negativen, Positives zu finden. Eine Antwort auf Brecht, der fragte, ob in dunklen Zeiten gesungen werden wird. Ja, es wird Songs über die dunkle Zeit geben. Meiner thematisiert den Druck und die Traurigkeit dieser dunklen Zeiten.

    Haben »ein Mann und seine Gitarre« noch eine Chance, die globalen Besitzverhältnisse herauszufordern? War das jemals so?

    Das ist eine tiefgründige Frage! Kann ein Musiker Menschen durch Lieder und Ideen organisieren, die Einsichten schaffen und Veränderungen anregen – Revolutionen inspirieren? Kurz gesagt: ja!

    Wenn es um Revolution, Wandel und Herausforderungen geht, dann kann Musik die Besitzverhältnisse angreifen, wenn sie Teil einer Bewegung ist – so argumentierten Lenin, Gramsci, Mao und andere. Jede Bewegung, jede Klasse benötigt kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten, ihr Narrativ, ihre Weltsicht, die die Leute mit an Bord nimmt. Gramsci zeigt uns, dass die herrschende Klasse nicht allein durch Zwang regiert, sondern durch Konsens, und Kultur ist ein wichtiger Teil dieser Herrschaft. Gleiches gilt für die Darstellung der Kultur einer Klasse als etwas, das für alle Völker und Klassen der Gesellschaft universell wahr ist.

    Unsere gegenseitigen Widersprüche zu überwinden wird wichtig sein in den kommenden Jahren, wenn wir eine echte antiimperialistische Bewegung aufbauen wollen, die sich den Problemen des Krieges, des Klimakollapses und der Ungleichheit stellen kann.

  • 07.01.2024 19:30 Uhr

    »Es gibt Dinge, die gesagt werden müssen«

    Über die Rosa-Luxemburg-Konferenz, Nostalgie und Grenzen des Sagbaren. Ein Gespräch mit dem Komponisten Daniel Osorio
    Carmela Negrete
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    »Ein Traum wird wahr« – Daniel Osorio (links)

    In welches Genre passt Ihre Musik? Konzeptuelle Musik?

    In Deutschland nennen sie es Neue Musik oder Avantgarde-Musik, aber das, worum es mir geht, oder woran wir in den kreativen Kollektiven arbeiten, an denen ich teilhabe, ist eine Musik, die nicht nur Kunst um der Kunst willen ist, sondern einen sozialen oder politischen Inhalt hat. Andernfalls hat es keinen Sinn. In den letzten drei bis vier Jahren, besonders während der Pandemie, haben wir die Idee entwickelt, die »Cronopien« zu gründen, ein Ensemble für Neue Musik, Avantgarde. Dabei haben wir versucht, einen Dialog mit Musikern zu führen, die nicht europäisch sind. Denn das ist das große Problem der europäischen Avantgarden, dass alles um Europa kreist. Es ist schrecklich, weil die akademische Musik alles ausblendet, was im Rest der Welt passiert. So habe ich Syrer und Musiker aus der Mongolei kennengelernt. Und so versuchen wir, eine neue Musik zu schaffen, aber immer mit Blick auf die Menschen.

    An der Akademie ist alles sehr schön – das, wovon man träumt, wenn man aus einem Land der »dritten Welt« kommt. Man möchte Europa kennenlernen und die große akademische Welt der Avantgarde-Musik. Am Ende merkt man jedoch, dass viele Dinge auf der Strecke geblieben sind und weiterhin schreckliche soziale Probleme existieren, zu denen man nicht schweigen kann. In diesen Momenten entschied ich mich, dieses Projekt zu schaffen, das klar politisch-kulturell sein sollte. In dieser Reihenfolge sogar, also mehr politisch, denn zu dieser Zeit passierten auch viele Dinge in Chile. Dafür griffen wir die Tradition des chilenischen »Neuen Liedes« und des gesamten politischen Liedes Lateinamerikas der 70er Jahre auf. Ich bin in den 80ern damit aufgewachsen, mit dieser politischen musikalischen Tradition des Widerstands gegen Pinochet, die man nicht ausüben durfte. Mein Vater verbot mir streng, Quilapayún-Schallplatten zu besitzen oder diese Musik zu hören, weil er dachte, wenn ich sie lernen würde, wäre das für mich sehr gefährlich. Als unschuldiger Teenager würde ich diese Lieder auf der Straße singen, und mein Vater hatte große Angst, dass ich deshalb verhaftet oder verschwinden würde. Also, als ich nach Deutschland kam, gründete ich dieses Musikprojekt, und wir begannen, all diese Widerstandslieder zu spielen, die auf die aktuelle politische Situation anwendbar waren.

    Das große Problem dieser Lieder ist, dass sie alle auf Spanisch sind, und natürlich gefiel den Leuten, wenn wir »El pueblo unido« oder »Venceremos« sangen, aber das Wichtigste entging ihnen. Sie verstanden den Text nicht. Also begannen wir, das Programm mit Rezitationen zu ergänzen, übersetzten alle Lieder in Echtzeit und projizierten sie, während wir sangen, und erklärten den Kontext jedes Liedes. Auf diese Weise sollte das politische Lied, das wir sangen, nicht nur Nostalgie sein. Alle linken Deutschen geraten in Tränen, wenn sie »El pueblo unido« hören. Aber wir wollten mehr als das. Wir versuchten, den Blick auf die Gegenwart zu richten, auf das, was in Argentinien, Chile oder Gaza passiert. Die Lieder bekommen eine neue Aktualität, einen neuen Kontext.

    Wer wird mit Ihnen auftreten? Und was werden wir bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz von Ihnen hören?

    Ein deutscher Musiker namens David Beyer und ein anderer chilenischer Musiker, der erst kürzlich angekommen ist und noch sehr jung ist, ein Student. Ich mag es sehr, mit ihm zu sprechen, weil er zu einer Generation aus dem heutigen Chile gehört, die ich nicht kannte. Er ist ein sehr politisch denkender junger Mann. Wir drei werden ein Konzert mit ausgewählten Liedern aus dem Programm geben, das wir im Laufe vieler Jahre entwickelt haben. Es heißt »Der andere 11. September«. Dieses Programm ist für die Konferenz zu umfangreich und widmet sich der Geschichte Chiles vor dem Putsch, während des Putsches und all dem, was nach dem Putsch geschah. Wir haben einen Text geschrieben, den eine Bäuerin zwischen den Liedern erzählt und der den gesamten Prozess beschreibt. Es ist ein schöner, aber einfacher Text, der versucht zu zeigen, wie eine bescheidene Frau das gesamte Drama des Putsches und der Diktatur erlebt hat. Es ist eine Hommage an Allende, an Víctor Jara … Ich möchte nicht zu viel über die Lieder verraten, aber sie stehen in engem Zusammenhang mit dieser Hommage an diese beiden für mich so wichtigen Personen.

    Wie haben Sie 2023 den Jahrestag der Ermordung von Víctor Jara in Deutschland erlebt?

    Von Saarbrücken aus konnte ich nicht an vielen Veranstaltungen teilnehmen, aber ich habe den Eindruck, dass ein wenig die historische Perspektive verlorengegangen ist. Die 40-Jahr-Feier war intensiver, weil ich glaube, dass vorher niemand über die Zeugen der Diktatur sprechen wollte, und es gab plötzlich eine riesige Flut an Geschichten. Traurige und unglaubliche Geschichten. Jetzt lag der mediale Fokus auf anderen Themen, nicht in Chile, sondern in Deutschland. Ich habe Angst, dass wir in der Nostalgie steckenbleiben. Im September haben wir in Berlin eine Hommage an Víctor Jara im Iberoamerikanischen Institut veranstaltet. Stefan Litwin komponierte sogar ein Lied für Jara. Es ist ein Werk für zeitgenössisches Klavier mit einer sehr unterschiedlichen musikalischen Sprache, von der ich denke, dass Víctor Jara gesagt hätte: »Genial«. Denn er war auf der Suche danach, seine poetische und musikalische Sprache zu erneuern. Luigi Nono, ein kommunistischer Komponist und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Italien, besuchte Chile und sprach mit Víctor Jara, der sehr beeindruckt von dessen kreativer Kraft war, und Nono war auch sehr aufgeregt. Jara bereitete ein Theaterstück namens »Die sieben Staaten« (Los siete estados) vor. Das wenige, was erhalten geblieben ist, klingt sehr anders als das, was er zuvor gemacht hatte, weil er sich in einer sehr kreativen Phase befand.

    Wie erleben Sie den Aufstieg der extremen Rechten, während zugleich viele Kulturveranstaltungen wegen vermeintlicher politischer Inkorrektheit abgesagt werden?

    Ich verfolge beides mit Entsetzen und mich ergreift fast schon Angst. Als ich ankam, galt der Aufstieg der extremen Rechten als undenkbar. Und jetzt sehe ich, wo die extreme Rechte steht, und wie global dieses Phänomen ist. In Deutschland beunruhigt es mich sehr, wie sehr beeinflusst wird, was du sagst und wie du es sagst, denn ich kenne Künstlerkollegen, die von Ausstellungen oder Konzerten ausgeladen wurden. Das Saarlandmuseum hier hat der phantastischen jüdischen Künstlerin Candice Breitz eine Ausstellung abgesagt, weil sie angeblich den Angriff der Hamas nicht so energisch verurteilte, wie es verlangt wurde. Dabei war es eine großartige, feministische Ausstellung. Das passiert auch anderen Kollegen mit Konzerten. Es gibt keinen Dialog mit allen Beteiligten, es gibt nur Schwarz und Weiß. Das ist schrecklich, besonders für Künstler. Und man gibt dir nicht einmal die Gelegenheit zu antworten. Ich bin deutscher Staatsbürger, aber man merkt, dass ich kein Deutscher bin, und manchmal frage ich mich in einigen Gebieten, ob ich sicher bin.

    Sie haben eine akademische Karriere und sind politisch engagiert. Haben Sie Angst, dass Ihnen die Teilnahme an Konferenzen wie der RLK berufliche Probleme verursachen könnte?

    Als man mich eingeladen hat, habe ich sofort zugesagt. Es gibt eine Gefahr, aber wenn die Rosa-Luxemburg-Konferenz mich einlädt, wird ein Traum wahr, den ich schon lange hatte. Ich wollte schon immer in Berlin bei dieser Konferenz auftreten. Es gibt immer mehr Schwierigkeiten, aber es gibt Dinge, die gesagt werden müssen. Im Fall von Saarbrücken haben andere Künstler und ich eine Erklärung zur Unterstützung von Candice Breitz unterzeichnet, denn bei ihr handelt es sich eindeutig um Zensur. Man muss als Künstler aktiv werden, auch wenn es natürlich beängstigend ist, aber ich kann nicht schweigen.

  • 07.01.2024 19:30 Uhr

    Burundische Trommeln zur Floh-Kantate

    Das rotbunte Kulturprogramm der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz
    Norman Philippen
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    Nicolás Miquea 2017 auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz

    Die trancehaften Rhythmen burundischer »Batimbos«, das lässt sich bei The Clash, Joni Mitchell, Adam and the Ants oder Echo & the Bunnymen nachhören, waren längst Teil westlicher Popkultur, bevor der »Kulttanz der königlichen Trommel« 2014 zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde. Im ostafrikanischen Burundi gelten die Trommler und Tänzer seit Urzeiten als Botschafter des Friedens, der Hoffnung und Einheit. Erzählen die im Takt der Tänzer geschlagenen, aus dem Holz des Cordia africana – des »Baumes, der Trommeln zum Sprechen bringt« – gefertigten, zwei Zentner Trommeln doch die Ethnien des Landes versöhnende Geschichten. Mit ihrer Botschaft zum Motto »Wem gehört die Welt?« wird die in Berlin ansässige, aus verschiedenen afrikanischen Ländern stammende Trommelgruppe Ingoma das Kulturprogramm der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz eintrommeln.

    Mit Ingoma, nur ohne Trommel, freut sich auf ein tosendes Tempodrom der seit den 1970er Jahren kampferprobte politische Liedermacher Wenzel. Gegen die wendezeitlich kriegsblinde Propaganda brachte er zuletzt sein Livealbum »Noch verschont von großen Kriegen« in Stellung. Lohnende Lieder wider Krieg und das geltende Herrschafts- und Repressionssystem hat der vielfach ausgezeichnete Wenzel aber auch sonst so reichlich im riesigen Repertoire, dass er spielend mehr Zugaben geben könnte, als es das volle RLK-Programm leider zulässt. Vorsicht aber beim Lauschen: Albumtitel wie »Glaubt nie, was ich singe« oder »Schöner Lügen« deuten an, dass es hintergründig werden könnte. Besser also, man hört gut hin!

    Mit Calum Baird konnte ein nicht minder politischer Liedermacher gewonnen werden, »Beauty in the worst of times« ins Tempodrom zu singen. Mit Versen wie »Ich denke an Antifaschisten und deren hinterlassene Monumente / Und ich wandle in ihren Fußspuren, muss das Terrain kartieren« vom Song »Greifswalder Straße« empfahl sich der Schotte schon lange für das RLK-Kulturprogramm. Das wird Calum zudem gemeinsam mit der deutsch-palästinensischen Spoken-Word-Künstlerin Faten El-Dabbas sowie dem britischen Vorsitzenden der »Jüdischen Stimme«, dem Komponisten und Autor Wieland Hoban zur »Manifestation für einen gerechten Frieden in Nahost« bereichern.

    Für weitere politische Bildung nach Noten sorgt der chilenische Komponist Daniel Osorio mit den Musikandes. Das seit 2008 bestehende Musikprojekt fusioniert die Tradition sozialkritischen lateinamerikanischen Liedguts mit europäischen politischen Kompositionen etwa Hanns Eislers oder Kurt Weills. »Wir vergessen nicht« lautet das Motto des multimedialen Konzerts, das mit Musik, Poesie und Bildsprache von der lehrreichen Revolutions- und Putschgeschichte Chiles erzählen wird.

    Eng mit der Chile-Solidaritätsbewegung verbunden war auch die zwischen 1966 und 1983 aktive Kölner Politrockband Floh de Cologne. Der gelang es einst, »mit unseren Mitteln zur Aufklärung über diesen verbrecherischen Putsch und seine Hintergründe beizutragen«, wie es Dieter Klemm, der Sprecher und Texter der Flöhe, ausdrückt. Aus gerechtem Zorn entstanden einst elf Alben sowie das 1974 in der ausverkauften Essener Grugahalle uraufgeführte Stück »Mumien. Kantate für Rockband«, das einen Höhepunkt der deutschen Chile-Solidarität markierte. Eine filmische Bearbeitung der Kantate wurde erst am 11. September 2023 im Berliner Kino Babylon uraufgeführt. Über den Applaus für die Aufführung im Tempodrom dürfen Dieter Klemm und die Filmmacher Claudia Opitz und Sebastian Köpcke sich dann persönlich vor Ort freuen, wenn sie nach der Filmvorführung gemeinsam auf der Bühne stehen.

    Recht rotbunt und rund wird’s also auch in diesem Jahr, das Kulturprogramm der RLK. Und den geneigten Besuchern sicher ein paar Antworten geben auf die Frage, wem hier was gehören sollte.

  • 05.01.2024 19:30 Uhr

    junge Welt sehen und hören

    Lernen Sie uns kennen: Mit einem Aktionsabo und auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
    Aktion und Kommunikation
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    Die Tageszeitung junge Welt liefert an sechs Tagen der Woche Analysen, Kommentare und Hintergrundartikel, die Sie anderswo garantiert nicht zu lesen bekommen. Nachrichten jenseits des Mainstreams interessieren die Menschen, das merken wir unter anderem daran, dass uns viele Leserinnen und Leser nach einem Einstieg in die junge Welt mit Probe- oder Aktionsabos als reguläre Abonnenten erhalten bleiben. Ein solches Kennenlern-Angebot ohne weitere Verpflichtungen bietet aktuell unser Winter-Aktionsabo: 75 Ausgaben der jW zum Preis von nur 75 Euro. Ob diese Zeitung auch für Sie etwas ist, lässt sich schließlich erst nach der Lektüre beurteilen.

    Am nächsten Wochenende können Sie die Zeitung, ihre Macher und Leserinnen und Leser aber auch auf eine ganz andere und viel persönlichere Art kennenlernen: auf der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2024 im Berliner Tempodrom. Die nunmehr 29. von der Tageszeitung junge Welt und vielen Unterstützern organisierte Konferenz ist nicht weniger als eine ganz besondere Ausgabe der Zeitung mit anderen Mitteln. Denn das Programm der Konferenz (mehr dazu unter jungewelt.de/rlk) stellt einen Querschnitt und eine Art Best-of unserer täglichen Arbeit dar: Internationale Referentinnen und Referenten berichten von Brennpunkten auf der ganzen Welt; die Podiumsdiskussion zum Thema »Wer stoppt die Rechten?« bringt linke Akteure unterschiedlicher Hintergründe zusammen. Das von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) moderierte Jugendpodium befasst sich mit dem Thema Militarisierung. Und auch im Bereich Kunst und Kultur haben wir mit dem Liedermacher Wenzel, mit Flo de Cologne und Daniel Osorio einiges zu bieten. Vor allem aber ermöglicht es die Konferenz, unsere eigene Stärke zu erleben: mit Tausenden Gleichgesinnten an einem Ort. So hat sich die Rosa-Luxemburg-Konferenz zum politischen Jahresauftakt der Linken im deutschsprachigen Raum entwickelt. Seien Sie dabei, denn wir sind nicht allein!

    Wer auch nach der Konferenz nicht auf unsere Inhalte verzichten möchte, dem sei unser Aktionsabo ans Herz gelegt. Bestellen Sie für sich oder für eine bekannte Person noch bis zur Rosa-Luxemburg-Konferenz mit einem Anruf bei der Aboverwaltung (030/53 63 55-80) oder mit einer Mail unter Angabe der Liefer- und der Rechnungsanschrift an abo@jungewelt.de.

  • 05.01.2024 19:30 Uhr

    »Mumias Fall ist ein Beispiel für die Ungerechtigkeit der US-Justiz«

    Über die Verfolgung politischer Aktivisten und die Relevanz der internationalen Solidarität. Ein Gespräch mit Julia Wright
    Michael Schiffmann
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    Unterstützer von Mumia Abu-Jamal, einige von ihnen in orangefarbenen, Overalls, ähnlich denen, die in US-Gefängnissen getragen werden, protestieren in Philadelphia (Oktober 2014)

    Sie sind die Tochter des afroamerikanischen Schriftstellers und Aktivisten Richard Wright, des Autors der berühmten Bücher »Native Son« und »Black Boy«. Mitte der 1980er Jahre haben Sie sich der Bewegung zur Befreiung Mumia Abu-Jamals angeschlossen und sind auch jetzt noch Teil dieser Kampagne. Worin besteht die Verbindung zwischen Ihrem familiären Hintergrund und dem langjährigen Kampf für Gerechtigkeit für Mumia?

    Ich bin in Brooklyn, New York geboren. Mein Vater war der Sohn eines armen Pächters, eines Analphabeten aus dem Süden. Er verfasste dann das Werk »Native Son«, das zum ersten Bestseller der schwarzen Literaturgeschichte wurde. »Native Son« war später in der Black Panther Party Pflichtlektüre. Der Roman spielt in Chicago und erzählt die Anti-Odyssee eines Beinahe-Analphabeten, eines schwarzen, im Elend lebenden Jugendlichen, der den Rassismus hautnah erfährt und dem die Gesellschaft keine andere Wahl lässt, als zum Verbrecher zu werden, wenn er in seinen eigenen Augen noch ein Mann bleiben will.

    Fünf Jahre später, 1945, schrieb mein Vater das Buch »Black Boy«, das seine eigene, von Armut und Hunger geprägte Jugend im Süden der USA beschreibt. Er berichtet darin, wie er der Lynchkultur von Jim Crow entkommt, um im Norden »die Wärme anderer Sonnen« zu spüren – zumindest hoffte er das. »Native Son« beschreibt die Desillusionierung des Protagonisten von »Black Boy«, sobald er im Norden ist. Dieses Buch und eine weitere Novelle, die Richard im Jahr meiner Geburt schrieb, zeigen, dass er wusste: Auch im Norden gab es Rassismus, und der war weniger ein geographisches als ein Problem der Klasse und der kapitalistischen Herrschaft.

    Im Norden trat er der Kommunistischen Partei der USA bei, und obwohl er die Partei später wieder verließ, blieb er bis zum Ende seines Lebens Marxist. Anders als weniger stark politisch engagierte schwarze literarische Ikonen wie Ralph Ellison oder Toni Morrison gehört Richard Wright zu der kleinen Zahl wirklich radikaler berühmter schwarzer Schriftsteller. Er starb 1960 in Paris, wo ihn das US-Außenministerium und das FBI ständig überwacht hatten. Einige seiner Bücher sind in letzter Zeit in Deutschland wiederaufgelegt worden.

    Ich denke, es gibt einige deutliche Ähnlichkeiten zwischen Richard und Mumia. Genau wie bei meinem Vater war Mumias Haltung zum Rassismus von fünf Faktoren geprägt – wie die fünf Finger einer Hand. Erstens »Rasse«, zweitens Klasse: Mein Vater stammte aus dem ländlichen Süden, Mumia aus den »Projects« in Philadelphia. Drittens Bewusstsein: So wie Wright beständig über Lynchjustiz und Hunger schrieb, schreibt Mumia über Polizeibrutalität und Racial Profiling. Viertens Nichtkorrumpierbarkeit: Wie bei Wright ist Mumia einzige Währung seine Liebe zu Ideen. Fünftens der Kampf gegen die Todesstrafe. Wright verurteilte die Hauptfigur von »Native Son« in seinem Buch zum Tod, um zu zeigen, wie weit eine Gesellschaft unter rassistischer weißer Vorherrschaft ihre Unmenschlichkeit treiben kann. Die einzige Todesstrafe, die mein Vater befürwortete, war die für die Gesellschaft, die ihn unterdrückte. Das ging so weit, dass er zusammen mit meiner Mutter und mir 1947 nach Paris ins Exil ging.

    Wie kam Ihr Engagement für Mumia und seinen Fall zustande?

    Für mich kamen hier ganz einfach alle fünf erwähnten Faktoren zusammen. Mumia hätte eine Figur in einem der Romane meines Vaters sein können. Die Novelle »The Man Who Lived Underground« fiel gewissermaßen einem Verstoß gegen das gesetzliche Verbot der Unterschlagung von Beweismitteln zum Opfer, als der weiße Establishment-Verlag Anfang der 1940er Jahre, als das Werk erstmals erschien, einen 50 Seiten langen Abschnitt, in dem der des Mordes angeklagte Protagonist entlastet wird, einfach herauszensierte. Diese Passage, die beschreibt, wie der Protagonist von der Polizei gefoltert wird, um ein falsches Geständnis zu erzwingen, wurde den Lesern bis zur vollständigen Publikation des Werks im April 2021 vorenthalten.

    Zu alldem kommt dann noch Mumias schriftstellerisches Talent – seine Funktion als Stimme der Unterdrückten. In seinen Kommentaren beschränkte und beschränkt er sich nicht darauf, den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, sondern er ist auch entschlossen, sie zur Rechenschaft zu ziehen.

    Und schließlich kam es ganz einfach deshalb zu meinem Engagement, weil Mumia, als er dann im Todestrakt war, sich an meine Familie wendete und um Unterstützung bat. Es verstand sich von selbst, dass ich das tun würde, und so ist es immer noch.

    In den 1980ern hatte praktisch noch niemand von den skandalösen Rechtsverstößen gehört, die zum Schuldspruch und zum Todesurteil gegen Mumia führten. Wie war es möglich, eine breite Basis aufzubauen, durch die die Bewegung rasant wuchs und dann seit Anfang und Mitte der 1990er auch eine internationale Komponente einschloss?

    Ich habe damals wie heute von einer internationalen Ebene aus für die Mobilisierung der Menschen außerhalb der USA gearbeitet. Wir müssen uns aber immer auch fragen, was wir tun können, um zu einer wachsenden Mobilisierung in den USA selbst beizutragen. Wir ließen und lassen die Welt wissen, dass der Fall Mumia Abu-Jamals ein Lehrbeispiel für die Ungerechtigkeit des Justizsystems in den USA ist, genau wie der Historiker Raz Segal jetzt den israelischen Angriff auf Gaza als Lehrbeispiel für einen Völkermord bezeichnet hat. Wir ließen und lassen die Welt wissen, wer Mumia ist – nämlich nicht der »Cop Killer«, als der er von der Polizei dämonisiert wird, sondern ein menschliches Wesen.

    Wir ließen und lassen die Welt wissen, wer Mumia – der Autor, Gelehrte und Historiker – ist, weil das schließlich der Grund ist, weshalb ihm ein Verbrechen in die Schuhe geschoben wurde und er noch vor seinem Todesurteil beinahe getötet worden wäre. Er bleibt der Mann, der mit dem Genie seiner Feder Zeugnis von einer Gesellschaft ablegt, die die höchste Haftrate auf der ganzen Welt hat und dabei unverhältnismäßig viele Schwarze, Braune und Indigene sowie arme Menschen einsperrt.

    Auch ihr in Deutschland habt wunderbare Arbeit geleistet, um euer Land wissen zu lassen, wer Mumia ist, indem ihr seine Bücher übersetzt und bei euren Veranstaltungen aus ihnen vorlest. So tragt ihr von Deutschland aus zur Veränderung in den USA bei. Zur internationalen Dimension gehört auch die Arbeit mit den Vereinten Nationen. Im Dezember 2022 wurde vor Gericht ein bemerkenswerter Antrag einer dem UN-Kommissariat für Menschenrechte unterstehenden Expertengruppe eingereicht, worin sie feststellt, Mumias Verurteilung sei klar rassistisch motiviert und repräsentiere eine Geisteshaltung, die bis auf die Sklaverei zurückgeht und auch in den US-Gerichten noch nicht eliminiert ist. In Philadelphia jedenfalls war und ist einer der wichtigsten Slogans: »Die ganze Welt blickt auf diesen Fall« – »The whole world is watching.«

    Während es 2001 und dann endgültig 2011 gelungen ist, die Aufhebung der Todesstrafe gegen Mumia durchzusetzen, lehnte Richterin Lucretia Clemons vom Prozessgericht in Philadelphia – trotz ihres Zögerns aufgrund des UN-Antrags – am 31. März 2023 Mumias letzte Berufung ab und es sieht nunmehr vor den Gerichten nicht gut für ihn aus. Was sind Ihre Gedanken dazu?

    »Wie machen wir jetzt weiter?« – das ist eine Frage, die anhand von zwei wichtigen Parametern beantwortet werden muss, nämlich erstens, wieviel Zeit haben wir, und zweitens, können wir innerhalb dieses Zeitfensters die Bedingungen für eine Mobilisierung schaffen, die das Justizsystem in Philadelphia zu einer Kehrtwende und zur Gewährung eines neuen Verfahrens oder einer Beweisanhörung veranlasst?

    Grund dafür wäre das 2018/19 gefundene, 36 Jahre lang vor der Verteidigung geheimgehaltene entlastende Beweismaterial, in dem es um Verstöße gegen Entscheidungen des US Supreme Court in den Fällen Brady (1963) und Batson (1986) geht. Nach der Rechtsprechung im Fall Brady ist klar, dass die Vorenthaltung von Beweismaterial durch die Anklagebehörde illegal ist, und das Urteil im Batson-Fall macht klar, dass die Anklage Geschworene nicht aus rassistischen Gründen ausschließen darf. Nach normalen Kriterien müsste das Mumia das Tor zur Freiheit öffnen.

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    Julia Wright

    Die Zeitfrage ist bedeutend, Mumia muss aus medizinischen Gründen entlassen werden. Die Statistik für Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz – Mumias Diagnose seit seiner Herzoperation im April 2021 – ist gnadenlos: 50 Prozent überleben die folgenden fünf Jahre nicht. Diese Diagnose gilt für Patienten in Freiheit, die sich angemessen ernähren und die nötigen körperlichen Übungen machen können.

    Was können wir denn dann innerhalb so kurzer Zeit tun?

    Erstens müssen wir ein für allemal das von Polizei und Staatsanwaltschaft zusammengebraute Narrativ widerlegen, demzufolge Mumia den weißen Polizeibeamten Daniel Faulkner erschossen hatte, nachdem er frühmorgens in Center City in Philadelphia seinem Bruder zu Hilfe kommen wollte, den dieser Polizist misshandelt hatte. Diese Version der Ereignisse ist eine Lüge und muss als solche entlarvt werden. Was ist das Motiv für diese Lüge? Genau die Faktoren, von denen ich bereits gesprochen habe, und außerdem die Absicht, Mumia zu kriminalisieren, um ihn zu neutralisieren.

    Die COINTELPRO-Akte (geheimes Counterintelligence Program der US-Bundespolizei FBI von 1956 bis 1971, jW) die über Mumia geführt wurde, seit er 14 war, zeigt, wie intensiv er all die Jahre überwacht wurde, und es heißt dort unter anderem: »Mumia Abu-Jamal ist intelligent und hat keine Vorstrafen, aber aufgrund seiner Schriften sollte er auf den Nationalen Sicherheitsindex gesetzt werden.« Seine klare Berichterstattung über die extreme Polizeibrutalität gegen die MOVE-Organisation und andere war für die Herrschenden der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

    Also musste man ihm bei Gelegenheit ein Verbrechen anhängen. Wie Mumia sagte später: »Mein einziges Verbrechen besteht darin, dass ich in dieser Nacht überlebt habe.« Wie immer bei solchen Lügenmärchen war die Geschichte der Anklage voller Ungereimtheiten: Wahrhaftige Zeugen wurden beiseitegedrängt oder sogar bedroht, und an ihrer Stelle gab es bestochene Belastungszeugen. Entlastende Beweise wurden durch Unterschlagung, also unter Verletzung des »Brady«-Urteils, oder die Streichung aus dem Prozessprotokoll unterdrückt, und selbst die Fotos des unabhängigen Fotojournalisten Pedro P. Polakoff, die Sie, Michael, später publik gemacht haben, wurden von der Staatsanwaltschaft ignoriert.

    Die Zusammensetzung der Jury wurde unter Verletzung des »Batson«-Urteils rassistisch manipuliert. Mumia durfte sich nicht selbst verteidigen. Die Tatsache, dass sich neben Mumia und seinem Bruder noch eine weitere Person am Tatort befand, wurde unterschlagen. Obwohl Mumia durch einen Lungenschuss lebensgefährlich verletzt war, wurde er misshandelt und von der Polizei fast umgebracht, die ihn erst nach einer halben Stunde ins Krankenhaus brachte. Als er später dagegen Beschwerde einlegte, erfand die Polizei ein »Tatgeständnis« im Krankenhaus, das es nie gegeben hatte – und, und, und. Alles wurde hingedreht, um einen Buhmann zu schaffen, und hier hieß der Buhmann zur Freude der Herrschenden Mumia.

    Was wären neben dem Kampf gegen das Polizeinarrativ weitere wichtige Handlungsmöglichkeiten?

    Wir müssen uns ansehen, was bei unserer und anderen radikalen Bewegungen in der Vergangenheit funktioniert hat. Wir haben Mumia dreimal gerettet: das erste Mal vor der Todesstrafe, das zweite Mal vor dem Tod durch Hepatitis C und das dritte Mal, indem wir uns, als er unter Herzproblemen litt, international für seine medizinische Versorgung einsetzten. Wir können ihn erneut retten, indem wir die Taktiken einsetzen, die wir bei unseren vorherigen Siegen angewendet haben. Dabei sehen wir jedes Mal, dass die internationale Mobilisierung einer der entscheidenden Faktoren war. Wir sollten uns eine Liste all dieser Faktoren machen.

    Was können wir von anderen radikalen Bewegungen lernen? Dass Einheit unsere stärkste Waffe ist – sind nicht auch die Gegner von Mumias Freiheit geeint stärker als gespalten? Es gibt Befreiungsfronten und Kampagnen für politische Gefangene, mit denen wir Bündnisse schließen können, um besser die Ziele auf seiten des Imperialismus anzuvisieren, denen unser kollektiver Angriff gilt, um gemeinsam zu protestieren, Informationen miteinander auszutauschen und anderes mehr …

    Weiter sehen wir eine seismische Machtverschiebung auf der ganzen Welt: Der globale Süden hat sich unter anderem durch die BRICS-Staaten erhoben, während sich durch das Debakel in der Ukraine und die schurkischen Vetos der USA im UN-Sicherheitsrat gegen einen Waffenstillstand im Freiluftgefängnis von Gaza tiefe Risse in der US-Hegemonie entwickeln. Die Freilassung der politischen Gefangenen in den USA, dieser Geiseln unserer eigenen Regierung, sollte ebenfalls in diesem globalen Kontext gesehen werden.

    Schließlich sollten wir, wie Johanna Fernandez unter Hinweis auf die kürzliche Aufführung der von Mumia noch im Todestrakt komponierten Oper »A Vampire Nation« an der Brown University sagte, nie die Macht von Kunst, Kultur, Dichtung und Musik bei der Mobilisierung unterschätzen. Stellen wir uns vor, diese ergreifende Oper würde als Vorspiel zu einer Rekonstruktion dessen, was in jener Dezembernacht vor 42 Jahren tatsächlich geschah, unter den Fenstern von Bezirksstaatsanwalt Larry Krasner aufgeführt – einer Rekonstruktion, die die Polizei immer tunlichst vermieden hat! Hat nicht Shakespeare geschrieben: »Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe«?

    Ich weiß, dass es da noch einen weiteren Punkt gibt, der Ihnen sehr wichtig ist.

    Ja, denn schließlich, und das ist in meinen Augen am wichtigsten, haben meine Lehrjahre in den Befreiungsbewegungen in Ghana und bei der Black Panther Party mich gelehrt, dass wir nicht mehrere Feinde gleichzeitig bekämpfen können. Welchen Feind sollten wir anvisieren, um die negative Haltung der Gerichte gegenüber Mumia aufzubrechen? Hier bin ich der Meinung, dass alle die, die wie der ehemalige Richter Wendell Griffen auf die Kontrolle hinweisen, die der Fraternal Order of Police (FOP) über die Gerichte – und im übrigen auch die sonstigen staatlichen Strukturen – in Pennsylvania ausübt, uns den richtigen Weg weisen. Der FOP ist der wichtigste Polizeiverband in den Vereinigten Staaten.

    Ein Sieg über den FOP klingt zu hypothetisch? Vielleicht, aber erinnern wir uns daran, dass es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts schon einmal zur erfolgreichen Zerstörung eines Polizeiimperiums gekommen ist, nämlich in Chicago, wo die Schergen von Police Commander Jon Burge die unangefochtene Macht hatten und an unschuldigen schwarzen Bürgern Foltertechniken praktizierten, die aus dem Vietnamkrieg kamen – bis eine engagierte Gruppe von radikalen Anwälten das Krebsgeschwür der Polizeigewalt besiegte, von dem diese Stadt gequält wurde. Flint Taylor, ein Gründungsmitglied des People’s Law Office in Chicago, hat ein lehrreiches Buch über diese Geschehnisse geschrieben, »The Torture Machine«.

    Denken wir außerdem daran, dass es dieselbe korrupte Polizei in Chicago war, die sich im Dezember 1969 im Rahmen von COINTELPRO mit dem FBI zusammentat, um den Vorsitzenden der Black Panther in Chicago, Fred Hampton, zu ermorden. Mumia besuchte den Tatort und zitierte im Januar 1970 in einem Interview Mao Zedong: »Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.« Damit meinte er, dass der Staat Fred Hampton getötet hatte und dass es nicht die schlafenden Panther-Mitglieder im Haus waren, die geschossen hatten. Dieser Kommentar wurde dann über ein Jahrzehnt später in Mumias Verfahren von Staatsanwalt Joseph McGill verdreht, um die Jury dazu zu bringen, Mumia zum Tode zu verurteilen.

    Jedenfalls ist das vom Staat gefälschte Narrativ, nach dem Mumia schuldig ist, in Chicago verbreitet. Dadurch ist es nicht nur mit Richard Wright und seinem Roman »Native Son« verbunden, sondern auch mit dem mittlerweile gestürzten korrupten Polizeiimperium.

  • 05.01.2024 19:50 Uhr

    Wir müssen mehr werden

    Die Rosa-Luxemburg-Konferenz soll bezahlbar bleiben
    Aktion und Kommunikation
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    Nebenkostennachzahlungen von mehreren tausend Euro, die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie, höhere Steuerlast für Landwirte. Allerorten geht es um Preissteigerungen – und auch die junge Welt kann diese Entwicklung nicht einfach ignorieren. Dass die Miete für das Berliner Tempodrom als Austragungsort für die Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2024 die von bisherigen Austragungsorten übersteigt, war uns von Anfang an klar. Ebenfalls, dass nicht mehr alle die teureren Karten und die höheren Standmieten zahlen können. Deshalb haben wir die günstigste Preiskategorie bei den Eintrittskarten beibehalten – die Konferenz soll schließlich kein Luxusprodukt werden. Neben den allgemeinen Teuerungen summieren sich weitere, unerwartete Zusatzkosten.

    So haben wir zum Beispiel die Situation, dass bereits gebuchte Flüge für Referenten umgelenkt werden müssen, weil sich die Kriegs- und Konfliktzonen auf der Welt ausbreiten und wir unseren Gästen eine sichere Anreise gewähren wollen. Und auch unser Livestream, der – wie immer – das gesamte Konferenzprogramm kostenlos zugänglich macht, ist mit nunmehr vier Konferenzsprachen deutlich teurer geworden. Daher bitten wir alle, die uns online zuschauen wollen, eine gewisse Summe zu spenden: als Zeichen der Wertschätzung für unsere inhaltliche und organisatorische Arbeit. Auch dann, wenn Sie vor Ort sind und Eintritt bezahlt haben, jedoch gerne mehr geben können, freuen wir uns über jede Spende.

    Vor allem aber freuen wir uns über viele Besucherinnen und Besucher. Unter anderem, weil dann die gemeinsam gesungene »Internationale« um 20 Uhr viel beeindruckender klingt. Aber auch, damit viele tausend Linke und Progressive an einem Ort des Austauschs zusammenkommen. Bestellen Sie noch bis einschließlich 8. Januar Karten, wenn sie per Post verschickt werden sollen. Sie können auch in den Berliner Vorverkaufsstellen Tickets erwerben, im junge Welt-Laden und im Kleinen Buchladen. Außerdem wird in diesem Jahr die Tageskasse den gesamten Sonnabend über geöffnet sein. Rund 2.500 Tickets sind bereits verkauft.

    Spendenkonto und Paypal-Link unter jungewelt.de/rlk-spende.
    Tickets bestellen können Sie unter jungewelt.de/rlk-tickets

  • 02.01.2024 19:30 Uhr

    »Deren Leben von Land abhängt«

    Kleinbauern in Tansania kämpfen im Netzwerk MVIWATA gemeinsam für ihre Rechte. Ein Gespräch mit Theodora Pius
    Mawuena Martens
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    Den Preis von Agrarprodukten bestimmt leider häufig der Markt: Frau mit einem Eimer Bohnen auf einem Markt in Tansania

    Was genau ist MVIWATA?

    MVIWATA ist ein Akronym auf Suaheli und steht für »Netzwerk kleinbäuerlicher Gruppen in Tansania«. Das ist die größte Organisation dieser Art in Tansania und vielleicht sogar in Afrika. In Tansania sind 65 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt, Landarbeiter machen also einen Großteil unserer Gesellschaft aus und beeinflussen unsere Kultur und unseren Lebensstil. Der größte Teil der Menschen lebt auf den Dörfern abseits der Städte als Bauern, vor allem Kleinbauern. Dabei verwenden wir nicht die Definition eines Bauern, die sich auf die Größe des bewirtschafteten Landes bezieht, sondern wir nehmen die gemeinsamen Charakteristika, die Kleinbauern aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit verbindet. Und zwar als Teil der Arbeiterklasse. In seiner Verfassung definiert MVIWATA Bauern daher als Personen, deren Leben von Land abhängt. Wenn man diesen Personen ihren Boden wegnimmt, beraubt man sie auch ihrer Lebensgrundlage. Das ist beinahe die gleiche Definition, die auch die UN-Deklaration »Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten« verwendet. Die Mitglieder von MVIWATA können daher sowohl Ackerbauern als auch Viehzüchter, Fischer und Mitglieder indigener Gemeinschaften sein.

    Mit welchen Problemen haben Kleinbauern in Tansania zu kämpfen, und was hat das mit MVIWATA zu tun?

    Da sind zum einen die Herausforderungen, die mit Land und Boden verknüpft sind. Zum anderen haben Kleinbauern keine Macht, einen bestimmten Preis für ihre Agrarprodukte auf den Märkten durchzusetzen. In der Zeit, in der Tansania seine Unabhängigkeit erlangt hat, hat das Land versucht, die Modernisierung des Landes mit Hilfe von Krediten, von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank, voranzutreiben. Doch diese Kredite sind an sogenannte Strukturreformen geknüpft und haben es der Regierung auch verboten, in den Markt einzugreifen.

    Der Markt hat also die Preise bestimmt, zu denen Bauern ihre Produkte verkaufen konnten, und die Bauern waren völlig auf sich allein gestellt. Aus dieser Not heraus – in den 80ern und 90ern waren sogar 90 bis 95 Prozent der Tansanier in der Landwirtschaft beschäftigt – wurde MVIWATA geboren. Die Organisation wurde 1993 gegründet, um Kräfte zu bündeln. Gemäß einem Sprichwort lautet unser Credo: Der Verteidiger des Bauern ist der Bauer selbst. Denn wir können uns nicht auf andere, wie die Regierung, verlassen. Wir müssen uns selbst organisieren, MVIWATA gibt den Menschen daher eine Plattform und die Möglichkeit, für die Umwelt und soziale sowie politische Rechte zu kämpfen.

    Wie funktioniert die Selbstorganisation, und was ist Ihre Aufgabe?

    MVIWATA existiert in verschiedenen Netzwerken auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Das besondere ist, dass es Bauern sind, die in allen Entscheidungsgremien sitzen. So gibt es eine jährliche Generalversammlung, die höchste Entscheidungsinstanz, und das Board of Directors. Die Organisation ist über die Jahre gewachsen, und der Zulauf funktioniert quasi über Mund-zu-Mund-Propaganda. Meine Hauptaufgabe im Sekretariat besteht in der Koordination der verschiedenen Programme und Projekte, beispielsweise zu Agrarökologie oder Finanzierungshilfen. Wir haben auch ein neues Projekt, nämlich unseren eigenen Radiosender MVIWATA FM. Dieser dient den Bedürfnissen der Bauern und bietet eine Alternative zu den Mainstreammedien. Wir haben auch kulturelle Programme, in denen sogar in weiteren Stammessprachen gesprochen wird.

    Wie finanziert sich die Organisation? Erhalten Sie Geld von der Regierung?

    Von der Regierung erhalten wir kein Geld, aber wir haben Mitgliedsbeiträge, und wir verkaufen unsere eigenen Produkte, zum Beispiel T-Shirts. Extern erhalten wir Gelder von anderen Organisationen wie »La Via Campesina«, einem internationalen Bündnis. Darin sind wir Mitglied und beherbergen in unserem Hauptsitz in Morogoro auch das regionale Sekretariat von »La Via Campesina« für Ost- und Südafrika. Wir erhalten auch Gelder von anderen Regierungen, beispielsweise von der baskischen Regionalregierung aus Spanien. Wir haben auch Beziehungen zu Kuba und Venezuela, erhalten von dort aber keine direkten Finanzmittel.

    Wie sind die Beziehungen zur tansanischen Regierung?

    Sehr wechselhaft. Manchmal gibt es Überschneidungen, so dass wir uns gegenseitig unterstützen und ergänzen. Wenn die Regierung in den Dörfern Kurse über Agrarökologie hält, unterstützen wir dies. Wir haben beispielsweise elf Märkte in Tansania errichtet, und das kommt auch der Regierung zugute. In Zusammenarbeit mit der kubanischen Regierung unterstützt Tansania die Entwicklung von Bioziden, das finden wir sehr interessant und unterstützen das.

    An anderen Stellen haben wir aber auch unterschiedliche Sichtweisen. Etwa als die Regierung versucht hat, Gentechnik durchzusetzen, waren wir dagegen. Wir haben unserer Stimme Gehör verschafft und sind am Ende mit der Regierung zu der Übereinkunft gekommen, dass Gentechnik in der Landwirtschaft nicht der richtige Weg für Tansania ist und nicht von den Bauern benötigt wird.

    Welchen Einfluss haben weltweite geopolitische Entwicklungen? Sind diese in Tansania zu bemerken?

    Ja, wir merken das sehr stark. Ein Beispiel ist die Finanzkrise seit 2008. Diese hat dazu geführt, dass die sogenannten Investoren aus dem globalen Norden in den globalen Süden gekommen sind, um nach Land Ausschau zu halten. Sie haben dann viel Land aufgekauft, um dieses für den Anbau von Biokraftstoffen zu verwenden. Gleichzeitig sind auf legislativer und struktureller Ebene die nötigen Strukturen dazu geschaffen worden. Auch den neuerlichen Ukraine-Krieg merken wir stark. Die Großmächte schauen nun, dass sie den Weizen aus Afrika herbekommen. Deshalb haben in Afrika viele Projekte für den Weizenanbau begonnen – allerdings geschieht der Anbau nur für den Export in den globalen Norden. Für den Weizenanbau muss man allerdings Düngemittel kaufen, beziehungsweise muss die Regierung Subventionen ausgeben. Das Geld dafür holt sie sich in Form von Krediten von Weltbank, IMF, African Development Bank.

    Und wer wird für diesen Kredit aufkommen? Letztendlich sind wir das. Auch die Auswirkungen des Konflikts zwischen den USA und China sind in Afrika spürbar. Wir können den globalen Machtverschiebungen nicht entfliehen. Und gleichzeitig können wir uns diesen auch schwer widersetzen.

    Welche internationalen Beziehungen pflegt MVIWATA, und sehen Sie irgendwelche Fortschritte?

    MVIWATA war Vorreiter bei der Bildung regionaler Organisationen in Afrika. Zum Beispiel ist der Sitz des Eastern and Southern Africa Small Scale Farmers Forum (ESAFF) auch in Morogoro, unser Hauptsitz. Wir pflegen bilaterale Beziehungen nicht nur zu anderen Bauernvereinigungen, sondern zu progressiven Bewegungen allgemein. Es ist wichtig, dass wir Gemeinsamkeiten finden und dann in diesen Bereichen zusammenarbeiten, um unsere Kräfte zu bündeln, nur dadurch können wir mehr erreichen. Und wir haben auch schon etwas erreicht. Ein großer Meilenstein war die besagte UN-Deklaration. Gleichzeitig geht der Kampf weiter, denn wir haben noch nicht alles erreicht, und das feuert uns an.

    Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf Bauern und Landwirtschaft in Tansania?

    Er wirkt auf zwei Arten. Da ist zum einen die technische Seite, also die Zunahme von Schädlingen, wodurch wir mehr Pestizide und weitere Chemikalien einsetzen müssen. Es gibt verlängerte Trockenperioden, und wenn es regnet, dann sind die Regenfälle häufig stärker als in der Vergangenheit. Auf der anderen Seite gibt es die politische Seite, die die eigentlich größere Herausforderung darstellt. So wird beispielsweise gesagt, wegen des Klimawandels müsse man auf gentechnisch veränderte Samen zurückgreifen. Diese seien widerstandsfähiger und besser an die neuen Witterungsbedingungen angepasst. Das ist aber ein Problem, weil wir damit nicht die eigentlichen Ursachen des Klimawandels angehen. Wir bei MVIWATA sind davon überzeugt, dass der Klimawandel kein neues Phänomen ist. Was aber passiert, ist, dass dieser durch Menschenhand verstärkt wird.

    Hier zeigt sich auch, dass die Klassenfrage eine Rolle spielt. Denn es sind nicht alle Menschen, sondern nur sehr wenige, die davon profitieren. So hat zum Beispiel das Militär einen großen Einfluss, insbesondere die US-geführten Militäraktionen tragen sehr stark zu den weltweiten klimaschädlichen Emissionen bei. Auch der Agrobusinesssektor ist nicht unbeteiligt, er gehört zu den drei größten Umweltverschmutzern. So sind es wenige multinationale Unternehmen, die überall auf der Welt mit größeren Entfernungen produzieren.

    Landnahme ist ein weiteres Problem, das mit der kulturellen Aneignung verknüpft ist. So zum Beispiel das »Carbon farming«, das bedeutet, dass Kapitaleigner nach Afrika kommen und dort riesige Flächen von Wäldern oder Flächen zur Bepflanzung mit Bäumen aufkaufen, um so den persönlichen ökologischen Fußabdruck auszugleichen. Gleichzeitig werden aber den Menschen vor Ort jegliche Rechte zur Nutzung der Wälder und Flächen verboten, wie zum Beispiel das Holzsuchen oder Pilzesammeln. In Westafrika wurde bereits eine Fläche so groß wie das gesamte Vereinigte Königreich aufgekauft.

    Der Kampf für soziale Rechte und der Kampf gegen den Klimawandel werden oft als unvereinbar angesehen. Stimmt das Ihrer Meinung nach?

    Ich denke nicht, denn man kann die sozialen Aspekte nicht von Klimagerechtigkeit trennen. Das wird aus meinem vorherigen Beispiel ersichtlich, wenn man also Klimaschutz betreiben will, Menschen dabei aber das Recht abspricht, die Wälder zu benutzen oder selbst zu entscheiden, was sie wollen. Mittlerweile werden im Zusammenhang mit dem Klimawandel häufig Begriffe wie Klimafonds oder Klimageld verwendet, die den monetären Effekt zeigen. Aber der Kampf für mehr Klimagerechtigkeit ist auch ein Kampf für soziale Rechte.

  • 29.12.2023 19:30 Uhr

    Abschied vom Antimilitarismus?

    Über die Schwierigkeiten des Zeitungsmachens in Kriegszeiten
    Dietmar Koschmieder
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    In Europa ist Krieg, und Deutschland ist Kriegspartei. Auch deshalb hat dieses Land 2023 so viele Waffen produziert und exportiert wie nie zuvor seit 1945. Und deshalb will der deutsche Kriegsminister, dass nicht nur die Bundeswehr, sondern ganz Deutschland wieder kriegstüchtig werde und sich das Land weiter für Rüstungsexporte öffne. Der dafür benötigte Bewusstseinswandel brauche Zeit, sei aber schon im Gange. Denn die Menschen merken, dass Krieg sei in Europa, erklärt der beliebte Sozialdemokrat den Fernsehzuschauern (»Tagesschau«, 12.11.2023). Was er nicht sagt: Viel mehr Geld für Kanonen und Kriegsfähigkeit bedeutet auch viel weniger Geld für Butter und Soziales. Und der beschleunigte Abbau demokratischer Rechte: Der gewünschte Bewusstseinswandel wird nur dann erfolgreich herbeigeführt werden können, wenn antimilitaristische Vorstellungen systematisch aus den wichtigsten Medien ferngehalten werden und Widerstand gegen Kriegstreiberei, ja schon die Entlarvung der damit verbundenen Desinformation unter Generalverdacht stehen. Schwierige Zeiten für eine Tageszeitung wie die junge Welt, die seit ihrer Gründung konsequent dafür eintritt, dass von deutschem Boden keine Kriege ausgehen.

    Wo bleibt die Aufklärung?

    Gerade in solchen Zeiten, in denen aufklärende Medien (und das müssen nicht nur linke sein) dringend benötigt werden, wird die Pressevielfalt systematisch demontiert. Kritischer bürgerlicher Journalismus findet wegen immer schlechterer personeller Ausstattung in den Redaktionen und durch die Verengung des genehmen Meinungskorridors kaum mehr statt. Linke Medien nehmen Abstand von einer klaren Antikriegshaltung, ehemals solidarische internationalistische Haltung wird immer mehr auf europäische oder nationale Befindlichkeiten reduziert. Damit machen sie sich überflüssig. Auf den dadurch bedingten Verfall ihrer verkauften Auflage (und die damit verbundenen Mindereinnahmen) reagieren sie mit der Notlösung, die gedruckte tägliche Ausgabe perspektivisch abzuschaffen (beschleunigt wird diese Haltung durch die enormen Kostenentwicklungen bei Druck und Vertrieb der Printausgaben). Das wird besonders deutlich, wenn man sich anschaut, wie sich der Verkauf von gedruckten Zeitungen in den letzten zehn Jahren von Montag bis Freitag bei der Taz und beim ND entwickelt haben: Der Kioskverkauf ist um etwa zwei Drittel eingebrochen (mit dem Ergebnis, dass das ND von Montag bis Freitag mittlerweile nicht mehr am Kiosk erhältlich ist). Der Verkauf von Printvollabos hat sich im selben Zeitraum bei beiden Zeitungen etwa halbiert. Die Taz konnte zwar im Vergleichszeitraum ihre Onlineabos verdreifachen, bleibt aber im Gesamtverkauf trotzdem etwa ein Viertel unter dem Wert von vor zehn Jahren (in diesem Vergleich bleiben die Samstagsverkäufe unberücksichtigt).

    Friedenspropaganda verboten

    Dieser Verfall ist aber nicht nur durch die Inhalte bedingt, sondern auch durch das von den Verlagen seit Jahren vernachlässigte Printsegment mit der klaren Orientierung, dieses überflüssig zu machen. Dass es auch anders geht, beweist die junge Welt. Der Einzelverkauf konnte im Vergleichszeitraum stabilgehalten werden (von der jW werden bundesweit mittlerweile deutlich mehr Exemplare am Kiosk gekauft als von der Taz), der Print­abobestand leicht entwickelt und der Onlineabobestand um 50 Prozent gesteigert werden.

    Diese positive Entwicklung ist zwar noch nicht ausreichend, und trotzdem ruft sie den Inlandsgeheimdienst auf den Plan: Die junge Welt sei das einflussreichste und auflagenstärkste Medium im konsequent linken Bereich, sei wirkmächtig, und deshalb müsse ihr der Nährboden entzogen werden, argumentiert der Verfassungsschutz. Wie aber kann sich die junge Welt auf dem komplizierten Markt der Tageszeitungen halten, wenn man sie als Wettbewerber ausgrenzt? Wenn man sie, gerade weil sie eine andere Position einnimmt, mit Werbeverboten belegt (erinnert sei an das Verbot eines jW-Werbespots mit der Begründung, es handele sich dabei um Friedenspropaganda)? Wenn man sie zwingt, viel zuviel Zeit und Ressourcen in aufwendige Prozesse zu stecken, statt auch diese für das Bekanntmachen der Zeitung zu nutzen?

    Journalismus kostet

    Hinzu kommt: Auch die junge Welt ist von den allgemeinen Branchenentwicklungen betroffen: Allein für Transport und Zustellung der gedruckten Zeitung muss der Verlag 2024 mehr als 130.000 Euro zusätzlich aufwenden. Unsere Überlebensstrategie bleibt das Einfache, das schwer zu machen ist: Wir ringen weiter darum, dass die junge Welt in digitaler wie gedruckter Form erhältlich und bezahlbar bleibt. Wir kämpfen weiter darum, dass das journalistische Angebot dieser Zeitung bekannter wird und immer mehr Menschen bereit sind, sich an den enormen Kosten mit einem Abonnement zu beteiligen. Das ist auch der Preis dafür, dass diese Zeitung nicht von Konzernen, Parteien oder Kirchen finanziert wird.

    Das kann funktionieren, denn die junge Welt hat eine singuläre Stellung auf dem Medienmarkt, auch das stellt der Verfassungsschutz fest (und liegt wenigstens da mal richtig). Denn ihre Inhalte werden in der Form und mit diesem Blickwinkel nirgends sonst zur Verfügung gestellt: Die konsequente Haltung gegen Krieg, gegen den Abbau demokratischer und sozialer Rechte, der Blick über den deutschen und europäischen Tellerrand hinaus für internationale Solidarität machen diese Zeitung für jeden, der sie kennen- und schätzen gelernt hat, unverzichtbar. Aber um diese Zeitung auch weiterhin machen zu können, muss ihre materielle Basis im kommenden Jahr deutlich gestärkt werden. Neben Spenden und Anteilen für die jW-Genossenschaft sind Print- und Onlineabonnements die wichtigste Grundlage für eine stabile Perspektive.

    Kollektive Leistung

    Aber nur, wer das journalistische Angebot der jW kennt und schätzt, ist zu einem entsprechenden Engagement bereit. Deshalb bleibt unser wichtigstes Ziel für das Jahr 2024, über möglichst viele Probeabos, vor allem aber über möglichst viele Print- und Onlineabos Wirkmächtigkeit und Reichweite der Zeitung deutlich zu erhöhen. Ein Höhepunkt wird im kommenden Jahr die große jW-Verteilaktion rund um den 1. Mai sein, über die viele Menschen die junge Welt neu entdecken sollen. Ob wir den notwendigen Schwung entwickeln können, wird sich nicht zuletzt daran zeigen, wie erfolgreich wir die kommende Rosa-Luxemburg-Konferenz über die Bühne bringen. All das kann unter den genannten schwierigen Bedingungen nur als kollektive Leistung gelingen, also im Zusammenwirken von Redaktion, Verlag, Genossenschaft mit ihren Leserinnen und Leser. Dabei wünschen wir Ihnen und uns den größtmöglichen Erfolg. Das wäre nicht zuletzt auch ein sehr wichtiger Beitrag dazu, den von Pistorius gewünschten Bewusstseinswandel zu verhindern und dieses Land endlich friedenstüchtig zu machen.

  • 22.12.2023 19:30 Uhr

    Frieden muss erkämpft werden

    Manifestation für einen gerechten Frieden in Nahost auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2024
    RLK-Vorbereitungskollektiv
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    Wenn die Zeiten kriegerisch werden, dann spaltet sich die Linke – diese Erfahrung haben antimilitaristische Kräfte seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder machen müssen. Bestätigt hat sich dies 1999, als SPD und Grüne zum Angriff auf Jugoslawien bliesen. Gezeigt hat es sich erneut im Februar, als die Partei Die Linke die einzige größere Friedenskundgebung dieses Jahres für einen Waffenstillstand in der Ukraine mit rund 50.000 Teilnehmern in Berlin nicht mittragen wollte. Und auch jetzt, während Israel mit grauenhaften Kampfeinsätzen gegen die Bevölkerung des belagerten und abgeriegelten Gazastreifens vorgeht, wenn von links eine deutliche Antwort auf die angekündigte »Zeitenwende« und auf die neue »Kriegstüchtigkeit« der BRD kommen müsste, ist viel zuwenig zu hören.

    Auf der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2024 im Berliner Tempodrom wollen wir deshalb ein Zeichen setzen: mit einer Manifestation für einen gerechten Frieden in Nahost. Denn klar ist auch: Das Säbelrasseln und Hochrüsten kann nur gestoppt werden, wenn Linke, Pazifisten und Internationalisten gemeinsam mit Gewerkschaftern und Humanisten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagern ihre Stimme erheben. Dabei ist das furchtbare Gemetzel im Nahen Osten nur aktuellster Anlass, denn alte und neue kriegerische Konflikte gibt es mehr als genug auf dieser Erde. Die Gefahr, dass sie sich zu einem neuen Weltkrieg auswachsen könnten, ist so groß wie nie zuvor.

    Gemeinsam mit Jeremy Corbyn, dem ehemaligen Vorsitzenden der Labour Party aus Großbritannien, der deutsch-palästinensischen Künstlerin und Autorin Faten El-Dabbas und Wieland Hoban, dem Vorsitzenden der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, laden wir dazu alle Besucherinnen und Besucher der Rosa-Luxemburg-Konferenz ein, ein starkes Signal für den Frieden auszusenden: Bringt Transparente der Friedensbewegung mit, um deren Vielfalt deutlich zu machen! Das können Spruchbänder und Plakate sein, die sich gegen Militarisierung und Bundeswehreinsätze im Ausland richten; gegen das erbarmungslose Vorgehen der israelischen Streitkräfte in Gaza; gegen die völkerrechtswidrige Blockade Kubas durch den US-Imperialismus. Gegen Truppenübungsplätze und Bombergeschwader. Gegen die NATO und die Weltkriegsgefahr. Je bunter und vielfältiger, desto besser. Gemeinsam mit vielen anderen wollen wir zeigen, dass Gegenwehr möglich ist.

    Wer sich angesprochen fühlt, vielleicht noch Transparente von der letzten Demo im Keller hat oder gar etwas Spezielles für diesen Anlass anfertigen und auf der Konferenz zeigen möchte, kann das unkompliziert beim jW-Aktionsbüro anmelden (aktionsbuero@jungewelt.de oder 030-536355-10). Vielleicht können Sie gleich ein Foto des betreffenden Materials mitsenden, damit wir die Manifestation vorab ein wenig koordinieren können. Und damit die Transpis und Plakate alle ihren Platz auf der Bühne finden, sollten sie zu Beginn der Konferenz an einer entsprechend gekennzeichneten Stelle am Einlass abgegeben werden – wir teilen sie dann später zur Manifestation wieder aus.

    Setzen wir gemeinsam mit Jeremy Corbyn, Faten El-Dabbas, Wieland Hoban und dem Singer-Songwriter Calum Baird ein Zeichen: für Frieden im Nahen Osten und weltweit, gegen Krieg und Militarismus. Eine vereinte Friedensbewegung kann den Wahnsinn der Kriegstreiberei stoppen!

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