Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 18.09.2023, Seite 11 / Feuilleton
50 Jahre Putsch in Chile

Die Mahnung der 5.000

Viva Camarada Jara: Ein Konzertabend in Berlin zum 50. Todestag von Víctor Jara
Von Norman Philippen
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»Nichts ist vergessen und niemand«: Abschluss des Jara-Gedenkkonzertes am Sonnabend im Kino Babylon

»Was bleibet aber, stiften die Dichter«, meinte Hölderlin. Für diese These spricht, dass taggenau 50 Jahre nach der bestialischen Hinrichtung des chilenischen Liedermachers Víctor Jara 500 Leute ins Berliner Kino Babylon kamen und bewiesen, dass Faschisten unliebsamen Sängern zwar die Zunge herausreißen, aber nicht damit rechnen können, so auch deren Lieder verklingen zu lassen. So sehr die Ermordung Jaras vor einem Halbjahrhundert internationale Empörung erzeugte, die den Widerstand gegen die Pinochet-Schergen befeuerte, so sehr entzücken des Unvergessenen lebendige Texte und Melodien noch heute sein weltweites Publikum.

Nachdem jW-Geschäftsführer Dietmar Koschmieder Hölderlins Prophezeiung mit Franz Josef Degenhardt zum Motto des Abends »Nichts ist vergessen und niemand« einleitend erweitert und Jeremy Corbyn seinen Videogruß mit der kämpferischen Botschaft »the working class is back« geschlossen hatte, wurde jedenfalls noch fast vier weitere Stunden ausgiebig applaudiert. Den Applaus wert waren zunächst und während des Abends wiederholt die chilenische Sängerin Aruma Itzamaray und der Berliner Liedermacher und Theatermusiker Tobias Thiele als Duo Yarawi. Da Thiele nicht nur des Genossen Jaras Texte so fein vorzutragen weiß wie er seine Duettpartnerin auf der Gitarre und dem Klavier begleitete, sondern auch noch super Spanisch spricht, war er als Moderator und Übersetzer bestens besetzt. Schotten versteht er auch so gut, dass selbst der Teil des Publikums, dem es anders ging, alles mitbekam, was der Singer-Songwriter Calum Baird auf der Bühne sagte, wenn er nicht zur Gitarre sang. Dass an Schlaf in diesen friedlosen Zeiten manchmal kaum zu denken ist, besang er im Titel »4 a.m.«. Mit Brecht beschwor er die Unabdingbarkeit des Überlebensmittels Kunst und setzte auf und erzeugte »beauty in the worst of times«, in der »The ever willing soldier« leider immer noch zu selten desertiert. Nach den fünf Liedern Bairds folgten sieben des populären argentinisch-deutschen Musikers Pablo Miró, der schon als Elfjähriger von Jara geprägt wurde, dessen Lieder »wunderbare Antibiotika gegen jeden Blödsinn, den man mit Liedern machen kann« seien, und den er eine herausragende »ethische Figur des Liedermachens« nannte. Es habe eine erfreulich »ironische Seite«, dass heute noch so viele »mehr oder weniger Empörte« zu Víctor Jaras Gedenken zusammenfinden. Auch Miró sang teils Songs von Jara (so »Manifiesto«), teils eigene Kompositionen wie das Julian Assange gewidmete Lied »Für Julian«. Aufgrund anhaltenden Applauses folgte als Zugabe noch »Was wir sind«.

Am Klavier begleitete Thiele dann Aruma Itzamaray für einen Song, rezitierte Jaras »Der Pflug« (»El Arado«) und übersetze sodann die Ansagen Yaima Orozcos. Die kubanische, traditionelle musikalische Genres der Insel mit zahlreichen weiteren Rhythmen der Welt fusionierende Komponistin, Sängerin und Gitarristin wusste das Publikum mit ihrer hellen Stimme und Ausstrahlung wohl zu bezaubern und kam um eine Zugabe ebenfalls nicht herum.

Jaras letzte Zeilen, verfasst im heute nach ihm benannten Estadio Chile in Santiago de Chile, sind den 5.000 im Stadion Gefangenen gewidmet – und gingen, am Sonnabend vorgetragen, den 500 im Saal direkt in die Herzen. Schließlich sorgte der Liedermacher und Dichter Nicolás Rodrigo Miquea für starke Emotionen. Das gelang ihm, dem seine Musik politischer Aktivismus ist, durch drastische Sprachbilder wie dem »Tsunami aus Knochen« im Mittelmeer so gut wie durch seine leidenschaftliche Performance.

Bei den beiden letzten, dezidiert zum Mitsingen bestimmten Lieder sang das Publikum im großen Saal des Babylon zum Abschluss nach 23 Uhr beherzt vielstimmig mit. Wer »El Pueblo Unido« nicht auswendig konnte oder lieber Hannes Waders übersetzte Version des Liedes singen wollte, griff zu den ausgelegten Blättern und brachte sich schwarz auf weiß vor Augen, dass wer vereint ist, nur schwer zu schlagen ist.

Auch dieses – abermals ausverkaufte – Highlight der jW-Veranstaltungsreihe zum faschistischen Putsch in Chile von 1973 zeigt dessen so große wie leider auch hochaktuelle Bedeutung als historisches Ereignis mit bedrohlich permanentem Wiederholungspotential auf. So sollte verwundern, würde am kommend Sonnabend zur Finissage »Das Wandbild einer chilenischen Brigade und seine Entstehung« nicht die jW-Maigalerie wieder rappelvoll sein.

Hinweis: Im obigen Beitrag hieß es ursprünglich irrtümlicherweise, die Veranstaltung sei per Livestream übertragen worden. Das stimmt nicht. Allerdings erwägt junge Welt, das Gedenkkonzert als Audio-CD zu veröffentlichen. (jW)

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