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Aktuell

  • 11.01.2023 19:30 Uhr

    Kugeln treffen keine Lieder

    Katalysator des Widerstands: Die Rosa-Luxemburg-Konferenz erinnert an den chilenischen Sänger und Revolutionär Víctor Jara
    Volker Hermsdorf
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    Schon sein Name galt als gefährlich: Víctor Jara singt bei Protesten gegen den Vietnamkrieg, Helsinki 1969

    Als General Augusto Pinochet mit faschistischen Militärs und Unterstützung der USA im September 1973 in Chile gegen die linke Regierung putschte, verfolgten die neuen Machthaber neben anderen Oppositionellen vor allem Künstler und Intellektuelle. Sie verbrannten Bücher und Bilder, Plakate und Fotos und versuchten alles zu beseitigen, was an Politik und Ziele des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende erinnern konnte. Wer im Verdacht stand, ein Linker zu sein, wurde verhaftet, gefoltert, ermordet. Auch viele Künstler verloren so ihr Leben.

    Die Putschisten agierten in der Art aller Diktaturen, die künstlerischen Widerstand gegen Gewalt, Unterdrückung und Krieg verhindern und den Bestand einer humanistischen und antimilitaristischen Kultur vernichten wollen. »Dichtung ist stets ein Akt des Friedens. Der Dichter wird aus dem Frieden geboren wie das Brot aus dem Mehl. Brandstifter, Krieger, Wölfe suchen den Dichter, um ihn zu verbrennen, zu morden, zu zerreißen. Ein Messerheld ließ Puschkin tödlich verletzt zwischen den Bäumen eines düsteren Parks zurück. Die Pulverpferde galoppierten über Petöfis leblosen Leib. Im Kampf gegen den Krieg starb Byron in Griechenland. Die spanischen Faschisten begannen den Krieg in Spanien mit dem Mord an ihrem besten Dichter«, schrieb Chiles berühmtester Poet Pablo Neruda in seinen Memoiren »Ich bekenne, ich habe gelebt«. Zwölf Tage nach dem Putsch starb auch Neruda – er erlag vermutlich den Folgen eines Giftanschlags.

    Mit Bücherverbrennungen und dem Verbot selbst klassischer Literatur und Musik versuchten nicht nur die deutschen Faschisten, ihre Herrschaft zu sichern. Auch das extrem rechte, nationalistische Militärregime in Griechenland verbot nach dem Putsch vom April 1967 die Werke von Sophokles, Aristophanes, Euripides, Tolstoi, Dostojewski und die Musik von Mikis Theodorakis. Sogar der Gebrauch des Buchstaben »Z« war während der Diktatur von 1967 bis 1974 bei Strafe untersagt, denn in Griechisch bedeutet »Ζεί« (gesprochen Zi) »er lebt«. Der aus Angst resultierende Hass und das Verbot von Werken aus dem Kulturschatz vermeintlicher Gegner ist eine Reaktion aggressiver, friedensfeindlicher Systeme. Denn obwohl Millionen Bürger der Sowjetunion nach dem Überfall der deutschen Faschisten von Angehörigen der Wehrmacht, Gestapo- und SS-Schergen ermordet wurden, kam den sowjetischen Regierungen nie in den Sinn, Werke von Beethoven, Schubert, Goethe oder Schiller zu ächten.

    Die Unterdrückung identitätsstiftender Kultur, die zu einem Katalysator für den Widerstand werden könnte, geht in antikommunistischen Regimen oft mit der Ermordung von Künstlern einher. Zu den bekanntesten Opfern der Diktatur in Chile gehört der Volkssänger Víctor Jara. Nach dem Putsch vom 11. September 1973 war der damals beliebteste Musiker des Landes als einer der ersten verhaftet, gefoltert und – zwölf Tage vor seinem 41. Geburtstag – im Stadion von Santiago mit 44 Kugeln getötet worden. Sein Verbrechen war die Wirkung seiner Musik und die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Der Sohn einfacher Landarbeiter gilt als einer der Begründer des »Nueva Canción«, des neuen, politischen Liedes in Lateinamerika. Jara sang vom Leben der armen Menschen, der Arbeiter, Fischer und Bauern. Seine Texte handelten von Emanzipation, Gleichheit, Auflehnung und Befreiung. Als Leiter der Künstlerabteilung der Kommunistischen Partei unterstützte er die Volksfrontregierung des Wahlbündnisses Unidad Popular des Präsidenten Salvador Allende.

    In Lateinamerika erhielt der bei den Rechten verhasste Troubadour den Beinamen »Che Guevara der Gitarre«. Angesichts der Folter im Stadion schrieb er sein letztes Gedicht »Somos cinco mil« (Wir sind fünftausend). »Sie führen ihre Pläne mit feiger Präzision aus, ihnen ist alles egal. Für sie ist Blut wie ein Orden, das Blutbad ist für sie ein heroischer Akt«, beschreibt er seine Peiniger, die zumeist von US-Folterspezialisten ausgebildet worden waren. Den Torturen und dem Schmerz trotzend, notierte er darin aber auch: »Unsere Faust wird wieder kämpfen!« Damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte, brachen sie ihm die Finger. Kameraden, die das Stadion überlebt hatten, berichteten später, dass Víctor Jara trotzdem seine Stimme erhob und das Lied der Unidad Popular anstimmte – »Venceremos« (Wir werden siegen). Kurz darauf wurde er zusammengeschlagen und erschossen.

    Nach 1973 war es in Chile jahrelang lebensgefährlich, den Namen Jaras öffentlich auch bloß zu erwähnen. Doch der kulturelle Widerstand gegen das Pinochet-Regime ließ sich nicht unterdrücken. Begonnen hatte er bereits wenige Tage nach dem Putsch, als Nerudas Tod bekannt wurde. »Trotz eines Versammlungsverbots zogen Tausende durch die Straßen Santiagos und sangen, was niemand mehr hören sollte: ›Die Internationale‹. Und auch der Ruf der Unidad Popular: ›Das vereinte Volk wird nie besiegt!‹ ertönte«, heißt es in dem für einen Oscar nominierten Spielfilm »No!« des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín von 2012.

    Zum 50. Jahrestag des Putsches gegen die Allende-Regierung in Chile werden dessen Hintergründe, Hintermänner und Nutznießer auf der XXVIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz thematisiert werden. Dabei geht es auch um die Rolle von Kultur und Kunst im Engagement für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Zu Ehren von Víctor Jara, der für diesen Kampf steht, soll im Herbst in Berlin ein Gedenkkonzert stattfinden. Zwei der Beteiligten, die Liedermacher Pablo Miró und Nicolás Miquea, werden das Projekt auf der ­Rosa-Luxemburg-Konferenz vorstellen – natürlich auch mit Liedern von und über Víctor Jara.

  • 11.01.2023 19:30 Uhr

    Warum wehren sich die Menschen nicht?

    Die allgemeine Lage ist angesichts von Krieg und Krise wenig erbaulich. Doch die Proteste bleiben verhalten
    Thilo Nicklas
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    Den Abschluss der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz bildet traditionell die Podiumsdiskussion. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Kämpfen in der Krise. Der Krieg und die soziale Frage«. Wie in den Jahren zuvor haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt zum nämlichen Thema vorab vorzustellen. In der Ausgabe von Mittwoch sind die Positionen von Melina Deymann und Christin Bernhold erschienen. (jW)

    Russlands Krieg gegen die Ukraine ist zu verurteilen. Zur Wahrheit gehört aber, dass für diesen Krieg auch die europäische Politik und die NATO in der Verantwortung stehen. Die Staaten der Europäischen Union, besonders Frankreich und Deutschland, haben es von 2014 bis zum Februar 2022 nicht geschafft, gemeinsam mit Russland und der Ukraine eine friedliche Lösung für die Gebiete Lugansk und Donezk zu finden. War der letzte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow naiv, als er annahm, für das Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, reiche eine mündliche Zusage? Wahrscheinlich hätte er auf einer schriftlichen Fixierung bestehen sollen.

    Seit 1999 traten immer mehr Staaten des früheren Warschauer Vertrags der NATO bei. Für Russland am schwersten zu verdauen: der Beitritt der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 2004. Hinzu kommt die Einflussnahme auf die politische Ausrichtung der Ukraine seit 2014. Das Land strebte immer weiter nach rechts. Der faschistische Überfall auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, bei dem 40 Menschen ums Leben kamen, wurde bis heute nicht aufgeklärt. Das inzwischen in die ukrainische Nationalgarde eingegliederte Asow-Regiment trägt faschistische Symbole und unterhält Trainingscamps für Neonazis aus ganz Europa.

    Gegenwärtig erschüttern rund 25 Kriege und Konflikte die Welt, hierzulande aber ist einzig vom Krieg in der Ukraine die Rede. Im Jemen sterben seit Jahren zu Tausenden Männer, Frauen und Kinder an den Folgen des Krieges, den Saudi-Arabien – mit Waffen aus den USA und Deutschland – gegen das Land führt; und keiner spricht darüber. Der NATO-Staat Türkei bombardiert Gebiete in Syrien und im Irak und erobert gegen die kurdische Bevölkerung einen 30 Kilometer breiten »Sicherheitsstreifen«. Israel treibt die Bebauung des Westjordanlands immer weiter voran, kaum einer auf internationaler Ebene nimmt daran Anstoß. Libyen, wenngleich autoritär regiert, verfügte über ein ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem – bis die NATO mit Bomben und Raketen angriff. Auch in Jugoslawien zerstörte die NATO gezielt die Infrastruktur des Landes. Als böser Aggressor tritt aber bitteschön nur »der Russe« auf. Das macht die Kritik der Waffen nötig. Am 1. Mai 2022 präsentierten wir ein Transparent mit der Aufschrift »Stahl für Brücken statt für Waffen«, das sehr gut ankam.

    Die Kriege des Westens und der unersättliche Hunger nach Rohstoffen zwingen immer mehr Menschen zur Flucht. »Europa« aber schottet sich ab, schafft Auffanglager in Syrien und Libyen, in der Türkei und in Griechenland. Wir lassen die Geflüchteten im Mittelmeer ertrinken oder in total überfüllten Lagern dahinvegetieren. Schaffen sie es doch nach Deutschland, steckt man sie in Lager und verweigert ihnen auf zwei Jahre hin die Möglichkeit, einer Lohnarbeit nachzugehen. Kommen aber die Geflüchteten aus der Ukraine, nicht selten sogar mit Bussen abgeholt, erfolgt deren Integration ins Sozialsystem problemlos. Ist das vom Staat praktizierter Rassismus? Sollte nicht jeder Flüchtling gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens gleich behandelt werden?

    Existentielle Krise

    Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Wirtschaftskrieg der EU gegen Russland in der Folge und die Sprengung der Ostseepipelines haben viele Menschen in eine existentielle Krise gebracht. Seit Jahren beruht der deutsche Wirtschaftserfolg auf dem Import von günstigem Gas und Öl aus Russland. Die Bundesrepublik hatte sich tatsächlich in diese Abhängigkeit begeben. Doch was ist vom Sachverstand der regierenden Politiker zu halten, wenn der Bezug dieser preiswerten Rohstoffe von heute auf morgen für beendet erklärt wird? Wir wollen fort von den fossilen Brennstoffen; gut so. Doch die »Energiewende« kommt nicht schnell genug voran, in aller Welt bettelt die Bundesregierung nach Gas und Öl – bei Staaten wohlgemerkt, in deren Abhängigkeit man sich besser ebenfalls nicht begeben sollte. Nunmehr werden Gas und Öl mit Schiffen über die Weltmeere nach Deutschland gebracht, Atomkraftwerke laufen länger, Kohlekraftwerke werden wieder hochgefahren. Ökologisch sinnvoll? Weil in Frankreich von rund 50 Atomkraftwerken nur etwa die Hälfte in Betrieb ist, wird hierzulande Gas zur Stromproduktion eingesetzt. Die Industrie schränkt ihre Produktion ein, weil die Preise für Strom und Gas dermaßen gestiegen sind, dass sich der Weiterbetrieb für manche Firmen nicht mehr lohnt.

    Etliche Menschen wissen nicht, wie sie ihre Strom- und Gasrechnungen bezahlen sollen – und sind zudem von Kurzarbeit oder Kündigung bedroht. In anderen Ländern der EU gab es rasch einen Gas- und Strompreisdeckel; in Deutschland dauerte es bis zum Januar 2023 für die Industrie beziehungsweise dauert es bis zum März 2023 für die Bevölkerung. Die hohen Energiekosten lassen auch die Preise für Lebensmittel und Mieten steigen, wovon wieder einmal die ärmsten Teile der Bevölkerung am stärksten betroffen sind. Während sich die Energiekonzerne über satte Gewinne freuen, wissen viele nicht, wie sie durch diesen und die kommenden Winter kommen sollen.

    Eine Übergewinnsteuer, wie es sie in anderen Ländern schon gibt, wird von der hiesigen Regierung blockiert. Bis zu 3.000 Euro kann jede Firma ihren Mitarbeitern steuerfrei auszahlen – wenn sie denn »kann«; auch da bleiben wieder die prekär Beschäftigten auf der Strecke. Doch die Bundeswehr erhält einen Zuschuss von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung, legt sich Panzer zu, die nicht funktionieren, und erwirbt US-amerikanische Kampfflugzeuge, die Atomwaffen tragen können; sicher alles zur Erhaltung des Weltfriedens. Die Industriegewerkschaft Bauen–Agrar–Umwelt (IG BAU) bleibt derweil bei ihrem Standpunkt und lehnt das Vorhaben ab, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Aufrüstung fließen zu lassen. Was ließe sich mit diesem Geld alles anfangen? Der Ausbau von Kitas und Schulen, sozialer Wohnungsbau, der Straßen- und Brückenbau oder die Beschleunigung der ökologischen Stromgewinnung. Den Neubau von 400.000 Wohnungen pro Jahr hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt; es werden derer wohl nur 100.000 in diesem Jahr. Ist für mehr kein Geld da? Die Zahl der Reichen und Superreichen in Deutschland steigt seit Jahren, aber eine Reichensteuer oder eine Vermögensabgabe gibt es nicht. Dafür sorgt die Regierung – vor allem eine, an der die FDP beteiligt ist.

    Zurückhaltende Gewerkschaften

    Die Inflationsrate liegt bei rund zehn Prozent, die Schlangen an den Tafeln werden immer länger, viele fürchten Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit. Und die Gewerkschaften? Halten still. In Köln waren IG BAU und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zusammen mit anderen überwiegend linken Gruppen – unter anderem Die Linke, SDAJ, Interventionistische Linke, ATTAC, Köln gegen rechts – daran beteiligt, das Bündnis »›Genug ist genug!‹ – Die Preise müssen runter« zu gründen. Andere Gewerkschaften wollten sich daran nicht beteiligen. Die Sache wurde ihnen zu heiß, als auch die Forderung nach einer Enteignung der Energiekonzerne zur Sprache kam. Zur ersten Kundgebungsdemonstration zusammen mit dem Friedensforum kamen etwa 500 Teilnehmer. Danach wurden es immer weniger. Auch eine vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Köln organisierte Kundgebung brachte nicht mehr als rund 250 Menschen auf die Straße. Größer war eine Demonstration in Düsseldorf, die nicht vom Dachverband DGB, sondern von den Einzelgewerkschaften Nahrung–Genuss–Gaststätten (NGG), Verdi und IG BAU organisiert wurde. Darf der DGB nicht zu sozialen Protesten aufrufen, wenn die SPD den Kanzler stellt? Leider ist Die Linke zu schwach, um Massen auf die Straße zu bringen. Der Streit um Sahra Wagenknecht zerreißt die Partei. AfD und andere rechte Gruppierungen schaffen es erfreulicherweise ebensowenig, in unserer Region erfolgreich zu Protesten aufzurufen, meist kommen weniger als 100 Teilnehmer zu deren Kundgebungen.

    Bleibt die Frage: Warum bleibt angesichts der miserablen Lage der Protest so verhalten? Das wachsende Elend ist sichtbar. Warum wehren sich die Menschen dann nicht?

  • 13.01.2023 11:24 Uhr

    Auf Kriegskurs

    Immer mehr, immer schwerere Waffen. Die Bundesrepublik ist in der Ukraine de facto Kriegspartei und führt hierzulande soziale Attacken gegen die eigene Bevölkerung
    Sevim Dagdelen
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    Neue Soldaten für künftige Kriege vereidigen? Gelöbnis im Bendlerblock, Berlin, 12. November 2022

    Hundert Jahre sind nur ein Tag. Was im Ersten Weltkrieg die Zustimmung zu den Kriegskrediten war, sind im Jahr 2023 die Rufe nach deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Die tragische Geschichte wiederholt sich als Farce. Wie im Schicksalsjahr 1914 scheint eine gelangweilte Bourgeoisie den Weltkrieg förmlich herbeizusehnen, da sich ihr kapitalistisches Projekt im Niedergang befindet. Die Hofreiters, Strack-Zimmermanns, Baerbocks und Habecks geben dieser gelangweilten Bourgeoisie ihre Stimmen; schrill von den Obertönen der Doppelmoral eingefärbt ertönt der Ruf nach Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen. Und ganz nebenbei präsentiert man sich als Vollstrecker der Profitinteressen von deutschen Rüstungsschmieden und US-Frackinggaskonzernen. Jetzt sollen wieder deutsche Panzer gen Osten rollen, um den Sieg gegen Russland zu erkämpfen. Die deutsche Öffentlichkeit soll in trügerischer Sicherheit gewiegt werden, da gebetsmühlenartig erklärt wird, dass ja keine deutschen Panzerfahrer dabei seien – und dass es keinen deutschen »Sonderweg« gebe, weil Waffen nur »in Abstimmung mit den Partnern« geliefert würden. Dabei fällt auf, dass diese »Stützen der Gesellschaft« wie Alkoholkranke auf immer mehr Alkohol, auf immer schwerere Waffen setzen müssen, da der versprochene Erfolg ausbleibt. Erst kommt der »Marder«, dann der »Leopard«, dann werden Kampfjets geliefert. Und wenn auch das nicht wirkt, dann doch noch die Bundeswehr? Was derzeit noch ausgeschlossen wird, kann schnell die militärische Erfordernis von morgen sein.

    Und da gibt es keine Grenzen: Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter etwa meint, die Ukraine müsse in die NATO aufgenommen oder mit 3.200 »Leopard«-Panzern ausgestattet werden. »Dann wird niemand sie mehr angreifen.« Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erörterte er Mitte Dezember auch, ohne China beim Namen zu nennen, folgendes Szenario: »Wenn uns ein Land seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ›Was wollt ihr eigentlich essen?‹« Ohne seltene Erden käme man ein paar Wochen aus, ohne Nahrung nicht, lautet das grüne Imperialisten-Einmaleins. China ist einer der größten Exporteure seltener Erden, die EU zweitgrößter Weizenexporteur der Welt. Oft sei es in der Geopolitik geboten, »mit dem Colt auf dem Tisch« zu verhandeln, so Hofreiter.

    In dieser Logik des Krieges versinkt man immer mehr im Sumpf der eigenen Hybris. Während drei Viertel der Bevölkerung den Eskalationskurs ablehnen und Diplomatie fordern, bringt die Ampelkoalition Deutschland auf Kriegskurs und riskiert den dritten Weltkrieg. Denn sollte die NATO mit ihrem Stellvertreterkrieg in der Ukraine tatsächlich erfolgreich sein und deutsche Panzer gen Moskau fahren, um die territoriale Integrität der Ukraine zu erzwingen, ist schwer vorstellbar, dass eine Atommacht dies nicht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern wollen wird. Mit Allgemeinplätzen wie »Angst ist ein schlechter Ratgeber« spielt die Bundesregierung Vabanque um einen Atomkrieg in Europa.

    Zuweilen stutzt man vor so viel Tollkühnheit und fragt sich nach dem Geheimnis der Bereitwilligkeit, mit der Berlin Russisch Roulette spielt. Es scheint, als sei der Quell dieser totalen Risikobereitschaft die erwartete Unterstützung der USA. Dass die indes eigene Interessen haben, scheint völlig vergessen zu werden. Es ist aber wie bei einem Hund-Herr-Verhältnis. Der Hund, wenn er an der Leine geführt wird, fühlt sich um so stärker, den Herr hinter sich wissend. »Wir können nicht verlieren, denn die USA stehen hinter uns«, so die wenig umsichtige Denke der Bundesregierung. Es ist eben diese gefährliche Illusion, dass das Risiko eines Weltkrieges dadurch kalkulierbar niedrig und vor allem beherrschbar sei.

    Aufrüstung und Wirtschaftskrieg

    Allein: Dieser Krieg wird nicht nur mit Waffen geführt, sondern auch mit ökonomischen Mitteln. Beispiellose Wirtschaftssanktionen sollen Russland niederringen. Aber statt Russland zu ruinieren, führt die Bundesregierung im Grunde einen Wirtschaftskrieg gegen große Teile der eigenen Bevölkerung. Denn während in Russland staatliche Energiekonzerne Rekordgewinne infolge der Preissteigerungen durch Angebotsverknappungen einfahren, müssen die Beschäftigten in Deutschland mit 4,7 Prozent den größten Reallohnverlust in der Geschichte der Bundesrepublik hinnehmen. Alle Brosamen der Energiehilfen können das nicht abfedern. Skrupellos verknüpft die Ampelkoalition Krieg und Sozialabbau. Und in diesem Jahr soll es so weitergehen. Weitere Reallohnverluste sind programmiert. Die kommende Rezession ist hausgemacht. Bereits jetzt stehen zwei Millionen Menschen in Deutschland bei den Tafeln für Lebensmittelspenden an, während für Aufrüstung und Wirtschaftskrieg hunderte Milliarden verausgabt werden. So führt die Ampelregierung diesen Krieg auch als soziale Attacke, die die Existenz von hunderttausenden Arbeitsplätzen in der deutschen Industrie aufs Spiel setzt und die Leute regelrecht ins Elend stürzt.

    Der Philosoph Walter Benjamin hatte einst die Einsicht formuliert: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.« Die Politik der Bundesregierung schafft diesen Ausnahmezustand. Die De-facto-Kriegsbeteiligung wird mit einer brutalen Umverteilungspolitik von unten nach oben verknüpft. Während die Beschäftigten die Zeche zahlen, stiegen 2022 die Gewinne der Öl- und Stromkonzerne mit einem Zuwachs von 113 Milliarden Euro rasant an. Und mit rund 55 Milliarden Euro zahlen die deutschen Dax-Konzerne ihren Aktionären so viel Dividende aus wie noch nie zuvor. Für dieses Jahr rechnet die Sparkassen-Tochter Deka in einer Analyse mit einer weiteren Dividendensteigerung von voraussichtlich 56,8 Milliarden Euro.

    Weltmeister der Doppelmoral

    Der brutale soziale Krieg gegen die eigene Bevölkerung verlangt selbstverständlich nach verstärkten Bemühungen moralischer Kriegseintrittsbemühungen. Dass dabei mit zweierlei Maß gemessen werden muss, ist geradezu folgerichtig. Die Bundesregierung jedenfalls ist Weltmeister der Doppelmoral, denn einer Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA im Irak oder der Türkei in Syrien verweigert sie sich beharrlich, während der Völkerrechtsbruch Russlands als Argument für einen Kriegseintritt mittels Waffenlieferungen und Wirtschaftskrieg dient.

    So wie 1914 die SPD mit dem Argument des notwendigen Sieges über den »russischen Despotismus« für die Kriegskredite stimmte, so ist mehr als einhundert Jahre später der vorgebliche Kampf gegen den russischen Imperialismus die Triebfeder für den Ruf nach Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen, auch wenn dies die Gefahr einer direkten deutschen Kriegsbeteiligung weiter erhöht. Ganz im Sinne der Burgfriedenspolitik des Ersten Weltkriegs kommt es zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung für deutsche Aufrüstung und Waffenlieferungen, für die sich selbst linke Intellektuelle einspannen lassen. So etwa der Kulturphilosoph Slavoj Zizek, der auf dem Kriegspfad der Bundesregierung wandelt – ganz im Geiste des »Manifests der 93« (»An die Kulturwelt!«) zur Rechtfertigung des deutschen Vormarschs im Ersten Weltkrieg. Als sei er ein Wiedergänger der SPD-linken Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe, die sich vom Krieg die Befreiung der Völker Europas von zaristischer Unterdrückung und vom französischen und britischen Imperialismus erhoffte, trommelt Zizek heute für den Kriegseintritt Deutschlands mittels weiterer Waffenlieferungen. Und wer sich gegen diese Waffenlieferungen erklärt, dem wird das Linkssein ganz im Sinne der nationalistischen Formierung einer Volksgemeinschaft des Krieges abgesprochen. Zizek richtet alles darauf, dass die westlichen Gesellschaften endlich ihren »Pazifismus« aufgeben, die »eigene Melancholie« ablegen und sich offensiv am Krieg beteiligen. Man könne kein Linker sein, ohne die Ukraine zu bewaffnen; eine direkte Kriegsbeteiligung wird unausgesprochen in Aussicht gestellt und emanzipatorisch verbrämt.

    Linke Erfüllungsgehilfen

    Man darf nicht verschweigen, dass diese Haltung auch bei der Partei Die Linke ihren Niederschlag gefunden hat. Führende Linke überschlagen sich mit Forderungen, Waffen zu liefern. Sie brechen offen mit dem Parteiprogramm. Das Argument, dass sich aus dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine eine völkerrechtliche Pflicht zu Waffenlieferungen ergebe, ist falsch und hanebüchen. Wer für die Lieferungen schwerer und noch schwererer Waffen von deutschen Rüstungsschmieden an die Ukraine plädiert, befeuert nicht nur die Gefahr eines direkten deutschen Kriegseintritts, sondern macht sich auch zum Erfüllungsgehilfen der Profitinteressen des militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland. Was für die Waffenlieferungen gilt, gilt für den Wirtschaftskrieg gegen Russland in noch stärkerem Maße. Offizielle Position des Parteivorstands ist es mittlerweile, sich an den einseitigen Wirtschaftssanktionen zu beteiligen – auch dies unter Bruch des eigenen Programms. Aus der Linken ist an der Spitze eine Partei der Enthaltung und des Wegduckens geworden. Mit den Mächtigen und Krisenprofiteuren will und kann man sich nicht mehr anlegen. Mit dieser Politik der Regungslosigkeit werden der AfD die Hasen in die Küche getrieben. In der Tierwelt mag das sich Totstellen als Verteidigungslist zum Teil funktionieren, in der Politik wird es gnadenlos bestraft.

    Das hat dazu geführt, dass Die Linke als Antikriegskraft ausfällt, allen schwachen Appellen nach einer Verhandlungslösung zum Trotz. Wohlweislich hatte man in der Leipziger Erklärung der Linken die Themen Waffenlieferungen und Wirtschaftskrieg ausgespart und die Wiederherstellung der völligen Souveränität der Ukraine als Ziel formuliert, die indes allen Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand zuwiderläuft.

    Dabei braucht es eine Kraft von links, die den Widerstand gegen die Propaganda für den Kriegseintritt organisiert, die sich dem Aufrüstungswahn und den Waffenlieferungen sowie einer tödlichen Doppelmoral konsequent entgegenstellt. Es braucht eine Kraft von links, die sich an Karl Liebknechts Diktum »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« erinnert, um einen direkten Kriegseintritt Deutschlands – und um einen dritten Weltkrieg – zu verhindern.

  • 10.01.2023 19:30 Uhr

    Zeit des Erwachens

    Der Dokumentarfilm »Die große Lüge« über den politischen Feldzug gegen Jeremy Corbyn ist ein Lehrstück und Kampffanal für die Linke in der Krise
    Susann Witt-Stahl
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    Einst Hoffnungsträger der Arbeiterklasse: Jeremy Corbyn (Filmstill »The Big Lie«)

    Das Triumphgeheul war ohrenbetäubend nach Jeremy Corbyns historischer Niederlage bei der Parlamentswahl 2019. »Die Bestie ist erschlagen«, jubelte Joe Glasman, ein fanatischer Zionist. Er ist Propagandist eines der »drei Bataillone«, wie der Labour-Linke Moshé Machover die Anti-Corbyn-Allianz nennt, die gesiegt hatten: »Die Israel-Lobbyisten lieferten mit Antisemitismusvorwürfen die ideologische Munition.« Die Labour-Rechte, die den Parteiapparat und die Parlamentsfraktion kontrolliert, habe von innen Sabotage betrieben. Aber das mächtigste Bataillon, so Machover weiter, sei das britische Establishment, das die geballte Feuerkraft seines Mediensturmgeschützes entfaltet hatte.

    »Corbyns Antiimperialismus, seine Ablehnung der NATO und des Einsatzes von Atomwaffen und seine Solidarität mit den Palästinensern – dieser Bruch mit dem überparteilichen Konsens in der britischen Außenpolitik hat die herrschende Klasse in helle Panik versetzt«, erklärt Andrew Murray im Gespräch mit jW, warum das Establishment der Labour-Linken ein Waterloo bereitet hat. Murray war Corbyns Berater, bis zum Sturz durch Keir Starmer 2020. Neben dem Schattenminister Christopher Williamson, Jackie Walker sowie Vertretern von Jewish Voice for Labour gehört er zu den Köpfen der Partei-Linken und ihrer Graswurzelbewegung Momentum, die das Scheitern des Projekts Corbyn in dem Dokumentarfilm »Oh, Jeremy Corbyn. Die große Lüge« (Originaltitel: »The Big Lie«) analysiert haben – am Sonntag findet in Berlin die Weltpremiere statt.

    »Ich dokumentiere seit fast 50 Jahren die Entwicklungen in der britischen Arbeiterbewegung und wollte erforschen, was geschehen ist, als ein Sozialist nahe daran war, Premierminister zu werden«, sagt Christopher Reeves vom Produktionskollektiv Platform Films. »Wir wollen der Linken auch warnend vor Augen führen, wie teuflisch weit das Establishment geht, wenn an seiner Macht gerüttelt wird«, ergänzt sein Kollege Norman Thomas.

    Zur Aufarbeitung gehört auch eine schonungslose Kritik an gravierenden Irrtümern des eigenen Lagers: Ein sehr großer Fehler sei Corbyns profillose »Brexit«-Politik gewesen, die die bereits getroffene Entscheidung in Frage stellte und letztlich ein Versuch war, die Umsetzung des EU-Austritts zu behindern, meint Murray. Verhängnisvoll sei aber auch der Glaube gewesen, dass man die falschen Antisemitismusvorwürfe loswerden könne, indem man sich entschuldigt, statt diese entschieden zurückzuweisen, betont Reeves. Corbyn habe den Verleumdern »zu sehr nachgegeben und zugelassen, dass viele seiner treuesten Anhänger geopfert wurden«, findet Graham Bash von Jewish Voice for Labour, der nach 53 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei geworfen wurde. »Und so verlangten die angreifenden Hyänen nach immer mehr rohem Fleisch«, beschreibt Moshé Machover eine fatale Konsequenz von Corbyns Appeasementpolitik. Erheblich mitverantwortlich sei die Führung von Momentum, die Jackie Walker und andere propalästinensische Linke abservierte und sich letztlich als »Trojanisches Pferd der Zionisten« erwiesen habe, meint Machover und macht damit deutlich: Die Geschichte der Zerstörung des Corbyn-Projekts ist auch eine Geschichte von Verrat, Täuschung und mangelnder Entschlossenheit.

    Dass diese Schwächen maßgeblich den Aufbau einer schlagkräftigen Massenbasis verhindert haben – die einzige Waffe der Arbeiterklasse, mit der die tollwütigen Angriffe der britischen Eliten hätten abgewehrt werden können –, ist eine bittere Erkenntnis, die alle am »Die große Lüge«-Filmprojekt Mitwirkenden teilen. Und so ist es der korrumpierten Labour-Rechten unter Starmer gelungen, die Partei im Ukraine-Krieg »vollständig auf die Seite des autoritären Imperialismus zu manövrieren und jede Form der Zusammenarbeit ihrer Abgeordneten mit der Friedensbewegung zu unterbinden«, nennt Murray eine katastrophale Folge – auch ein tadelnder Eintrag ins Klassenbuch aller Linken in Die Linke hierzulande, die noch von einer solidarischen Verständigung mit den hegemonialen und zunehmend rabiat agierenden NATO-Opportunisten in ihrer Partei träumen.

    Das Platform-Film-Kollektiv und seine Mitstreiter begreifen »Die große Lüge« vor allem als Lehrstück. »Es geht darum, die Wahrheit gegen die Macht auszusprechen«, sagt Bash. Der Film soll auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Arbeiterklasse wieder lernt, die eigenen Muskeln zu spüren. Dabei besinnt sich Reeves auf die großen Stärken des Ex-Labour-Führers und erinnert daran, dass die Corbyn-Ära auch eine Zeit des Erwachens zum Widerstand der vielen gegen die Tyrannei der wenigen war: »Auf seinen Kundgebungen rief Jeremy den Massen immer wieder zu: ›Nicht vor mir haben sie Angst, sondern vor euch‹ – er hatte recht.«

    Welturaufführung: So., 15.1., 14 Uhr, Babylon (Rosa-Luxemburg-Platz), Berlin. Tickets (12 Euro, erm. 8 Euro): 0 30/53 63 55-37, jungewelt-shop.de

  • 10.01.2023 19:30 Uhr

    »Labour wurde zum Kampfhund des Kapitalismus«

    Über die Rechtstendenzen in der ehemals stolzen Arbeiterpartei. Ein Gespräch mit Jackie Walker
    Susann Witt-Stahl
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    Immer mit dem Strom schwimmen: Labour-Chef Starmer besichtigt Militärstützpunkt, auf dem ukrainische Soldaten trainiert werden (Salisbury, 24.8.2022

    Sie sagen, Sie hätten noch nie so viel Rassismus in einer Institution erlebt wie in der Labour-Partei. Was genau heißt das?

    Es gab rassistische Beschimpfungen von Mitarbeitern gegen Mitglieder und Abgeordnete, die die Partei nötigten, Untersuchungen einzuleiten: Die Ergebnisse des Forde-Reports von 2020, der erst eineinhalb Jahre später veröffentlicht und kaum beachtet wurde, offenbarten eine Rassenhierarchie, in der Schwarze und Muslime ganz unten stehen. In einer Dokumentation von Al-Dschasira wurden zahlreiche Fälle von strukturellem Rassismus im Labour-Parteiapparat aufgedeckt. Viele hervorragende schwarze Kandidaten wurden mit lächerlichen Begründungen an der Kandidatur gehindert. Weiße hingegen, die Keir Starmer unterstützen, durften selbst dann kandidieren, wenn sie sich rassistisch geäußert hatten. Antizionistische Juden wurden zur »Umerziehung« geschickt oder aus der Partei ausgeschlossen – so auch Naomi Wimborne-Idrissi, das einzige jüdische Mitglied im Labour-Vorstand. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas jüdischen Linken passiert, ist derzeit sechsmal höher als bei anderen Mitgliedern – das ist beispiellos nicht nur für Parteien, sondern für alle modernen Organisationen.

    Die sozialchauvinistische Sozialdemokratie hat bereits vor hundert Jahren bei der Niederschlagung der Novemberrevolution in Deutschland ein enormes Aggressionspotential bewiesen.

    Ihre historische Rolle besteht darin, die Herrschaft des Kapitals zu schützen und sich dabei auf die Arbeiterbewegung zu stützen. Das Ausmaß ihrer Aggression hängt wie immer von den objektiven Bedingungen ab. In Zeiten relativer Stabilität kann die Sozialdemokratie im begrenzten Maß Reformen erreichen, aber bei akuten Klassenkonflikten wird sie – wie 1918 und heute unter Keir Starmer – zum Kampfhund des Kapitalismus.

    Was war der größte Fehler, den Corbyn und seine Berater angesichts der Skrupellosigkeit seiner Feinde im Innern begangen haben?

    Corbyn war nie ein Revolutionär, sondern ein Friedensstifter und Menschenfreund. Dies war einer der Gründe für seine Popularität, führte aber in Krisenzeiten dazu, dass er den perfidesten seiner Feinde zu viele Zugeständnisse machte. Um erfolgreich zu sein, müssen führende Politiker zu ihren Anhängern stehen. Aber statt dessen wurde Corbyn von seinem Umfeld glauben gemacht, dass Kompromisse ein Zweckbündnis mit dem rechten Parteiflügel ermöglichen. Damit musste er natürlich scheitern.

    Die Labour-Rechte bekam Schützenhilfe von den konservativen Medien, aber auch von einer Zeitung, die angeblich die britische Linke repräsentiert.

    Ja, die BBC und andere Rundfunkanstalten schlossen linke Meinungen aktiv aus. Besonders wirkungsvoll war aber der Guardian als einzige echte Alternative zur Tory-Presse. Die Zeitung, die nicht links ist, es auch nie war und sich zunehmend dem Zionismus verschrieben hat, riet ihren Lesern in der Corbyn-Ära, die Liberaldemokraten zu wählen.

    Was wäre passiert, wenn Corbyn nicht durch eine Rufmordkampagne gestoppt worden wäre?

    Wenn er Premierminister geworden wäre, dann hätte er die ganze Macht des Establishments zu spüren bekommen. Er wäre sehr wahrscheinlich mit Attentatsversuchen und einem Militärputsch konfrontiert gewesen, den hochrangige Vertreter der Streitkräfte bereits angedroht hatten. An diesem Punkt wären auch die Grenzen des Corbyn-Projekts freigelegt worden. Es bedurfte ja einer großen Unterstützerbasis. Die Versuche, diese aufzubauen, wurden innerhalb des Projekts sabotiert, zum Teil unter Mitwirkung von Corbyn.

  • 10.01.2023 19:30 Uhr

    Aufstehen gegen Krieg und Krise

    Die Ampel versucht die »Heimatfront« ruhig zu halten – im Interesse des Kapitals
    Melina Deymann
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    Ein in diesem Jahr selten aufgezeigter Zusammenhang – Demonstration gegen die Teuerungen in Stuttgart (22.11.2022)

    Traditionell bildet die Podiumsdiskussion den Abschluss der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Kämpfen in der Krise. Der Krieg und die soziale Frage«. Wie in den Jahren zuvor, haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt zum nämlichen Thema vorab vorzustellen. (jW)

    »Jetzt ist nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten, sondern für effektives Handeln in der Realität« – mit diesen Worten begründet Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), ihre Kritik an den Regularien der Energiepreisbremse. Sie zielt damit nicht auf die unfassbare Profitmacherei auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung, die mit dieser Maßnahme zementiert wird, nein, sie bemängelt, dass Unternehmen bei Zuwendungen von mehr als 50 Millionen Euro gemäß dieser Bestimmungen keinerlei Boni und Dividenden mehr zahlen dürfen. Vereinfacht gesagt: Die Vorsitzende des DGBs ist dafür, dass diejenigen, die in diesem Land so tatsachenverdrehend »Arbeitnehmer« genannt werden, Boni und Dividenden für ihre Bosse und Aktionäre bezahlen. Sonst drohe Deindustrialisierung und Arbeitsplatzverlust. Fahimi hatte bereits das dritte verpuffte »Entlastungspaket« als »insgesamt beeindruckendes Paket« bezeichnet, das die Ampel in »einer Zeit historisch beispielloser Herausforderungen« beschlossen habe.

    Gewerkschaften einbinden

    Das Monopolkapital hat in Deutschland immer wieder gute Erfahrungen damit gemacht, SPD und Grüne mit Regierungsverantwortung auszustatten, wenn es darum ging, »unpopuläre« Entscheidungen treffen zu lassen. Beispiele hierfür sind der Krieg gegen Jugoslawien – der erste Angriffskrieg unter Beteiligung Deutschlands seit 1945 – und die Durchsetzung der Agenda 2010, die Einführung der »Hartz-Gesetze« – die schärfsten Angriffe auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung seit 1945.

    Das Wichtigste für das Monopolkapital: Mit einer solchen Regierung kann es gelingen, die Gewerkschaftsbewegung ruhig zu halten, weiter auf Kriegskurs zu bleiben und die Kriegs- und Krisenlasten geräuschlos auf die Werktätigen abzuwälzen. Das ist, Stand heute, mit der Ampelregierung und einer in allen grundsätzlichen Fragen übereinstimmenden CDU/CSU weitgehend gelungen. Große Teile der Gewerkschaften verteidigen den NATO-Kurs, sind für Waffenlieferungen an die Ukraine und kritisieren die deutsche Hochrüstung nur verhalten. Lediglich einzelne Ortsverbände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften stellen sich deutlich gegen Krieg und Hochrüstung.

    Dabei ist klar, dass Deutschland den Krieg, der gerade in der Ukraine eskaliert, nicht nur billigend in Kauf genommen hat, sondern zu seinen Verursachern zählt. Man denke an die fortgesetzte NATO-Osterweiterung, de facto eine Einkreisung der Russischen Föderation, die »schnelle Eingreiftruppe« der NATO, jetzt unter deutscher Führung, und nicht zuletzt das Mitmischen beim Maidan-Putsch in der Ukraine, bei dem der damalige SPD-Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich auch einem Schulterschluss mit den Faschisten nicht verweigerte. Nun hat auch Exbundeskanzlerin Angela Merkel zugegeben, dass »Minsk II« – bei dem die Bundesrepublik Garantiemacht war – nie ein ehrlicher Versuch war, Frieden in den von der Ukraine mit Krieg überzogenen Donbass zu bringen, sondern unterzeichnet wurde, um Zeit zu schinden. Zeit, um die Ukraine aufzurüsten und sie weiter in die NATO zu integrieren.

    Als die Russische Föderation am 24. Februar des vergangenen Jahres in den bereits seit 2014 laufenden Krieg eintrat und die Ukraine angriff, lagen die unter dem großen Getöse der »Zeitenwende« von der Ampelregierung und Bundeskanzler Olaf Scholz vorgestellten Aufrüstungspläne schon lange in der Schublade. 102 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr waren bereits Thema der Koalitionsverhandlungen – es ist der größte Hochrüstungsetat in der Geschichte der Bundesrepublik.

    Mit diesem Programm soll Deutschland dauerhaft den drittgrößten Kriegsetat der Welt bekommen. Als Führungsmacht in der EU will Deutschland den Weg zur Weltmacht gehen und gleichzeitig dabei helfen, die Vormachtstellung des Imperialismus insgesamt zu verteidigen. Das führt im Verhältnis zum US-Imperialismus zu einem ständig sich verändernden Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz. Manchmal auch zu Absurditäten. Ein Beispiel dafür ist das deutsche Schweigen zum Anschlag auf Nord Stream 1 und 2, der von den USA mindestens gebilligt, vermutlich aber eher ausgeführt wurde. Egal wer es nun genau war, Fakt ist, dass damit die Möglichkeit, kostengünstig Gas aus Russland zu beziehen, zerstört worden ist. Jetzt gibt es teureres, schwerer zu transportierendes und umweltschädlicheres Frackinggas. Nach den immer weiter ausufernden Sanktionen war die Sprengung der Pipelines eine weitere Eskalation im (Wirtschafts-)Krieg gegen Russland.

    Doch nicht nur die Russische Föderation, die nach Meinung von Außenministerin Annalena Baerbock »ruiniert« werden soll, steht im Fokus von USA, Deutschland und NATO. Das eigentliche Ziel heißt Volksrepublik China. Für dieses Ziel, den Angriff auf den systemischen Gegner China, wird die von der UNO anerkannte Ein-China-Politik immer wieder in Frage gestellt, werden Waffen nach Taiwan geliefert, gewalttätige Demonstranten in Hongkong zu Freiheitskämpfern verklärt und die Mär vom Völkermord an den Uiguren verbreitet. Für dieses Ziel schippern auch deutsche Fregatten durch den Indopazifik.

    Und wer soll für Krieg und Hochrüstung bezahlen? Wir. Bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine stiegen die Energiepreise. Die Inflation verteuerte sodann die Lebensmittel, insgesamt stiegen die Preise für Güter der Daseinsvorsorge an. Gleichzeitig explodierten die Gewinne der Rüstungs- und Energiekonzerne. Wenn doch mal einer stolpert – wie Uniper –, bezahlen wir das. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert – die Lasten der Krise werden so in allen Bereichen auf die arbeitende Klasse abgewälzt.

    Dank steigender Steuereinnahmen bei steigenden Preisen verdient der Staat gleich mit an der Umverteilung und leistet sich so das eine oder andere Feigenblatt wie die »Entlastungspakete«, von denen DGB-Vorsitzende Fahimi so schwärmt. Doch die Menschen in diesem Land leiden unter den Folgen des Wirtschaftskriegs gegen Russland, viele von ihnen stehen in diesem Winter nicht mehr vor der Entscheidung, ob sie hungern oder frieren. Sie tun beides – die dicken Nachzahlungen werden trotzdem kommen. Glaubt man den Umfragen der jüngsten Zeit, dann ist eine Mehrheit der Menschen gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine, die den Krieg verlängern; und eine Mehrheit ist ebenso gegen die Sanktionen, die am meisten die deutsche Bevölkerung treffen.

    Solange das aber nicht dazu führt, dass diese Menschen sich zusammentun und ihren Protest als Bewegung auf die Straße tragen, werden die Herrschenden, das Monopolkapital und seine Regierung von ihrer Politik nicht ablassen.

    Breite Bündnisse

    Wir brauchen eine breite Friedensbewegung, wir brauchen eine breite Bewegung im sozialen Abwehrkampf. Eine solche Breite wird aber auch bedeuten, dass diese Bewegung keine rein linke Bewegung sein wird. Linke, Marxisten, Kommunistinnen und Kommunisten werden darin um ihre Ideen, ihre Überlegungen kämpfen müssen. Natürlich gehört die Eigentumsfrage in solchen Bündnissen auf den Tisch, sie darf aber nicht zur Eintrittskarte werden. Die Frage nach den »deutschen Interessen« wird in der Bewegung eine Rolle spielen. Wir kämpfen dafür, dass die Antwort auf diese Frage lautet: Wir führen einen Kampf für die Interessen aller Menschen, die in diesem Land leben, und damit gegen Wirtschaftskrieg, Waffenlieferungen und Hochrüstung.

    Im Moment tun die Herrschenden alles, um einen gemeinsamen Protest der Menschen in diesem Land zu verhindern. Dazu gehört eine Politik der Beruhigung durch Hilfspakete und kleine Erleichterungen, die wir über die Steuern selbst finanzieren. Dazu gehört auch, große Teile der Proteste als »verschwörungstheoretisch« und »rechts« zu diskreditieren. Natürlich gibt es rechte Proteste gegen Inflation oder Krieg, hier spielen diese Kräfte ihre Rolle im Kapitalismus: Ablenken von den wahren Ursachen der Probleme und den Protest in kapitalismuskonforme Bahnen lenken. Wenn die Menschen genauer hinsehen, werden sie aber feststellen, dass diese Kräfte ihnen keine funktionierende Daseinsvorsorge, kein bezahlbares Leben und erst recht keines in Frieden bringen werden, weil sie dies auch gar nicht wollen.

    Der Versuch der Spaltung liegt darin, Positionen gegen den Krieg der NATO prinzipiell als »rechts« zu diffamieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Für die DKP ist es deswegen nicht nur wichtig, Bündnisse zu initiieren, sondern auch, in den Bewegungen um Positionen zu ringen und als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dafür zu kämpfen, dass die Gewerkschaften Widerstand gegen Abwälzung der Krisenlasten nach unten entwickeln.

    Denn was wir jetzt brauchen, ist kein ruhiges Hinterland, keine geschlossene Heimatfront gegen den bösen Russen und keine konzertierte Aktion, in der sich DGB und Kapitalvertreter an einen Tisch setzen und beraten, wie sie die soziale Situation »befrieden«. Wir brauchen einen breiten, einen massenhaften Protest auf der Straße. Und wir brauchen kämpferische Gewerkschaften, die sich gegen die Angriffe des Kapitals zur Wehr setzen und die Proteste auf der Straße mit den anstehenden Tarifrunden verbinden.

  • 10.01.2023 19:30 Uhr

    Als Klasse gegen Krieg und Kapital

    Den Kampf gegen den Hauptfeind führen
    Christin Bernhold
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    Raus aus Krisenkorporatismus und Komanagement. Demonstrationen wie jene vom 22. Oktober unter dem Motto »Solidarisch durch die Krise – soziale Sicherheit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden« in Berlin haben dieser Forderung eher weniger Rechnung getragen

    Um erfolgreich gegen Krieg, Ausbeutung und Krise vorgehen zu können, muss die deutsche Linke auf diesen Feldern einen Klassenstandpunkt einnehmen und eine Fundamentalopposition gegenüber den Interessen der Herrschenden in Wirtschaft und Politik aufbauen. In der Friedensfrage bedeutet das aktuell, hierzulande allem voran gegen den NATO-Imperialismus zu kämpfen, ohne dabei Illusionen über »schwächere Imperialisten« wie die Russische Föderation zu schüren. In der sozialen Frage muss die Linke in den Betrieben und der Gewerkschaft »Antidot« zum Krisenkorporatismus sein und in den sozialen Bewegungen eine sozialistische Position vertreten. Es bedarf dringend einer gesellschaftlich wahrnehmbaren Kraft, die nicht bloß für Umverteilung kämpft. Kriegspolitik, Militarisierung und ein Krisenmanagement auf Kosten der Mehrheit der Lohnabhängigen haben eine gemeinsame Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise und müssen entsprechend gemeinsam bekämpft werden.

    Wider den NATO-Korporatismus

    Vor bald einem Jahr hat die russische Regierung den in der Ukraine seit 2014 herrschenden Bürgerkrieg – und den seit Jahren von den westlich-imperialistischen Zentren angeheizten Konflikt zwischen der NATO und Russland – zu einem ausgewachsenen Krieg eskaliert, der von Tag zu Tag mehr Leid und Tod und eine gewaltige Zerstörung sozialer und ökologischer Lebensgrundlagen produziert.

    Die dominante Deutung dieses Krieges, wie sie von den gleich ausgerichteten Medien und der Bundesregierung nahezu unisono vertreten wird (der Autokrat Putin ziehe gegen die liberale Demokratie ins Feld), ist auf ideologische Mobilmachung für den NATO-Korporatismus gepolt. Sie soll die Zustimmung der Bevölkerung zur Rüstungsexpansion, zur Militarisierung und zur offenen Beteiligung am Krieg, der längst ein Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland ist, generieren. Die NATO-Politik umfasst auch das Bündnis mit faschistischen Kräften in der Ukraine, die zu Freiheitskämpfern verklärt werden. Dass die herrschenden Klassen im Westen den »imperialistischen Angriffskrieg« (Olaf Scholz) Russlands skandalisieren, während sie etwa Saudi-Arabien im mit deutschen Waffen geführten Krieg im Jemen den Rücken freihalten, hat nichts mit Menschheitsinteressen zu tun. Sie treibt um, dass die russische Regierung das bisherige Vorrecht der NATO infrage stellt, die Welt mit Gewalt und völkerrechtswidrig nach ihrem Gutdünken zu ordnen. Solange ein Frieden keinen Sieg über Russland impliziert, stellen die dominanten Kräfte der NATO-Staaten die Zeichen auf mehr Krieg, nicht auf weniger.

    Der deutschen Linken fällt die drängende Aufgabe zu, die Emotionalisierung und Moralisierung im politischen Diskurs durch die historisch-materialistische Analyse von Kriegsursachen und -interessen zu kontern und darauf aufbauend eine Friedenspolitik zu organisieren.

    Der expansive Charakter der Kapitalakkumulation, ihre gleichzeitige Reproduktion in nationalstaatlichen Einheiten und die Konkurrenz zwischen hoch konzentrierten (im Marxschen Sinne monopolisierten) Unternehmen bringen die Tendenz zur Gewalt mit sich. Historisch bedeutet das nicht immer, dass imperialistische Mächte ihre Interessen mit unmittelbar kriegerischen Mitteln vertreten. Mit dem Abstieg der US-Hegemonie, dem Aufstieg Chinas und der Multipolarisierung der Weltordnung befinden wir uns heute jedoch wieder in einer Phase der zusehends offen ausgetragenen Konkurrenz. Imperialistische Kriege, die zuvor vorrangig in den Peripherien geführt wurden, rücken wieder in die Zentren. Für die NATO ist China perspektivisch der Hauptfeind, sie setzt aber seit Jahren auch auf eine Schwächung Russlands.

    Die Gründe für den Angriff Russlands auf die Ukraine sind vielschichtig. Nur zwei sollen hier genannt werden. Auf geopolitischer und sicherheitspolitischer Ebene gehört erstens zur Vorgeschichte des Krieges, dass die NATO im Gegensatz zu gegenteilig lautenden Versprechungen konfrontativ und aggressiv bis an die Grenze Russlands expandiert ist. Zweitens ist der Krieg nicht unabhängig von geoökonomischen Interessen der herrschenden Klasse Russlands zu erklären. Nach dem Fall der Sowjetunion ist das Land zur Semiperipherie geworden. Neben einer starken Rüstungs- und Atomindustrie und anderen, regional konkurrenzfähigen Industriezweigen ist die politische Ökonomie Russlands stark von Rohstoffexporten abhängig. Diese spielen in der globalen Konkurrenz zwischen Großkonzernen eine bedeutende Rolle und sind an geopolitische Beziehungen zu Transit- und Empfängerländern gebunden. Geographische Expansion im Sinne von langfristig angelegtem Kapitalexport spielt nur im postsowjetischen Raum eine Rolle. Für die Profitinteressen russischen Kapitals stellt der Verlust politischer Einflussnahme in der Ukraine vor diesem Hintergrund eine Bedrohung dar. Seit 2014, also dem vom Westen unterstützten Maidan-Putsch, sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine stark zurückgegangen und die Anbindung des Landes an die Eurasische Wirtschaftsunion wurde zugunsten der EU-Anbindung vereitelt.

    Russland agiert in der Ukraine aus einer Position der Schwäche gegenüber den NATO-Staaten heraus. Der Möglichkeiten zur politischen und ökonomischen Einflussnahme durch die imperialistische Politik der NATO und der EU beraubt, hat die Regierung im Februar 2022 die militärische Option gewählt. Die geopolitischen und ökonomischen Interessen, die den Angriff auf die Ukraine begründet haben, sind gleichwohl Interessen russischer Imperialisten.

    Was heißt das für die deutsche Linke? Wir müssen unserer friedenspolitischen Kernaufgabe, dem Kampf gegen den Hauptfeind im eigenen Land und gegen den NATO-Imperialismus, nachkommen – mit einer klassenkämpferischen Position und ohne uns Illusionen über die Rolle der herrschenden Klasse Russlands im imperialistischen Weltsystem zu machen. Die Multipolarisierung der Weltordnung impliziert eine Schwächung des US-Imperialismus. Für die Arbeiterklasse in Zentren und Peripherien bringt das aber nicht automatisch eine verbesserte Ausgangsposition mit sich. Realpolitisch gilt es, gegen Aufrüstung und die deutsche Kriegsbeteiligung in der Ukraine, gegen Waffenlieferungen und gegen Sanktionen zu kämpfen, von denen vor allem die Subalternen verschiedener Länder betroffen sind. Wir müssen Druck in Richtung einer Verhandlungslösung aufbauen und skandalisieren, dass die Bundesregierung im Verbund mit den USA diplomatische Mittel ausschließt, womit die Gefahr einer schlimmstenfalls atomaren Eskalation des Krieges durch Russland zunimmt. Über realpolitische Ansätze hinaus muss die Antikriegsbewegung deutlich machen, dass eine grundsätzliche Tendenz zum Frieden innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht möglich ist.

    Klassenkampf statt Komanagement

    Die Ursache der wachsenden Verarmung und der sozialen Polarisierung liegt in der langfristigen Krise der kapitalistischen Produktionsweise. Maßnahmen, die die Bundesregierung im Rahmen der geopolitischen Konkurrenz ergreift, wirken aber als Katalysatoren der Krise und der sich verschlechternden Lage der lohnabhängigen Bevölkerung. Das gilt für das 100-Milliarden-Euro-»Sondervermögen« für die Aufrüstung wie für die Energie- und Sanktionspolitik, die Gas und Öl verteuert und die Interessen des fossile Energieträger ausbeutenden Kapitals der USA und Saudi-Arabiens bedient.

    Weite Teile der deutschen Linken setzten in dieser Situation lediglich auf »etwas Umverteilung hier, etwas Umverteilung da« und ignorieren den Zusammenhang von Militarismus und sozialen wie ökologischen Dimensionen der Krise oder stellen sich in Solidarität mit »der Ukraine« gar an die Seite der NATO. Die Herrschenden forcieren derweil den Klassenkampf von oben. »Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst mal verlieren«, schwor Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die Arbeiterklasse bereits im Juli 2022 darauf ein, die Krise zu ertragen. Medien und Politiker starteten neben Angriffen auf die Friedensbewegung zugleich eine Kampagne für »warme Pullover gegen Putin« statt eines heißen Herbstes. Auch die rechtssozialdemokratischen Strömungen in den Gewerkschaften reichen dem Kapital die Hand. Unternehmen müssten staatliche Unterstützung annehmen können und trotzdem Boni zahlen dürfen, meint etwa DGB-Chefin Yasmin Fahimi. Es sei jetzt nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten.

    Doch das Gegenteil ist der Fall. Intensivierte Ausbeutung, wachsende Verarmung, Prekarisierung und soziale Polarisierung, der utilitaristische Umgang mit Migranten, die Folgen von Naturzerstörung, Militarisierung und Krieg: All dies sind verschiedene Entwicklungsstränge derselben langfristigen Zuspitzung kapitalistischer und geopolitischer Interessendurchsetzung und -konflikte. Komanagement und Sozialpartnerschaft, wie sie der Mainstream in den Gewerkschaften seit Jahrzehnten betreibt, haben die Lage der arbeitenden Klasse mit wenigen Ausnahmen verschlechtert und zugleich den Interessengegensatz zwischen Kriegsprofiteuren und der Bevölkerungsmehrheit verschleiert. Auch das Campaigning und der Korporatismus der Sozialdemokratie in den sozialen Bewegungen hat die sozialen, ökologischen, Geschlechter- und Migrationsverhältnisse bestenfalls für einige wenige positiv verändert – und die zentrale Frage des Friedens an den Rand gedrängt.

    Die deutsche Linke hat in den vergangenen Jahren den Aufbau einer eigenständigen revolutionär-realpolitischen Organisierung hinter Bündnisse mit korporatistischen Strömungen zurückgestellt. Das Gebot der Stunde ist, sich in den Gewerkschaften, Betrieben und sozialen Bewegungen gegen NATO-Korporatismus, für Frieden und bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse zu engagieren – und gleichzeitig darauf hinzuwirken, dass die Widersprüche, die sich an den verschiedenen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen entzünden, politisch als Klasse im Kampf gegen das Kapital ausgetragen werden.

  • 06.01.2023 19:30 Uhr

    US-Cyberkrieg gegen Kuba

    Unterseekabel verweigert: Auch technologisch versucht Washington, die sozialistische Inselrepublik zu strangulieren
    Rosa Miriam Elizalde, Havanna
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    Auch ein Weg, Druck auszuüben: Durch Einschränkung der Möglichkeiten, Onlinedienste anzubieten (Havanna, 4.2.2016)

    In einem überraschenden Anflug von Aufrichtigkeit hat die US-Regierung kürzlich eingestanden, dass sie Kubas Zugang zum Internet blockiert. Ende November empfahl das Justizministerium der Federal Communications Commission (FCC), der Insel die Genehmigung für den Anschluss an ein Unterseekabel zu verweigern, das Kuba mit dem US-Festland verbindet. Die Begründung ist lächerlich. Sie unterstellt eine angebliche Gefahr durch die Beziehungen Kubas zu »ausländischen Gegnern« wie China oder Russland, die die Insel als Einfallstor nutzen könnten, um sich in das US-Netz einzuhacken. Das »ARCOS-1«-Unterwasserkabel, das 32 Kilometer von Havanna entfernt verläuft, verbindet 24 Internethotspots in 15 Ländern, von denen die meisten langjährige, stabile Beziehungen zu den vermeintlichen »Gegnern« unterhalten, die Washington so beunruhigen.

    Alle Kabel über USA

    Niemand kann sich durch Zauberworte mit dem Internet verbinden. Es sind mindestens drei Voraussetzungen erforderlich: ein Telekommunikationsnetz, Computer oder elektronische Geräte und die Möglichkeit zur Nutzung der entsprechenden Technologien. Wer auf einer Insel lebt, ist mehr als anderswo auf Unterseekabel angewiesen; 99 Prozent des weltweiten Datenverkehrs werden über Unterwasserkabel abgewickelt.

    Das Internet wurde als ein Netz konzipiert, in dem Informationen über alternative Wege übertragen werden, um die Stabilität des Datenverkehrs zu gewährleisten. Seine Entstehung geht auf einen Erlass von Präsident John F. Kennedy nach der sogenannten Raketenkrise im Jahr 1962 zurück, bei der sich die Verantwortlichen der Anfälligkeit der Kommando- und Kontrollsysteme im Falle eines nuklearen Angriffs bewusst wurden. Die Sicherheit ist heute allerdings geringer als in der Anfangszeit des Internets, da fast alle Glasfaserkabel über die USA führen, wo sich das Kernstück des Netzes befindet. Das hat zur Folge, dass jede Information, die von Lateinamerika nach Europa übertragen wird, fast immer über den »Network Access Point of the Americas« in Miami läuft. Außerdem sind die Glasfaserkabel, die die Ozeane durchqueren, im Besitz einer Handvoll Unternehmen, die mit Nachrichtendiensten verbunden sind, wie der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt hat.

    Es ist also nicht Kuba, das eine lange und dokumentierte Tradition des Hackens, Spionierens und Überwachens des Internets hat. Ein Bericht, der im vergangenen September von Chinas Nationalem Zentrum für Cybersicherheit und dem Internetsicherheitsunternehmen Qihoo 360 Technology veröffentlicht wurde, beschuldigt die National Security Agency (NSA), mehr als 10.000 Cyberangriffe gegen China gerichtet und dabei 140 Gigabyte an relevanten Daten gestohlen zu haben. Es gibt hingegen keinen einzigen Beleg dafür, dass Kuba eine Bedrohung für die Cybersicherheit darstellt. Bedeutend ist allerdings, dass das US-Justizministerium zum ersten Mal eingesteht, dass Washington den Anschluss an das Unterseekabel verhindert. Vielleicht werden sie eines Tages auch zugeben, dass zu ihren zahlreichen Blockaden der Insel auch die Vereitelung des Erwerbs von Informationstechnologie und die immensen Behinderungen beim Zugang zu digitalen Diensten gehören.

    Es lohnt sich, einige Etappen des digitalen Krieges der USA gegen Kuba Revue passieren zu lassen, um die Hintergründe zu verstehen. Während Europa und die meisten lateinamerikanischen Länder Mitte der 1980er Jahre begannen, sich mit dem Internet zu verbinden, war Kuba mehr als ein Jahrzehnt lang einer »Routenfilter«-Politik unterworfen, so dass Verbindungen zwischen der Insel und dem Territorium der USA blockiert wurden. Während der »Sonderperiode« nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa änderte sich die Situation Anfang der 1990er Jahre. Die USA rechneten damit, dass die Tage des Sozialismus in Kuba gezählt waren und entschieden sich, eine Art »US-Propaganda-Pipeline« einzurichten und digital »Glasnost« zu fordern, was den gewünschten Regimewechsel in Kuba erleichtern sollte.

    Facebook für Propaganda

    Seit 1996 ist es möglich, sich auf der Insel mit dem Internet zu verbinden, jedoch nur, um auf Informationsinhalte zuzugreifen, da es strenge Beschränkungen für kubanische Anwender gibt. Demokratische wie republikanische US-Regierungen haben diese Politik beibehalten, obwohl Donald Trump eine Strategie des »maximalen Drucks« anwandte, die von der Regierung Joseph Bidens beibehalten wurde, um die kubanische Wirtschaft zu erdrosseln. Beide Präsidenten haben Teile der exilkubanischen Ultrarechten in den Vereinigten Staaten ermutigt, sich an der Gründung privater und öffentlicher Facebook-Gruppen in Kuba zu beteiligen, um dort die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

    Es ist dokumentiert, dass diese Gruppen im Juli 2021 die bis dahin größten Proteste auf der Insel angezettelt haben. Der investigative US-Journalist Alan MacLeod hat in einer dieser Gruppen »undercover« ermittelt und nachgewiesen, dass die Hauptverantwortlichen für die Unruhen in San Antonio de los Baños, der Stadt, in der die Proteste begannen, in Florida ansässig sind. »Die Einmischung ausländischer Personen in die inneren Angelegenheiten Kubas hat ein Ausmaß erreicht, das in den Vereinigten Staaten kaum vorstellbar ist«, schrieb MacLeod im Oktober 2021 bei Mint Press News.

    Jeder, der recherchiert, kann genügend Beweise für die Rolle der US-Regierung in der »SOS-Cuba«-Kampagne finden, die in den Tagen vor und während der Proteste Tausende von Retweets generierte. Sie wurde von Akteuren initiiert, die mit von Washington finanzierten Organisationen verbunden sind. Von Januar 2017 bis September 2021 haben mindestens 54 Gruppen, die »Programme« in Kuba durchführen, nachweislich Mittel vom Außenministerium, der US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID) oder der Nationalen Stiftung für Demokratie (NED) erhalten. Die Summen zur Finanzierung dieser Programme reichen von einer halben bis zu 16 Millionen US-Dollar. Das Weiße Haus rühmt sich immer wieder, Personen und Organisationen anzuwerben, auszubilden, zu finanzieren und einzusetzen, die »den politischen Wandel« auf der Insel fördern sollen.

    Verbindung »verboten«

    Heute sind 7,5 Millionen Kubaner (68 Prozent der Bevölkerung) mit dem Internet verbunden, aber sie können weder »Google Earth« sehen noch »Zoom«-Videokonferenzen nutzen, keine kostenlose Microsoft-Software herunterladen, nicht bei Amazon einkaufen oder internationale Domainnamen erwerben, um nur einige der mehr als 200 blockierten Dienste und Anwendungen zu nennen. Wenn Internetprovider einen Zugriff aus Kuba feststellen, fungieren sie als Trichter und warnen, dass der Nutzer eine Verbindung aus einem »verbotenen Land« herstellt.

    Die Erklärung des US-Justizministeriums, die klargestellt hat, dass es die US-Regierung ist, die den Anschluss der Insel an das »ARCOS-1«-Netz verhindert, ist in gewisser Weise zu begrüßen. Denn sie bestätigt, dass Washington das größte Hindernis für den kubanischen Internetzugang war und ist.

    Übersetzung: Volker Hermsdorf

  • 06.01.2023 19:30 Uhr

    Zusammen schaut es sich besser

    Luxemburg-Konferenz zum kollektiven Ereignis machen – nicht nur in Berlin!
    Aktionsbüro
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    Regieraum auf der 26. Rosa Luxemburg-Konferenz am 9. Januar 2021

    Die Vorbereitungen für die XXVIII. Internationale Rosa-­Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2023 laufen auf Hochtouren. Wer vor Ort dabei sein möchte, sollte sich schnellstens ein Ticket sichern – denn unser Bestand neigt sich langsam dem Ende zu. Wer jetzt noch bestellt, kann sich seine reservierte Eintrittskarte am Tag der Konferenz an der Kasse abholen, denn eine rechtzeitige Versendung mit der Post ist nun nicht mehr garantierbar. Am Konferenztag selbst wird es nur noch Karten geben, solange der Vorrat reicht.

    Allen, die am Konferenz-Sonnabend nicht in Berlin dabei sein können, möchten wir ans Herz legen, den Jahresauftakt der politischen Linken im Livestream zu schauen. Am besten geht das natürlich gemeinsam mit Genossinnen und Genossen und Freundinnen und Freunden, denn die Rosa-Luxemburg-Konferenz ist ein Kollektiverlebnis. So wird das eigene Wohnzimmer zum kleinen Konferenzsaal. Alles, was es dafür braucht, sind der Link zum Stream (am 14. Januar ab 10.30 Uhr auf jungewelt.de), ein geeigneter Bildschirm und eine ausreichend stabile Internetverbindung – dann sind Sie in der Tat »live« dabei, denn die Übertragung findet natürlich in Echtzeit statt.

    Uns haben schon einige Zuschriften unserer engagierten Leserschaft erreicht, die zum Nachmachen einladen: In Nürnberg organisiert die neu gegründete jW-Leserinitiative mit Freunden und Interessierten das gemeinsame Schauen des RLK-Streams. In Kassel lädt ein langjähriger jW-Unterstützer ein, kollektiv die Konferenz zu verfolgen. Dazu braucht es nicht viel: ein paar gekühlte Getränke, mitgebrachte Speisen und einen Computer oder internetfähigen Fernseher. In Zürich bietet die Schweizerische Friedensbewegung ein »Public Viewing« im Sekretariat der Partei der Arbeit an. Sie kennen weitere Beispiele oder laden sogar selbst Freunde, Nachbarn oder Genossen zum gemeinsamen Schauen ein? Wir freuen uns über Fotos und Berichte von Ihnen!

    Weil uns der Livestream, aber auch die gesamte Konferenz in diesem Jahr wieder viel Geld kosten werden, bitten wir um finanzielle Unterstützung. Wir rechnen nicht nur mit der bislang am besten besuchten, sondern – bedingt durch vielfältige Preissteigerungen, größere Räumlichkeiten und unseren Anspruch an einen qualitativ hochwertigen Livestream – auch teuersten Konferenz, die wir je durchgeführt haben. Unser Livestream kann kostenlos genutzt werden, wir freuen uns daher über jede Spende als eine Art symbolische Eintrittskarte. Ab einer Spende von zehn Euro darf sich jede Bestellerin und jeder Besteller übrigens auf eine Kleinigkeit freuen – mehr Informationen dazu finden Sie hier: jungewelt.de/rlk_spende

  • 04.01.2023 19:30 Uhr

    »Je mehr Teilnehmer, desto größer der Schutz«

    Luxemburg-Liebknecht-Demo am 15. Januar in Berlin. Provokationen angesichts angespannter Lage möglich. Ein Gespräch mit Ellen Brombacher
    Jan Greve
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    Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin (9.1.2022)

    Am 15. Januar 2023 findet die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Berlin statt. In diesem Jahr fällt der Termin genau auf den Jahrestag der Ermordung der zwei Kommunisten durch rechte Freikorps im Jahr 1919. Welches Zeichen soll von dieser Demo ausgehen?

    Das selbe, wie von der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt: Es darf keinen dritten Weltkrieg und kein nukleares Inferno geben! Für uns steht fest, dass der US-Imperialismus mit der NATO im Schlepptau die entscheidende Verantwortung für die existenzielle Gefährdung der Zivilisation trägt. Von 1,7 Billionen US-Dollar, die im Haushalt der USA für 2023 vorgesehen sind, wird die Hälfte für militärische Zwecke ausgegeben – also für nichts anderes als Kriegsvorbereitung. Das wird allerdings immer wieder verharmlost, indem der Eindruck erweckt wird, es habe keine Entwicklungen vor dem 24. Februar 2022 gegeben, die zum völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine geführt haben. Oder indem suggeriert wird, die NATO-Osterweiterung sei ein Kavaliersdelikt und die russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien seien paranoid. Gegen diese Entwicklung wollen wir ein Zeichen setzen und uns für Friedensverhandlungen, gegen Waffenlieferungen und gegen den tobenden Wirtschaftskrieg positionieren.

    In den vergangenen zwei Jahren kamen unter Pandemiebedingungen einige Tausend Menschen zur LL-Demo. Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Mobilisierung?

    Das LL-Bündnis arbeitet seit September 2022. Wir haben uns mit dem Bündnisaufruf auf den inhaltlichen Rahmen für die Demonstration verständigt und arbeiten an den organisatorischen Voraussetzungen für deren Durchführung. Voraussagen zu treffen, wie viele Menschen am 15. Januar dann vom Frankfurter Tor zum Friedhof der Sozialisten ziehen, ist schwer.

    Im Zuge des Ukraine-Krieges zeigen sich verschiedene Verwirrungen in der deutschen Linken, von denen einige begeistert Waffenlieferungen fordern. Was machen Sie, wenn Menschen auf der LL-Demo blau-gelbe Fahnen schwenken?

    Der Begriff Verwirrung steht ja für Bewusstseinseintrübung, Orientierungsverlust oder auch psychische Störung. Wenn Linke Waffenlieferungen fordern, ist das aber weder das Resultat einer psychischen Störung noch einer Bewusstseinstrübung. Im besten Fall ist es ein Orientierungsverlust. Ich denke da etwa an den Erfurter Parteitag meiner Partei Die Linke im Juni 2022, der sich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen hat. Jedenfalls sind auf der LL-Demonstration kaum blau-gelbe Fahnen zu erwarten. Und wenn doch, so werden hoffentlich bürgerlichen Medien nicht Bilder geliefert, auf die sie besonders warten.

    Wie steht es um das Zeigen von Symbolen des russischen Staates oder die der kurdischen Bewegung?

    Unser Bündnisaufruf ist ein Kompromiss. Zum Krieg in der Ukraine gibt es unterschiedliche Auffassungen. Dies zu respektieren, impliziert, auf das Mitführen von Fahnen der kriegführenden Länder zu verzichten – auch, wenn das nicht verboten ist. Das ist einmütige Bündnisposition. Es gab eine Zeit, in der die jetzige Situation undenkbar gewesen wäre. Die Sowjetfahne bleibt dafür ein Symbol.

    Und was die Frage nach verbotenen kurdischen Symbolen anbetrifft: Da gibt es seitens der Polizei eine klare Ansage: Sie wird dann in die Demo hineingehen – mit Konsequenzen, die nicht absehbar sind.

    Auf der LL-Demo wollen Sie auch gegen die Aufrüstung der Bundeswehr demonstrieren und die Mitverantwortung des Westens am Ukraine-Krieg thematisieren. Befürchten Sie Provokationen von sich »links« verstehenden NATO-Sympathisanten?

    Ausschließen kann man das nie. Wenn ich an die Silvesterereignisse denke, kann das auch schon ein Knallkörper sein.

    Vor zwei Jahren gab es zum Teil brutale Übergriffe von Polizisten auf Teilnehmer der LL-Demo. Begründet wurde das mit angeblich verbotenen FDJ-Symbolen, die dort gezeigt wurden. Mit welcher Einsatzstrategie rechnen Sie in diesem Jahr?

    Unsere Strategie ist: Je mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer, desto größer der Schutz vor Provokationen, von wem auch immer sie ausgehen mögen.

  • 04.01.2023 19:30 Uhr

    Forcierte Auspressung

    Absoluter und relativer Mehrwert. Der Ausbeutungsgrad der US-amerikanischen Lohnarbeiter hat sich im Zeitalter des Neoliberalismus deutlich erhöht
    Jack Rasmus
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    Längere Arbeitszeiten, schlechtere Entlohnung, Verdichtung der Arbeit. Diesem Trend waren in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Lohnabhängige in den USA ausgesetzt (Arbeiter in einer Automobilfabrik in Flat Rock, Michigan)

    In den vergangenen vier Jahrzehnten der neoliberalen Ära des Kapitalismus (etwa 1979–2019) hat sich die Ausbeutung im Vergleich zur vorneoliberalen Ära erheblich intensiviert und ausgeweitet. Ein Kennzeichen des Neoliberalismus ist ein stärkerer Einsatz des kapitalistischen Staates, dem Kapital bei seiner Auspressung von mehr (absolutem wie relativem) Mehrwert aus den Arbeitern zu assistieren.

    Im Rahmen des neoliberalen Kapitalismus in den »fortgeschrittenen Volkswirtschaften«, insbesondere in den USA, wurde in den vergangenen vier Jahrzehnten die Arbeitszeit (absolute Mehrwertgewinnung) verlängert und die Arbeitsproduktivität (relative Mehrwertgewinnung) hinsichtlich der Intensität wie auch auch des Umfangs der relativen Mehrwertgewinnung erheblich gesteigert.

    Arbeitszeitverlängerung

    Bestandteil der bürgerlichen Ideologie ist die Behauptung, der Arbeitstag habe sich im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts verkürzt. Diese Verkürzung mag es zur Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben haben, als das Kapital während der Großen Depression in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs auf die Kooperation der Arbeiter angewiesen und zu einigen Zugeständnissen bereit war. 1938 wurde in den USA ein Gesetz über faire Arbeitsnormen verabschiedet, das die Bezahlung von Überstunden und einen Mindestlohn vorschrieb und außerdem Versuche der Kapitalisten, den Arbeitstag zu verlängern, mit Strafen belegte. Den gleichen Effekt hatte die Gesetzgebung, die nach 1936 gewerkschaftliche Organisierung ermöglichte, wonach die mit den Gewerkschaften abgeschlossenen Verträge eine noch stärkere Sanktionierung für Überstunden und Schichtarbeit vorsahen, um die Kapitalisten von ihren Bemühungen einer Verlängerung des Arbeitstages abzuhalten.

    Während des Zweiten Weltkriegs vermochten die Kapitalisten in ihrem Streben nach Mehrarbeit, die Produktion auszuweiten – nicht durch Verlängerung des Arbeitstages, sondern indem sie Millionen von Arbeiterinnen, vor allem in der Kriegsgüterproduktion, einstellten, anstatt einen längeren Pflichtarbeitstag einzuführen. In den ersten Kriegsjahren arbeiteten die Arbeiter freiwillig länger, um die Einkommensverluste aus den Jahren der Depression auszugleichen. Aber es war ihre Entscheidung. Und als die Kriegsjahre weitergingen, nahm die Zahl der freiwilligen Überstunden ab.

    In der Zeit unmittelbar nach Kriegsende konnten die Gewerkschaften den Arbeitstag weiter verkürzen, indem sie Verträge aushandelten, die bezahlte Urlaubstage und eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle vorsahen. Ende der 1960er Jahre hatte ein durchschnittlicher Gewerkschaftsarbeiter typischerweise Anspruch auf drei Wochen bezahlten Urlaub nach fünf Arbeitsjahren. In der Regel gab es zehn bezahlte Feiertage pro Jahr. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall belief sich auf sechs bis zwölf Tage pro Jahr. Für vielleicht ein Drittel der Beschäftigten auf dem Höhepunkt des gewerkschaftlichen Organisierungsgrades wurde der Arbeitstag durch die in den Tarifverträgen ausgehandelte bezahlte Freistellung noch weiter verkürzt – zusammen mit einem strikten Verbot von verpflichtenden Überstunden.

    Kurz gesagt, es stimmt, dass der Arbeitstag in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts verkürzt werden konnte – durch starke Gewerkschaften, Tarifverträge und bis zu einem gewissen Grad durch staatliche Maßnahmen in Gestalt von Lohn- und Arbeitszeitgesetzen. Der Trend zum kürzeren Arbeitstag wurde jedoch Ende der 1970er Jahre gestoppt und umgedreht. Der Arbeitstag hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten unter dem Regime einer neoliberalen Wirtschaft wieder verlängert.

    Obligatorische Überstunden – unter Androhung von Entlassungen – wurden in den 1970er Jahren zu einem ständigen Problem für die Arbeiter im verarbeitenden Gewerbe. Als Folge der Politik von Regierung und Kapital begann für die Gewerkschaften Ende der 1970er Jahre eine lange Periode des Niedergangs und der Dezimierung, die sich in den 1980er Jahren beschleunigte und danach weiter anhielt. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder ging von einem Höchststand von 30 bis 35 Prozent der Belegschaft jedes Jahr kontinuierlich auf inzwischen zehn Prozent oder weniger im Jahr 2019 zurück. In den großen Industriezweigen wie der Kraftfahrzeugindustrie, der Stahlindustrie, der Fleischverarbeitung, der Kommunikationsbranche, dem Baugewerbe und dem Bergbau waren zu Höchstzeiten 70 bis 80 Prozent der Gesamtbelegschaft gewerkschaftlich organisiert. Die Vertiefung des Neoliberalismus unter US-Präsident Ronald Reagan, die Verlagerung von Arbeitsplätzen, Deindustrialisierung und Deregulierung ganzer Branchen (Verkehr, Kommunikation usw.) sowie die direkte Offensive gewerkschaftsfeindlicher Anwaltskanzleien, die von Unternehmen beauftragt wurden, sorgten für einen kontinuierlichen Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften. Mit deren Schwächung wurden die in den Tarifverträgen enthaltenen Verbote von obligatorischen Überstunden, »geteiltem Dienst« und Schichtarbeit aufgeweicht oder aufgehoben. Tarifverträge, die Sanktionen (z. B. Halb-, Doppel- oder Dreifachzeitzuschläge) vorsahen gegen Unternehmer, die den Arbeitstag verlängerten, wurden immer seltener oder verschwanden ganz.

    Überstunden ohne Zuschläge

    Gleichzeitig wurde nach 1980 auch die Wirkungskraft des Fair Labor Standards Act (FLSA) von 1938, der Überstunden regelt, geschwächt. Bundesgerichtshöfe entschieden immer wieder, dass die Unternehmensleitung das Recht habe, nach Belieben Überstunden anzuordnen. Immer weniger gelang es, die Verlängerung des Arbeitstages zu verhindern. Schließlich verloren Millionen von Arbeitern ihren früheren Anspruch auf Überstundenzuschläge. Ab 2005 hatte das Kapital praktisch freie Hand, den Arbeitstag zu verlängern – was es auch häufig tat, da es günstiger ist, die vorhandenen Arbeiter zu etlichen Überstunden zu verpflichten, als neue, zusätzliche Arbeiter einzustellen und einzuarbeiten. Doch dies war nur der Anfang des neoliberalen Trends zur Ausweitung des Arbeitstages und damit zur erhöhten Ausbeutung durch Auspressung von mehr absolutem Mehrwert.

    In den 1980er Jahren begann sich die nicht freiwillige Teilzeitbeschäftigung auszudehnen, in den 1990er Jahren dann ebenso die »Zeitarbeit«. Wie bei den Überstunden waren die inzwischen geschwächten Gewerkschaften nicht mehr in der Lage, sich der kapitalistischen Offensive zu widersetzen. Das Anwachsen von Teilzeit- und »Zeitarbeit« fiel mit dem Beginn einer beträchtlichen Auslagerung von Produktionsarbeit aus den USA und dem entsprechenden Anstieg schlecht bezahlter Dienstleistungsjobs zusammen. Da vormals Vollzeitarbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe ins Ausland verlagert wurden, wurde die Lücke durch die Zunahme von schlecht bezahlten Arbeitsplätzen in der Dienstleistungsbranche mit geringeren Sozialleistungen und weniger Wochenarbeitsstunden gefüllt. Im Zuge der Deindustrialisierung der US-amerikanischen Wirtschaft, die sich ab Anfang der 1980er Jahre beschleunigte, mussten die Arbeiter zwei und manchmal drei schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs annehmen, um ihren Lebensstandard zu halten. Diese Verlagerung auf sogenannte Kontingentarbeitsplätze bedeutete für Dutzende Millionen US-amerikanische Lohnabhängige eine erneute Verlängerung des Arbeitstages.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren in den USA bereits 50 Millionen Arbeiter in Teilzeit, »Zeitarbeit« und ähnlichen Beschäftigungsformen angestellt, die zwei oder mehr Jobs erforderten, um über die Runden zu kommen. Dieser Trend beschleunigte sich nach dem Jahr 2000 mit dem Aufkommen der »Gig«-Arbeit, wodurch sich der Arbeitstag für Vollzeitbeschäftigte bei Uber, Lyft und anderen vergleichbaren Transportunternehmen weiter verlängerte. Die traditionelle Festanstellung wich scheinselbständigen Beschäftigungsverhältnissen auf der Grundlage von Werkverträgen.

    Immer arbeiten

    Seit 1980 wurde Dutzenden Millionen Arbeitern die bezahlte Freizeit – Urlaub, Feiertage und Abwesenheit durch Krankheit – zusammengestrichen. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass in den Tarifverträgen weniger bezahlte Urlaubstage festgeschrieben sind, weil die geschwächten Gewerkschaften größere Zugeständnisse machten. Aber der Trend zu weniger bezahlter Freizeit wurde auch durch die Zunahme von Teilzeitarbeit, »Zeitarbeit« und befristeten Arbeitsverhältnissen im Dienstleistungssektor verschärft. Teilzeitbeschäftigte erhalten keinen bezahlten Urlaub, bekommen beispielsweise nur vier von fünf nationalen Feiertagen bezahlt und ihnen wird nur selten eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gewährt. Die Einführung des bezahlten Urlaubs hat den Arbeitstag von den 1930er bis zu den 1970er Jahren verkürzt. Seine Rücknahme bedeutet mithin eine Verlängerung der Arbeitszeit.

    Da die Zahl der Fachkräfte in der Wirtschaft prozentual zur Erwerbsbevölkerung gestiegen ist, sind auch die Arbeitszeiten der Fachkräfte gestiegen. In der Technologiebranche wird von Software- und anderen Ingenieuren erwartet, dass sie auch nach 17 Uhr noch lange arbeiten, vor allem, wenn ein Projekt in vollem Gange ist. Es ist kein Zufall, dass Unternehmen im Silicon Valley wie Apple ihren Mitarbeitern subventionierte Kantinen zur Verfügung stellen. Einige haben sogar Einrichtungen, in denen die Mitarbeiter ein kurzes Nickerchen machen können. Es gibt kostenlose Sporteinrichtungen und alle Arten von Fastfood und Snacks, um sie wach zu halten. Es ist allgemein bekannt, dass von vielen kreativen Mitarbeitern, nicht nur von denen bei Apple oder in der Technologiebranche, erwartet wird, dass sie abends und am Wochenende an Projekten arbeiten. Und natürlich werden sie von ihren Unternehmen als »fest angestellt« eingestuft, so dass sie trotz der langen Arbeitszeiten keinen Anspruch auf Überstundenzuschläge haben.

    Die wichtigste Entwicklung ist der Trend zur Heimarbeit, der von der Covid-19-Pandemie beschleunigt wurde. Millionen von Menschen arbeiten von zu Hause aus, was die typische Arbeitszeit »from nine to five« aufgelöst und zu längeren, zusehends undefinierten Arbeitszeiten geführt hat. Teammitglieder können über Zeitzonen und sogar Kontinente hinweg verstreut sein. Besprechungen finden daher rund um die Uhr statt. Im Rahmen von Covid wurden Dutzende von Millionen Menschen für die Telearbeit eingesetzt. Viele von ihnen werden dies auch weiterhin tun. Ihre längeren Arbeitstage tragen zur Gesamtheit verlängerter Arbeitszeiten der Arbeiterklasse im Allgemeinen bei.

    Der Arbeitstag sollte dabei nicht bloß als ein »Tag« und als die Summe seiner Stunden verstanden werden. Angenommen, der »normale« durchschnittliche Arbeitstag eines einzelnen Arbeiters betrug zuvor acht Stunden und nun neun, sollte diese zusätzliche Stunde mit allen Arbeitern multipliziert werden, die einen ähnlich verlängerten Arbeitstag haben. Dieses Ergebnis wird wiederum mit den etwa 180 bis 200 tatsächlichen Arbeitstagen eines Jahres verrechnet. Mit anderen Worten: Das Maß für den längeren Arbeitstag sollte auf Jahresbasis für die gesamte Erwerbsbevölkerung aggregiert werden. Wenn man dies tut, ergibt sich das Bild eines steigenden durchschnittlichen Arbeitstages aus allen oben genannten Gründen.

    Die Regierungsstatistiken enthalten keine Schätzung des durchschnittlichen Arbeitstages für die meisten der oben genannten Beispiele. Es gibt keine gesamtgesellschaftliche durchschnittliche Schätzung des Arbeitstages. Die Daten des US-Arbeitsministeriums über die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beziehen sich nur auf Vollzeitbeschäftigte, so dass die rund 50 Millionen Teilzeit-, »Zeitarbeits-« und »Gig«-Arbeitsstunden nicht berücksichtigt werden. Studien, in denen die schnell wachsende Kategorie der »Gig«-Arbeit geschätzt wird, beschränken sich auf diejenigen, die »Gig«-Arbeit nur als ihren ersten Job ausüben, und lassen somit die vielen, die »Gig«-Arbeit als zweiten und dritten Job ausüben, außer acht. Die Überstunden der abhängig Beschäftigten werden nicht berechnet. Kurzum, offizielle statistische Berechnungen über die Länge des Arbeitstages gibt es einfach nicht.

    Dennoch verbreiten Regierungen und Medien weiterhin das Märchen, dass der Arbeitstag im 20. Jahrhundert kürzer geworden und auch in den vergangenen Jahrzehnten unter dem neoliberalen Regime des Kapitalismus des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nicht wieder angestiegen sei. Dementgegen erhöhte die Verlängerung des Arbeitstags seit den späten 1970er Jahren die Ausbeutungsrate durch Schaffung von mehr absolutem Mehrwert.

    Steigende Produktivität

    Steigende Produktivität ist ein wichtiger Indikator für die verstärkte Ausbeutung der Arbeitskraft und die Gewinnung von relativem Mehrwert. Einfach definiert liegt Produktivität vor, wenn die Produktion von Waren oder Dienstleistungen steigt, während die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden konstant oder die Produktion nach einer Verringerung der Arbeitsstunden unverändert bleibt. Oder wenn beide Bedingungen zusammen vorliegen, das heißt wenn die Zahl der Beschäftigten und die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden verringert werden, die Gesamtproduktion aber dennoch steigt.

    In den ersten Jahrhunderten der kapitalistischen Produktionsweise stieg die Produktivität vor allem durch eine effizientere Reorganisation der Arbeit – in der Regel durch eine stärkere Spezialisierung und Arbeitsteilung im Produktionsprozess. In einer Planwagenmanufaktur des 18. Jahrhunderts, in der sechs Arbeiter beschäftigt waren, konnte jeder von ihnen alle Aufgaben erledigen, die für die Herstellung eines Planwagens pro Woche erforderlich waren, so dass insgesamt sechs Planwagen von sechs Arbeitern hergestellt werden konnten. Durch die Spezialisierung auf bestimmte Aufgaben – ein Arbeiter stellt die Räder her, ein anderer den Wagenkasten, ein anderer das Joch für die Pferde usw. – produziert die Planwagenfabrik in der Woche sieben statt sechs Wagen. Der eine zusätzliche Wagen bedeutet eine Produktivitätssteigerung von einem Sechstel oder etwa 16 Prozent allein durch die Neuorganisation des Arbeitsablaufs. Wenn die Arbeiter für ihre nun spezialisierte, noch qualifiziertere Arbeit keinen höheren Lohn erhalten, dann hat der Kapitalist seinen Mehrwert um etwa den Gegenwert jener 16 Prozent erhöht.

    Für Marx steigt der relative Mehrwert für den Kapitalisten sowohl durch erhöhte Produktivität als auch durch den relativen Rückgang der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit innerhalb eines durchschnittlichen Arbeitstages. Marx erkannte, dass es die Maschinerie war, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts zum mächtigsten Mittel wurde, um diese beiden Entwicklungen voranzutreiben: steigende Produktivität und Senkung der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für die Reproduktion der Arbeit.

    Doch die Produktivität ist ein zweischneidiges Schwert. Maschinen intensivieren die Arbeit und erhöhen ihren Wertbeitrag zum Produkt. Dem Arbeiter wird »strengste Disziplin« auferlegt, er arbeitet nun mehr im Rhythmus der Maschine. Die Maschinen erhöhen den Umfang der Warenproduktion, während sie gleichzeitig die Zahl der Arbeiter (und damit die Gesamtarbeitszeit) verringern, die für die Herstellung dieser größeren Warenproduktion erforderlich sind. Beides trägt zur Produktivität bei. Und wenn die noch beschäftigten Arbeiter keinen Anteil an diesem größeren Gesamtwert aus der Produktivität in Form höherer Löhne erhalten, dann fällt dem Kapitalisten praktisch der gesamte relative Mehrwert aus dem Produktivitätszuwachs zu.

    Mit anderen Worten: Das wichtigste Kennzeichen für die durch Maschinen ermöglichte Produktivitätssteigerung ist der damit verbundene Rückgang von Arbeitsplätzen und Arbeitszeiten im Allgemeinen. Damit zusammenhängende Veränderungen können den Produktivitätsanstieg noch verstärken, zum Beispiel Veränderungen in der Form der Unternehmensorganisation, intensivere kapitalistische »Motivations«-Programme für Arbeiter, eine verstärkte Ausbildung der Arbeitskräfte zur Steigerung der produktivitätssteigernden Fähigkeiten, Größenvorteile usw. Aber es ist die Einführung von Maschinen, die primär und am stärksten zur Produktivität beiträgt.

    Die Produktivitätsdaten für die US-Wirtschaft der vergangenen vier Jahrzehnte der neoliberalen Ära zeigen, dass genau das passiert ist: Wo die Produktivität stieg, wurden Arbeitsplätze und Arbeitsstunden abgebaut, während die Löhne stagnierten oder sanken. Dieses Muster war zwischen 2000 und 2020 besonders im verarbeitenden Gewerbe zu beobachten – eine Entwicklung, die nicht überraschend auf den großen Aufschwung der neuen Technologien und den »Dot.com«-Boom von 1995 bis 2000 folgte.

    Die Produktivität in der US-Wirtschaft stieg während des neoliberalen Regimes von 1979 bis 2019 um etwa 75 Prozent, was in etwa der gleichen Rate entspricht wie in den vorangegangenen 30 Jahren ab 1948, als erstmals Daten erhoben wurden. Im gleichen Zeitraum stieg jedoch das Arbeiterentgelt (Löhne und Sozialleistungen) für alle Arbeiter im produktiven Sektor und für nicht-leitende Angestellte – die während des neoliberalen Zeitraums im Durchschnitt etwa 80 Prozent der US-Arbeitskräfte ausmachten – nur um 17,5 Prozent, wie das Economic Policy Institute (EPI) in seiner Analyse von Regierungsdaten feststellte. Da der Anteil der Sozialleistungen an der Gesamtvergütung in der Regel etwa ein Viertel beträgt, lag der geschätzte Lohnanteil an diesen 17,5 Prozent bei etwa 13 Prozent. Die Löhne stiegen also um etwa ein Sechstel des Produktivitätszuwachses. Doch während die Hälfte dieses 13prozentigen Anstiegs der realen Stundenlöhne an die obersten fünf Prozent der Beschäftigten in der Produktion und in anderen Bereichen ging, gab es für den Median der dortigen Beschäftigten in den vierzig Jahren seit 1979 nur einen geringen oder gar keinen Anstieg der Reallöhne; und die untersten, am schlechtesten bezahlten Beschäftigten in dieser Gruppe erlebten zwischen 1979 und 2019 wahrscheinlich einen tatsächlichen Rückgang der realen Stundenlöhne. Für den Median der Produktionsarbeiter lag der Lohnanteil am Produktivitätszuwachs wahrscheinlich bei zehn Prozent oder weniger.

    Arbeitsplätze halbiert

    Nach Angaben des US-Arbeitsministeriums gab es Ende 2019 106 Millionen Beschäftigte in der Produktion – von den insgesamt rund 150 Millionen Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft. Unterstellt, sie sind zwischen 1982 und 1984 Teil der Erwerbsbevölkerung geworden, hätte es für sie in den vier Jahrzehnten keinen Reallohnanstieg gegeben.

    Im warenproduzierenden Sektor der US-Wirtschaft – insbesondere im verarbeitenden Gewerbe – ist der Rückgang der Beschäftigung und der Gesamtarbeitszeit besonders stark ausgefallen. Allein zwischen 2000 und 2020 ist der Anteil der USA an der weltweiten Güterproduktion bei etwa 25 Prozent stabil geblieben, während die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe von etwa 18,3 Millionen auf etwa 12,7 Millionen zurückging.

    Bei diesem Verlust von fast sechs Millionen Arbeitsplätzen muss zudem berücksichtigt werden, dass die Erwerbsbevölkerung der USA außerhalb der Landwirtschaft in jenen beiden Jahrzehnten von 110 Millionen auf 150 Millionen Menschen oder um etwa 36 Prozent gestiegen ist. Wäre die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in den USA seit dem Jahr 2000 ebenfalls um durchschnittlich 36 Prozent gestiegen, hätte sich ihre Gesamtzahl auf 24 Millionen erhöht. So lässt sich argumentieren, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe relativ um fast die Hälfte zurückgegangen ist.

    Dieser Prozess ist in erster Linie auf Produktivitätssteigerungen zurückzuführen, da die Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe durch Maschinen ersetzt wurden, die vor allem die in den späten 1990er Jahren eingeführte Technologie ermöglichte. Wenn die Warenproduktion im verarbeitenden Gewerbe in diesem Zeitraum nicht zurückgegangen ist, was nicht der Fall war, dann lässt sich schließen, dass alle Produktivitätsgewinne der letzten 20 Jahre dem Kapital zugute gekommen sind. Dieser »Output«, der jetzt mit einem Drittel bis zur Hälfte weniger Arbeitern produziert wird, bedeutet einen auf die Spitze getriebenen Gewinn von relativem Mehrwert.

    Der Verlust von etwa sechs Millionen Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe bedeutet zudem 12,4 Milliarden Stunden weniger pro Jahr, um den gleichen »Output« zu produzieren. Multipliziert man diese Zahl mit 20 Jahren und den erreichten Produktwert wiederum mit einem geschätzten durchschnittlichen Stundenlohn von 20 US-Dollar pro Stunde, so erhält man eine beträchtliche Kosteneinsparung für die Kapitalisten im verarbeitenden Gewerbe der USA, die durch die Verdrängung von sechs Millionen Arbeitern durch neue Maschinen und andere damit verbundene Änderungen der Arbeitsorganisation erreicht wurde.

    Zugeständnisse aus Schwäche

    Gleichzeitig mit diesem Produktivitätsanstieg und dem Verlust von Arbeitsstunden für die Arbeiter in der verarbeitenden Industrie konnten die Kapitalisten noch mehr Lohn- und Sozialleistungskosten von denjenigen Arbeitern wieder hereinholen, die beschäftigt blieben. Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren durch gewerkschaftliche Zugeständnisse gekennzeichnet, bei denen die Gewerkschaften im verarbeitenden Gewerbe (insbesondere in der Automobil- und Stahlindustrie) angesichts eines solchen Großangriffs auf die Arbeitsplatzsicherheit auf die zuvor ausgehandelten Löhne und Sozialleistungen verzichteten. Im Zuge solcher Zugeständnisse haben die Unternehmen auch die Kosten für die Krankenversicherungsprämien auf die Beschäftigten abgewälzt und ihre Kosten für die Rentenleistungen gesenkt. Mit anderen Worten: Die Lohn- und Leistungskürzungen waren in der gesamten verarbeitenden Industrie in der Zeit nach 2000 tiefgreifend und ausufernd.

    Die erheblichen Produktivitätszuwächse – die hauptsächlich dem Kapital zugute kamen – erfolgten während der gesamten neoliberalen Ära 1979–2019 und insbesondere in deren letzter Hälfte 2000–2019, als die Reallöhne der Produktionsarbeiter in historischem Ausmaß sanken.

    Dieser doppelte Trend der steigenden Produktivitätserfassung durch das Kapital und der stagnierenden bzw. sinkenden Reallöhne führte zu einem Anstieg der Arbeitsausbeutung (also einem Anstieg des relativen Mehrwerts) in einer Größenordnung, wie sie seit den 1930er Jahren und der Großen Depression nicht mehr zu beobachten war.

  • 04.01.2023 19:30 Uhr

    Ein Radiosender als Erinnerungsort

    Richtig historisch: ddreins.de – Ein neuer Partner für die Rosa-Luxemburg-Konferenz
    Pierre Deason-Tomory
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    Schlagerstar Regina Thoss moderiert am Sonnabend von 16 bis 18 Uhr

    Im Zuge einer Revolution ist es nützlich, einen Radiosender zu besetzen. Noch besser ist es, bereits vor der Revolution im Äther vertreten zu sein, beziehungsweise dort, wo das revolutionäre Subjekt dieser Zeit anzutreffen ist, im Internet. Die junge Welt streamt deshalb Veranstaltungen der XXVIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz 2023 am 14. Januar auf ihrer Homepage. Um auch Menschen zu erreichen, die noch nichts von dieser Tagungsreihe wissen, haben die Tageszeitung und der Verlag 8. Mai eine Medienpartnerschaft mit einem freien Internetsender vereinbart, der so klingt, wie er heißt: ddreins.de.

    Das Programm von ddreins.de konzentriert sich auf Musik, die bis 1990 in der DDR beliebt war, und Informationen, deren Verbreitung heute eher unliebsam ist. Gegründet wurde der Sender am 7. Oktober vor zweieinhalb Jahren, veranstaltet wird das Programm vom Freundeskreis Radio Marabu e. V., einem deutschlandweiten Netzwerk ehrenamtlicher Radioverrückter. Etwa 15 bis 20 Mitarbeiter tragen täglich zum 24-Stunden-Programm bei, darunter alte Bekannte wie Regina Thoss und Jürgen Eger mit eigenen Musiksendungen. Richtig historisch wird es jeden Nachmittag um 15 Uhr, wenn Chris Mainfield in Fortsetzung die »Geschichte des Rundfunks der DDR« präsentiert.

    »ddreins.de ist ein Radio als Erinnerungsort«, so Marcel Fischer, der für das Programm verantwortlich ist, gegenüber dieser Zeitung. Er baut darauf, dass die Hörer die eigenen Erinnerungen mit dem Sender teilen, und bittet sie um Zusendungen von Originalmaterial: »Wer noch Seltenes auf dem Dachboden hat – Mitschnitte, Musik, Jingles – kann sich an ddreins@web.de wenden. Wir freuen uns über jeden Beitrag.«

    Über die Senderwebseite und natürlich auch über jungewelt.de können Interessierte am 14. Januar den Stream von der Rosa-Luxemburg-Konferenz einschalten. Unter anderem diese Vorträge werden live übertragen: »Die Folgen der westlichen Kriegspolitik für arme Länder« von Aminata D. Traoré, oder »Entwicklungsmodell China. Wovor hat der Westen Angst?« von Wen Tiejun. Um 18.30 Uhr beginnt dann die Podiumsdiskussion zum Thema »Kämpfen in der Krise – Der Krieg und die soziale Frage«. Es debattieren Christin Bernhold, Basisaktivistin aus Hamburg, Thilo Nicklas, Gewerkschafter (IG BAU), Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete Die Linke und Melina Deymann, Redaktion Wochenzeitung Unsere Zeit.

  • 30.12.2022 19:30 Uhr

    Verteufelter Feind

    Die klassischen Prinzipien der Kriegspropaganda finden sich auch im westlichen Vorgehen gegen Russland und China
    Anne Morelli
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    Das absolute Böse. Wer Zustimmung zum Krieg erzeugen will, muss den Gegner dämonisieren (antirussische Demonstration in Krakow, 19. November 2022)

    Alle militärischen Konflikte werden von Propaganda begleitet. Die erste durch schriftliche und visuelle Quellen überlieferte Schlacht der Antike bildete da keine Ausnahme. Nachdem 1274 v. u. Z. die Ägypter gegen die Hethiter bei Kadesch im heutigen Syrien gestritten hatten, ließ Ramses II. einen »Sieg« für die Nachwelt festhalten – obwohl er ein großes Gebiet verloren hatte. Es war schon damals wichtig, die Untertanen glauben zu lassen, dass für das eigene Lager alles gut und für die Gegner alles schlecht laufe. Der römische Prokonsul Julius Cäsar stellte seine siegreichen Feldzüge gegen die Gallier 58 bis 51 v. u. Z. als »Defensivkrieg« dar. Angeblich waren es die Gallier, die angriffen, und er habe diese Offensive vorausgesehen und müsse ihr zuvorkommen. In dem Bericht, den er dem römischen Senat vorlegte, beschrieb er die Täuschungsmanöver seiner Feinde, übertrieb deren Stärke und versicherte, dass ihre Verluste extrem hoch seien. Und warum hatte er diesen Krieg geführt? Wenn man ihm glauben will, dann natürlich, um Gallien zu »befrieden«. Zweifellos haben die englischen Karikaturen, die Napoleon als Unhold zeigten, die öffentliche Meinung zur Allianz der konservativen Mächte gegen Frankreich beeinflusst. Die Grundsätze der Kriegspropaganda wurden also zu allen Zeiten angewandt, aber nicht von Agenturen, die in großem Maßstab mit spezialisiertem Personal arbeiten. Erst im Ersten Weltkrieg wurden sie zum Gegenstand systematischer und »professioneller« Kampagnen.

    In diesem Konflikt standen sich hauptsächlich Frankreich, Großbritannien und Russland, die Triple Entente, auf der einen Seite und Deutschland und Österreich-Ungarn auf der anderen Seite gegenüber. Auf beiden Seiten wurde das ganze Potential an Vorstellungskraft ausgeschöpft, um die Kriegspropaganda zu nähren. Dank des 1928 erschienenen Buchs »Falsehood in Wartime« von Lord Arthur Ponsonby (1871–1946), der daran beteiligt und – als Pazifist – angewidert war von dem, was er gesehen hatte, sind wir heute besonders gut über die Organisation der offiziellen britischen Propaganda informiert. Ponsonby hat eine Reihe der von ihr erfundenen Kriegslügen entlarvt. Die britische Propagandaabteilung wurde von Alfred Harmsworth (1865–1922) geleitet, einem bekannten Journalisten und Verleger, der 1918 wegen seiner Verdienste als Propagandadirektor zum Viscount geadelt worden war. Lord Northcliffe, so sein neuer Name, kannte keine Skrupel, wenn es darum ging, den Hass des Volkes zu schüren und dafür zu sorgen, dass genügend Freiwillige rekrutiert wurden, um den Krieg der Triple Entente fortzusetzen. Arthur Ponsonby beschrieb die wesentlichen Mechanismen der Kriegspropaganda. Ich habe sie in zehn »Geboten« beziehungsweise elementaren Grundsätzen systematisiert. Wir werden anhand der westlichen Narrative über Russland und China prüfen, ob sie ein Jahrhundert später immer noch wirksam sind.

    Wir wollen keinen Krieg

    Um einen Krieg populär zu machen, muss die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, dass wir uns in Notwehr befinden und der »andere« angefangen hat. Der »andere« ist von expansionistischen Visionen getrieben. Es ist also Russland, das als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine betrachtet wird. Doch schon Machiavelli warnte davor, immer nur denjenigen, der als erster sein Schwert zieht, als Verantwortlichen für einen Konflikt anzusehen. Denn der Angreifer kann in eine Situation geraten sein, in der es für ihn keine andere Möglichkeit mehr gab, als in einen offenen Krieg einzutreten. Heute spricht der Westen von einem »russischen Angriff« auf die Ukraine im Februar 2022, ohne zu berücksichtigen, dass das Vordringen der NATO nach Osten aus der Sicht Moskaus eine konkrete Bedrohung des eigenen Territoriums darstellt, auf die man – in die Enge getrieben – irgendwann »reagieren« muss.

    In den vergangenen acht Jahren musste Russland verschiedene westliche »Offensiven« über sich ergehen lassen: die (organisierte) Dürre auf der Krim, seitdem Kiew die Halbinsel von der Wasserversorgung aus dem Dnepr abgeschnitten hat, das Massaker in Odessa vom 2. Mai 2014, den regelmäßigen Beschuss des mehrheitlich von russischsprachigen Menschen bewohnten Donbass durch die vom Westen aufgerüstete ukrainische Armee. Während NATO und EU seit 2014 behaupten, »auf die russische Herausforderung zu reagieren«, spricht der Kreml von »präventiver Verteidigung«, um seinen Kriegseintritt zu rechtfertigen. Der Westen seinerseits versichert, dass seine Vorstöße in den Osten dazu dienen, sich selbst zu »schützen«.

    Die westliche Propaganda unterstellt Russland und China imperialistische Interessen. Dabei haben diese viel weniger Militärstützpunkte im Ausland als die USA, die mehr als 725 Basen außerhalb ihres Staatsgebiets unterhalten und deren Budget für Militärausgaben mit 2.187 Dollar pro Kopf viel höher liegt als bei ihren Gegnern. Aber es ist wichtig, die Öffentlichkeit glauben zu machen, dass wir von einem bedrohlichen Feind in die Enge getrieben werden.

    Dämonisierung des Gegners

    Wenn die öffentliche Meinung nicht für den Kriegseintritt ist, dann muss man den Anführer des Gegners als teuflischen Verrückten darstellen, den zu beseitigen unsere Pflicht ist. Im Ersten Weltkrieg wurde Kaiser Wilhelm II. von der Propaganda der Triple Entente als blutrünstiger Wahnsinniger beschrieben, der persönlich den Befehl gegeben habe, die Kathedrale von Reims und die Bibliothek der Universität Leuven in Belgien niederzubrennen. In späteren Konflikten kam derselbe Mechanismus zur Anwendung. Die NATO-Offensive gegen Jugoslawien war demnach notwendig, um den Staatspräsidenten Slobodan Milosevic gefangenzunehmen, der Krieg gegen den Irak wurde angeblich gegen Saddam Hussein geführt, der Angriff Frankreichs auf Libyen, der von den USA unterstützt wurde, erfolgte, so die westliche Propaganda, um das Land von Muammar Al-Ghaddafi zu befreien – obwohl der libysche Staatschef noch kurz zuvor im Élysée-Palast als wertvoller Verbündeter begrüßt worden war.

    Auch in den gegenwärtigen westlichen Erzählungen findet sich dieses einfache Prinzip: Wir führen keinen Krieg gegen Russland, sondern gegen Putin, der an Paranoia leidet. Die Tageszeitung La Libre Belgique beschreibt den russischen Präsidenten als sowjetischen Zaren. Der Publizist Bernard-Henri Lévy bescheinigt ihm »mörderische Unzurechnungsfähigkeit«, nennt ihn »Iwan den Schrecklichen« und »Eierabreißer«. In dem in Brüssel erscheinenden Nachrichtenmagazin Le Vif fand sich bereits 2014 ein Artikel mit der Überschrift »Wie man Putin stoppen kann«, in dem dessen »Bösartigkeit« angeprangert wurde. Der Sender TV5 Monde titelte »Wladimir Putin: Russland als Eroberer« – obwohl das Land seit 1990 einen Großteil seiner Einflussgebiete verloren hat. Wladimir Putin sei ein »Killer«, sagte der US-amerikanische Präsident Joseph Biden im März 2021. Diese Bezeichnung wurde von der europäischen Presse einfach übernommen, obwohl sich die beiden Männer drei Monate später in Genf treffen sollten.

    Da Xi Jinping der Führer des anderen großen Feindes der westlichen Welt ist, gibt es auch für ihn wenig lobende Worte: Der »neue Mao« soll seine Rivalen vertrieben haben, um dem Personenkult um sich selbst mehr Raum zu geben. Er wird als »Kaiser« tituliert, der auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas seine »Krönung« gefeiert habe.

    Natürlich sind es immer die Regimes der anderen Seite, die aus gefährlichen Verrückten bestehen. »Unsere« Führer sind alle gesund und menschlich. Als Sigmund Freud 1930 den Wahnsinn des 28. US-amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson beschrieb, der eine entscheidende Rolle im Ersten Weltkrieg gespielt hatte, wurde seine Psychoanalyse zurückgehalten und durfte erst 1967 veröffentlicht werden. Es war wohl zu beunruhigend für die Amerikaner zu erfahren, dass es auf »unserer« Seite einen Führer gab (Wilson war unter anderem davon überzeugt, eine besondere persönliche Beziehung zu Gott zu haben), der in Wirklichkeit unfähig war, sein Land zu regieren und die Zukunft Europas zu gestalten.

    Edle Motive des eigenen Lagers

    Um die öffentliche Meinung für den Krieg zu mobilisieren, muss man die Bevölkerung überzeugen, dass »wir« ihn nur für gute Zwecke führen. Wir sprechen also nicht über unsere Expansionspläne oder die wirtschaftlichen Gründe für unsere kriegerischen Unternehmungen. Die kriegstreiberische Einigkeit lässt kein Wort über das US-amerikanische Schiefergas zu, das zu hohen Preisen das russische Gas ersetzen soll. Natürlich auch nicht über das europäische Projekt, das eine in die NATO und EU integrierte Ukraine von morgen als gute Gelegenheit für »Standortverlagerungen in der Nähe« sieht: Weniger weit entfernt als Asien und Afrika, könnten dort mit geringeren Transportkosten vom Westen benötigte Produkte hergestellt werden. Da die einheimischen Arbeitskräfte in der Ukraine immer noch zu teuer und vor allem durch ein aus der Sowjetzeit stammendes Arbeitsgesetz geschützt sind, müssen diese Barrieren beseitigt und die Arbeitsbedingungen beispielsweise durch eine Erhöhung der täglichen Arbeitszeit auf zwölf Stunden und leichter mögliche Entlassungen »liberalisiert« werden. Es müssen also Maßnahmen ergriffen werden, wie sie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij mit der Bekämpfung der Gewerkschaften des Landes bereits eingeleitet hat.

    Die westlichen Medien dagegen berichten nur von »unseren« edlen Neigungen, dem Feind unserer Feinde zur Hilfe zu eilen. Und so ist auch »unsere« Unterstützung für Taiwan und Tibet nur als ein Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur verstehen (nicht etwa aus der Hoffnung geboren, China zu schwächen). Wir verteidigen das Recht des Kosovos, sich von Jugoslawien abzuspalten, aber nicht der Krim und der Oblast Donezk, sich von der Ukraine zu lösen. Putin versichert, dass Russland Krieg gegen den wiederauflebenden Faschismus führt. Die NATO behauptet, für die Demokratie zu kämpfen. Viele Länder, die von der NATO gestützt werden, sind keine Vorbilder für Demokratie. Bereits im Ersten Weltkrieg trat die Triple Entente angeblich für die Demokratie ein – gemeinsam mit dem russischen Zaren!

    Der Kampf gegen die russischen »Oligarchen« ist scheinbar auch ein edles Motiv. Die Definition des Wortes »Oligarch« ist klar: Es handelt sich um einflussreiche Personen, die die Wirtschafts- und ebenso weitgehend die Medienmacht an sich gerissen haben. Das trifft zweifellos auch auf einige Personen in Frankreich zu, etwa Arnaud Lagardère, Bernard Arnoult, François Pinault, die Dassault-Familie etc. Aber diese Kaste – die insbesondere das Medienmonopol in ihren Händen hat – anzugreifen würde eine Revolution bedeuten.

    Die Frage der Menschenrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, ist ein häufig angeführter Grund für Konflikte mit China, nicht von Interesse sind aber die Rechte der Palästinenser oder der Frauen in den muslimischen Ländern, die mit den USA verbündet sind. Beispielsweise betreibt die französische Regierung im eigenen Land eine rigide Antisektenpolitik, in China hingegen fördert sie mit Falun Gong eine neugegründete taoistische Bewegung. Am 24. April 1999 waren 10.000 Falun-Gong-Anhänger in das Gebäude der chinesischen Regierung eingedrungen. Es ist unwahrscheinlich, dass die französische Regierung es hinnähme, wenn eine vom Ausland unterstützte Sekte versuchte, den Élysée-Palast zu besetzen.

    Die Greueltaten der Feinde

    Leider gibt es keinen Krieg ohne Gewalt. Aber die Propaganda will uns das Gegenteil glauben machen. Im Krieg zwischen der NATO und Russland um die Ukraine wird nur über die Verbrechen der Truppen des Kremls berichtet. Wenn Human Rights Watch und Amnesty International sich über Folterungen und Hinrichtungen, die von Ukrainern an Russen, insbesondere an Gefangenen, begangen werden, besorgt äußern, dann ist das Echo bei uns gering, und Meldungen darüber schaffen es nicht auf die Titelseiten der Zeitungen. Empathie soll nur für die Opfer des Feindes und nicht für die Opfer des NATO-Aspiranten aufgebracht werden. Die Tragödie von Flüchtlingen ist nur dann rührend, und diese sind nur dann der Solidarität würdig, wenn sie als Zeugen der feindlichen Barbarei auftreten. Der Krieg in der Ukraine hat auch Teile der im Osten des Landes lebenden russischen Bevölkerung gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen – aber wen interessiert das schon?

    Ähnlich die antichinesische Propaganda. Die westlichen Medien sind voll von Berichten über die Schrecken, die Uiguren erlitten: Zwangsassimilation, Unterricht auf chinesisch, Bekämpfung des Separatismus etc. Die beschriebenen Maßnahmen spiegeln die Unterdrückungsmethoden, die die europäischen Kolonialherren gegen die indigenen Völker angewandt haben. Bis vor kurzem wurden in Kanada noch die Kinder der Ureinwohner in einer Fremdsprache, Englisch, unterrichtet und gezwungen, mit dem Christentum eine Religion auszuüben, die nichts mit ihrem angestammten Glauben zu tun hat. Da sie zudem Experimenten und vielen Entbehrungen ausgesetzt waren, starben Tausende von ihnen. Hört man häufiger vom tödlichen Schicksal der Ureinwohner Kanadas oder von den Uiguren, über die die meisten Nachrichten von dem alles andere als objektiven Radio Free Asia stammen?

    Die illegalen Waffen des Feindes

    Laut der binären Sichtweise, die die Kriegspropaganda vermittelt, muss der Feind hinterlistig sein und unerlaubte Strategien und Waffen einsetzen. So beschuldigt Moskau die Ukraine, ein geheimes biologisches Waffenprogramm zu entwickeln, das von den USA gefördert werde. Dazu muss man allerdings sagen, dass die WHO im März 2022 der Ukraine nachdrücklich empfohlen hat, »die in ihren Labors aufbewahrten hochgefährlichen Krankheitserreger zu vernichten«. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, dass nur der andere Clustermunition verwende. Tatsächlich wurde sie erst von Kiew im Donbass und später von Moskau eingesetzt. Phosphorbomben werden von westlichen Medien als besonders »unmenschlich« bezeichnet; nicht erwähnt wird, dass sie von Briten und US-Amerikanern bereits im Zweiten Weltkrieg über Deutschland abgeworfen worden waren.

    Terrorismus scheint die perfideste Waffe zu sein, und jeder wirft dem anderen vor, sich seiner Methoden zu bedienen, selbst wenn es sich um Cyberangriffe des Gegners handelt. Aber wenn unser Verbündeter ein Flugzeug zur Landung zwingt, um eines politischen Feindes habhaft zu werden – wie es 2016 mit dem Anti-Maidan-Reporter Armen Martirosjan in Kiew geschehen ist –, dann ist das natürlich absolut kein Akt der Piraterie. Dem Gegner wird vorgeworfen, keine regulären Truppen, sondern geldgierige Söldner und sogar Killerroboter einzusetzen. »Wir« hingegen schicken nur »Freiwillige« an die Front, die von der Richtigkeit »unserer« Sache verzaubert sind und uneigennützig handeln. Auch im Propagandakrieg gegen China ließ der Westen es sich nicht nehmen, Beijing des Einsatzes »illegaler Waffen« zu bezichtigen. US-Präsident Donald Trump war nicht der einzige, der Covid zur B-Waffe erklärte. Bereits im Mai 2020 überschwemmte die Falun-Gong-Sekte Belgien mit der Nachricht, dass die Kommunistische Partei Chinas für Corona verantwortlich sei. Außerdem wird China beschuldigt, seine Konfuzius-Institute im Ausland hinterlistig für die Verbreitung seiner Propaganda zu nutzen – obwohl alle vergleichbaren Institute europäischer Länder, Goethe, Cervantes, Institut français usw., sowie der USA ebenfalls als kulturelle Schaufenster für politische Zwecke dienen.

    Zu den elementaren Grundsätzen der Kriegspropaganda gehört es, gleich zu Beginn des Konflikts zu verkünden, dass »wir« bereits die Sieger sind und die Niederlage unseres Feindes besiegelt ist. Nur bei ihm häufen sich Fälle von Fahnenflucht. Es wird unentwegt betont, dass »wir« viele Gefangene machen und beim Gegner die Deserteure Legion sind. Im November 2022 widmete die Illustrierte Paris Match einem russischen Deserteur ein Titelbild. Dagegen werden die Desertionen im eigenen Lager konsequent verschwiegen. Die Caritas berichtete von ukrainischen Deserteuren, die Grenzbeamte bestechen und sich nachts durch die Wälder nach Ungarn oder Rumänien absetzen. Wer aber auf westlichen Webseiten nach Artikeln über ukrainische Deserteure sucht, erhält Informationen über russische.

    Unterstützende Meinungsmacher

    Um den Eindruck von Einstimmigkeit für »unsere« Sache zu erwecken, werden in großem Umfang Meinungsmacher herangezogen. Die Intellektuellen, die sich gegen Russland und China engagieren, bekommen Zugang zu den Mainstreammedien. Diejenigen, die sich kritisch oder zögerlich äußern, werden systematisch ausgegrenzt. Auch die »Stars« des Showbusiness müssen Partei ergreifen. Die Sängerin Britney Spears reiste nach Afghanistan und der Schauspieler Bruce Willis 2003 in den Irak, um die Moral der US-Truppen zu stärken. Gegenwärtig unterstützen Sean Penn, Madonna und Angelina Jolie die Ukraine und rufen zum Boykott der Zögerer auf. So wurde der Filmemacher Sergej Losniza aus dem Verband der ukrainischen Filmemacher ausgeschlossen, weil er als zu kosmopolitisch und zuwenig patriotisch gilt. Die Dirigenten Tugan Sochijew und Waleri Gergijew, die in Toulouse und in Mailand tätig sind, wurden aufgefordert, ihre politischen Positionen öffentlich klarzustellen. Es ist undenkbar, ein Konzert von einem Orchester unter der Leitung von Künstlern zu genießen, die nicht eindeutig für »uns« sind.

    In jedem Konflikt berufen sich die Kriegsparteien auf Gott: »Allahu akbar« antwortet auf »Gott mit uns«. Die russisch-orthodoxe Kirche predigt den Krieg gegen die NATO, die nach ihrer Erzählung die Kräfte des Bösen, der Unmoral und des Verfalls der christlichen Zivilisation repräsentiert. Auf der anderen Seite lässt die Kiewer Regierung das russische Patriarchat in der Ukraine als Agenten des Feindes verfolgen, um es zu beseitigen und sein Eigentum zu konfiszieren. Natürlich unterstützt die ukrainische Kirche ohne zu zögern Präsident Selenskij.

    Die »Verräter«

    Das zehnte Prinzip der Kriegspropaganda besagt: Diejenigen, die die Politik der eigenen Seite nicht vollständig gutheißen, oder diejenigen, die Behauptungen des eigenen Lagers anzweifeln, sind als Agenten des Feindes zu behandeln.

    Weil Papst Franziskus sich vorsichtig zwischen den beiden Kriegsparteien Russland und Ukraine bewegt, stempelt man ihn als »Putin-Versteher« ab. Universitätsseminare werden abgesagt, weil die Dozenten sich nicht eindeutig für »unsere« Seite ausgesprochen haben, Pazifisten aus den Mediendiskursen herausgedrängt. Der Corriere della Sera veröffentlichte eine Liste mit den Namen und Fotos von Wirtschaftswissenschaftlern, Parlamentariern und Journalisten und behauptete einfach, dass diese Personen Putins Netzwerk in Italien angehören würden – nur weil sie der Beteiligung ihres Landes am NATO-Krieg gegen Russland nicht zustimmen. In Belgien erinnerte ein junger Parlamentsabgeordneter der Partei der Arbeit daran, dass Russland seit acht Jahren von der NATO bedrängt wird und die Ukraine eine Mitverantwortung für den Krieg trägt. Daraufhin bezeichnete der Premierminister Alexander De Croo ihn als »Verbündeten« Putins. Als Alice Schwarzer in der Zeitschrift Emma einen offenen Brief von 28 Intellektuellen veröffentlichte, die sich gegen die Lieferung schwerer Waffen an Kiew aussprachen, behauptete der ukrainische Botschafter in Deutschland, die feministische Publizistin würde Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten in Kauf nehmen. Tucker Carlson, Kolumnist des konservativen Senders Fox News, zog einen Vergleich, um seinem Publikum die Situation Russlands zu erklären: »Was würden die USA sagen, wenn sie jetzt an ihrer Südgrenze ein von den Chinesen kontrolliertes Mexiko hätten?« Daraufhin wurde er als Verräter im Dienste des Feindes angeprangert und seine Verhaftung gefordert.

    Zum Schluss

    Die Grundprinzipien der Kriegspropaganda, die Lord Ponsonby nach dem Ersten Weltkrieg ausgemacht und herausgearbeitet hatte, bilden auch heute das Fundament der westlichen Narrative gegen Russland und China. Die Verbreitung von Desinformation ist nicht nur eine Methode, die »unsere« Feinde verwenden. Der US-amerikanische PR-Konzern Hill and Knowlton ersann die »Brutkastenlüge«, mit der 1990 der Krieg gegen den Irak gerechtfertigt wurde. Die in New York und Beijing ansässige Agentur Ruder Finn war für die NATO in den Balkankriegen tätig. Und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass dem ukrai­nischen Präsidenten und seiner Ehefrau Olena mit Kwartal 95 ein Kulturindustrieunternehmen gehört, das unter anderem Werbekampagnen produziert.

    Bevor man einen Krieg führt, muss man ihn der öffentlichen Meinung verkaufen und den Feind durch eine binäre Sicht des »anderen« konstruieren.

  • 30.12.2022 19:30 Uhr

    Ins Süppchen gespuckt

    Die Rosa-Luxemburg-Konferenz wird seit Jahren angegriffen. Die jüngste Attacke kommt von der MLPD
    Dietmar Koschmieder
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    Die Rosa-Luxemburg-Konferenz wird seit ihrer ersten Ausgabe im Jahr 1996 bekämpft. So wollte der RCDS (Ring Christlich-Demokratischer Studenden) verhindern, dass Uniräume dafür zur Verfügung gestellt werden, warnte der BDI-Präsident und AFD-Mitgründer Hans-Olaf Henkel vor dem »wichtigsten neomarxistischen Symposium in Deutschland«, begründet der Inlandsgeheimdienst seine Repressionen gegen die junge Welt auch mit deren Verantwortung für die Durchführung der Konferenz, versuchten rechte Kräfte sogar mit Bombendrohungen die Veranstaltung zu verhindern, keifte die Bild, weil dort Gewerkschafter und die »Tagesschau«, weil dort Gefangene zu Wort gekommen seien – um nur einige Beispiele zu nennen. Andere, sich selbst als links verstehende Kräfte versuchten gelegentlich, die Konferenz zu stören oder durch eine Gegenveranstaltung zu schwächen.

    Der jüngste Angriff dieser Art kommt von der angeblich einzigen Partei des echten Sozialismus, der MLPD. Glaubt man ihrem rf-Ticker vom 16. Dezember dieses Jahres, geht die Konferenz, die am 14. Januar »im noblen Viersternehotel Mercure MOA Berlin« stattfinden wird, in etwa so: 3.000 Verzweifelte treffen sich im Saal des »Luxushotels« und weitere Zigtausende Ohnmächtige und Resignierte vor 20.000 Bildschirmen zu Hause oder in organisierten Zusammenkünften. Nur um China und Russland, »zwei imperialistische Länder als Vorbilder präsentiert« zu bekommen, »von denen eines die Ukraine überfällt, das andere mit der Eroberung Taiwans droht«. Die Teilnehmenden laufen dabei Gefahr, »hinterher deutlich verzweifelter« zu sein als vorher. Auch weil die jW davor »kapituliere, als organisierende Kraft im Friedenskampf zu wirken«. Doch Rettung ist nah: Am gleichen Tag findet zur gleichen Zeit (und auch mit abschließender Podiumsdiskussion) ebenfalls in Berlin ein Treffen von Kräften statt, die wie das gecoverte Original »den dritten Weltkrieg verhindern wollen«. Wie immer in solchen Konstruktionen lädt nicht die MLPD ein (die die Konkurrenzveranstaltung dennoch fest im Griff hält), sondern eine »neue Friedensbewegung«, die von der organisierenden Kraft der »auf die Arbeiter und Massen« vertrauenden MLPD profitieren darf.

    In der 28jährigen Geschichte der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz gab es immer wieder Versuche von Gegenveranstaltungen, die alle gescheitert sind. Aber in keinem Fall wurde so dreist gelogen wie im aktuellen. Da wird Erfundenes als Zitat ausgegeben, (»Sammlungsbewegung für Verzweifelte«) da wird wahrheitswidrig behauptet, die »revisionistische DKP« sei Träger der Konferenz und dem geladenen russischen Kommunisten wird das Gelöbnis angedichtet, mit der russischen Regierung (die ihn 2021 wegen Anstiftung zum Aufruhr verurteilt hat) den Sozialismus erkämpfen zu wollen, um nur drei Beispiele zu nennen. Wer die Unterstellungen im jW-Original nachlesen will, bekommt dann am Ende des Artikels auch noch eine falsche Quellenangabe präsentiert.

    Dass die MLPD ein weiteres Mal ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht wird und lieber ihr eigenes Süppchen kochen will, wäre kaum der Rede wert, weil sie auch diesmal damit scheitern wird. Dass sie aber selbst in Zeiten eines drohenden, alles vernichtenden Weltkrieges nicht den Schulterschluss mit anderen progressiven Kräften sucht, sondern lieber aus reinem Eigennutz separieren und spalten will, lässt keinen anderen Schluss zu als den, dass sie die Geschäfte der herrschenden Klasse betreibt, die sie zu bekämpfen vorgibt. Allerdings macht sie das ziemlich schlecht, weil Absicht und Folgen leicht erkennbar sind. Es bleibt dabei, wie es im von der MLPD angegriffenen jW-Beitrag heißt: Von der 28. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2023 wird ein in diesen Zeiten so dringend nötiges starkes friedenspolitisches Signal ausgehen. Das werden weder die MLPD noch andere obskure Kräfte verhindern.

  • 30.12.2022 19:30 Uhr

    Schnell noch Bändchen kaufen! Und Kinokarten!

    RLK-Vorbereitungskollektiv
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    Noch gibt es Eintrittsbändchen für die Konferenz am Sonnabend und Karten für die Kinopremiere am Sonntag. Wegen der wachsenden Unzuverlässigkeit der Post haben wir festgelegt, dass Karten und Bändchen, die bis zum kommenden Mittwoch, den 4. Januar, bei uns bestellt werden, noch über die Post rausgehen. Bitte beachten Sie deshalb, dass ab dem 5. Januar Eintrittsbändchen (und Kinokarten) zwar weiterhin verbindlich beim jW-Shop bestellt werden können – allerdings werden diese dann nicht mehr verschickt, sondern an der Tageskasse hinterlegt und können dort am Sonnabend, den 14. Januar, bis 10.30 Uhr (bzw. am Sonntag bis 13.30 Uhr an der Kinokasse) abgeholt werden. Wer extra zur Konferenz nach Berlin anreist, sollte sich auf jeden Fall die Teilnahmeberechtigung auf diesem Weg sichern. Ob es an der Tageskasse noch Restkarten ohne Vorbestellung geben wird, ist im Moment nicht absehbar, aber wegen größerer Raumkapazitäten durchaus denkbar. Übrigens kann man Eintrittsbändchen und Kinokarten weiterhin im jW-Shop (Torstraße 6, 10119 Berlin) kaufen – solange der Vorrat reicht.

  • 30.12.2022 19:30 Uhr

    Dein Banner auf der Friedenskundgebung der RLK

    Aktionsbüro
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    Die XXVIII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz versteht sich als Friedensmanifestation. Am Nachmittag soll das mit einem Höhepunkt nach innen und außen dokumentiert werden: Alle Teilnehmenden versammeln sich im Hauptsaal und präsentieren Friedenstransparente aus den letzten Jahren der Friedensbewegung. Schon morgens wird eine Dauerkundgebung für den Frieden vor dem Hotel starten. Deshalb bitten wir alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, aus eigenen Beständen Friedenstransparente mitzubringen und sie vor dem Hotel am Friedensstand der Friko abzugeben. Mit ihnen soll der Hauptsaal dekoriert werden, sie sollen aber auch bei der Aktion am Nachmittag zum Einsatz kommen. Bitte gebt uns vorher Bescheid, welche Banner ihr dabeihaben werdet, damit wir das optimal einplanen können. Infos dazu an aktionsbuero@jungewelt.de

  • 23.12.2022 19:30 Uhr

    »Viele Kinder haben noch ›Nachholbedarf‹«

    Sozialistische Kinderorganisation »Rote Peperoni« unterstützt junge Generation, die von Coronamaßnahmen hart getroffen wurde. Gespräch mit Felix Wittenzellner
    Jan Greve
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    Friedenstaube mit Peperoni: Kindertreff in Stuttgart

    Bei der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2023 wird es wieder ein Kinderprogramm geben. Wie kann man mit jungen Menschen über Themen wie Krieg und Frieden sprechen?

    Uns ist es vor allem wichtig, Kindern Zusammenhänge möglichst anschaulich zu erklären. Gleichzeitig wollen wir ihnen Raum zum Ausdrücken ihrer Gedanken geben, zum Beispiel indem sie malen, Dinge aufschreiben oder in einem Theaterstück verarbeiten. Dabei lernen die Kinder nicht nur von uns, sondern wir auch von ihnen. Denn sie haben eine sehr klare Vorstellung, was sie sich für ihre Zukunft wünschen. Bei einem Kindertreff in Stuttgart schrieben einige etwa Briefe mit der Forderung nach einer besseren Welt. Andere formulierten ihre Befürchtung, dass, wenn sich nicht bald etwas ändert, es irgendwann nur noch Kriege und Rassismus geben wird.

    Aufrüstung, Waffenlieferungen: Seit dem Ukraine-Krieg dominiert militaristisches Denken in vielen Debatten hierzulande. Was macht das mit Kindern?

    In vielen Familien und in der Schule ist der Krieg in der Ukraine ein Thema. Zudem besteht die Gefahr, dass das, was in den Medien transportiert wird, unkritisch wiederholt und nicht in Frage gestellt wird. Bei den »Roten Peperoni« wollen wir Kindern andere Perspektiven aufzeigen und sie zum kritischen Denken und Handeln motivieren. Wir schauen mit unserer »Peperoni-Brille« auf den Ukraine-Krieg und kritisieren Waffenlieferungen, Militarisierung und Aufrüstung.

    Die »Roten Peperoni« bezeichnen sich als sozialistische Kinderorganisation. Die vergangenen bald drei Jahre waren für die junge Generation mit Blick auf die Einschränkungen durch Coronamaßnahmen hart. Hat sich die Lage mittlerweile verbessert?

    Ja, das kann man schon so sagen. Während der Pandemie wurden Kinder und Jugendliche oft nicht ausreichend berücksichtigt. Wo immer möglich, haben wir darauf hingewiesen, dass Kinder bei den Debatten über Maßnahmen nicht übersehen werden dürfen. Ihr Bedarf nach Aktivität, Gemeinschaft und sozialem Miteinander war während der Pandemie enorm hoch. Unsere Angebote waren sehr willkommen und nötige Auszeiten aus dem Pandemiealltag. Und wir merken nach wie vor, dass viele Kinder und Jugendliche »Nachholbedarf« haben.

    Mussten auch Sie Ihr Angebot im Zuge der Pandemie einschränken?

    Wir konnten zum Glück viele unserer Freizeiten und Kindertreffs weiter durchführen. Das war nicht immer einfach, da wir sehr kurzfristig auf Verordnungen reagieren mussten und dadurch nicht langfristig planen konnten. Ein paar Aktionen mit Kindern und ein Großteil der Freizeitenvorbereitung fanden digital statt – das war anfangs gewöhnungsbedürftig, aber wir haben es zusammen gut hinbekommen.

    Wie spüren Sie derzeit die Auswirkungen von steigenden Energiepreisen und Inflation in Ihrer Arbeit?

    Wir merken es vor allem an steigenden Gebühren für Zeltplätze und Gruppenhäuser, beim Lebensmitteleinkauf und bei den Transportkosten. Für das kommende Jahr mussten wir deshalb unsere Teilnahmebeiträge leider etwas erhöhen. Da wir aber allen Kindern – unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern – die Teilnahme an unseren Freizeiten ermöglichen wollen, gibt es bei uns einen Solifonds, aus dem wir einen Teil des Beitrags übernehmen können. Den wiederum finanzieren wir durch unsere Solipreise, die etwas höher sind und sich an all jene richten, die es sich leisten können, mehr zu bezahlen.

    Die vergangenen zwei Rosa-Luxemburg-Konferenzen konnten coronabedingt nicht in gewohntem Rahmen stattfinden. Nun werden wieder 3.000 Menschen vor Ort in Berlin erwartet. Welche Bedeutung hat es für die »Roten Peperoni«, wieder dabeizusein?

    Wir freuen uns sehr darauf, wieder an der Konferenz teilnehmen und diese mit unserem Kinderprogramm unterstützen zu können. Solche Veranstaltungen sind für uns eine tolle Gelegenheit, auf uns, unsere Ziele und unsere Arbeit aufmerksam zu machen. Wir freuen uns über regen Zulauf – von groß und klein!

  • 23.12.2022 19:30 Uhr

    Konferenz für alle

    Wer nicht dabeisein kann, schaut den Livestream: unter jungewelt.de/rlk
    RLK-Vorbereitungskollektiv
    Neben der Möglichkeit, am 14. Januar 2023 nach zwei Jahren Pande
    Neben der Möglichkeit, am 14. Januar 2023 nach zwei Jahren Pandemiepause die RLK wieder vor Ort zu verfolgen, kann man auch per Livestream dabeisein (Foto von der Konferenz 2020)

    Zwei Jahre lang war die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz nur digital allein am eigenen Bildschirm oder zusammen in kleiner Runde mit Genossinnen und Genossen erlebbar. Am 14. Januar 2023 werden wieder mehrere tausend Menschen in den Räumen des Mercure-Hotels MOA in Berlin zusammenkommen – und zusätzlich hoffentlich wieder viele weitere tausend Zuschauer an ihren Geräten das Programm verfolgen. Die Qualität der Übertragung wird dabei das gewohnte Maß halten, findet nur nicht mehr unter Bedingungen eines Studios statt. Unwägbarkeiten bei Videoproduktionen gibt es immer. Was uns bereits bekannt ist, sind die immensen Kosten, welche die Buchung einer Halle und eines Filmteams verursacht. Hinzu kommen die Werbeausgaben für den Ticketkauf und die Bekanntmachung des Livestreams.

    Wenn Sie sich heute schon entschieden haben, die Reise nach Berlin nicht auf sich zu nehmen und statt dessen den Stream einzuschalten, dann möchten wir Sie bitten, zur Unterstützung der Produktion zu spenden. Gerne können Sie auch noch am Tag der Konferenz selber überweisen. Auch in diesem Jahr haben wir uns bewusst dafür entschieden, den Zugang zum Stream technisch nicht zu begrenzen, damit wirklich alle, unabhängig von Geldbeutel und Kontostand, an die wichtigen Inhalte kommen. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass diejenigen mit entsprechendem Einkommen sich in Form einer Spende nach ihren Möglichkeiten beteiligen mögen. Die Optionen dafür finden Sie hier.

    Alle Spendenmöglichkeiten unter jungewelt.de/rlk-spende – oder auf dieses Konto: Verlag 8. Mai GmbH, Postbank Berlin, IBAN: DE50 1001 0010 0695 6821 00, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: RLK 2023

  • 20.12.2022 19:30 Uhr

    Unterwerfen oder entkoppeln

    Chinas Platz im Weltsystem
    Sit Tsui, Erebus Wong, Lau Kin Chi und Wen Tiejun
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    Auch in China fließt überschüssiges, in der Realwirtschaft nicht mehr profitabel anzulegendes Kapital in hochspekulative Sphären (Skyline von Shanghai, dem Finanzzentrum der Volksrepublik)

    Auf der XXVIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2023 im Moa-Hotel Berlin-Moabit wird der chinesische Agrarökonom Wen Tiejun zum Thema »Entwicklungsmodell China. Wovor hat der Westen Angst?« sprechen. Wir veröffentlichen an dieser Stelle, aus dem Englischen übersetzt und redaktionell gekürzt, einen Aufsatz, den Wen zusammen mit drei weiteren chinesischen Wissenschaftlern für die sozialistische US-amerikanische Zeitschrift Monthly Review verfasst hat. (jW)

    Die Auseinandersetzungen zwischen den Vereinigten Staaten und China im Namen eines Handelskriegs kündigen einen neuen Kalten Krieg im 21. Jahrhundert an. Seit den 1990er Jahren hat die kontinuierliche Integration Chinas in die Globalisierung in gewissem Sinne auch den Zerfall der beiden Lager des früheren Kalten Krieges bedeutet. Die ganze Welt ist unter ein einziges System der kapitalistischen Globalisierung geraten.

    Die Demagogie des Kalten Krieges wurde nach den Kriegen der Vereinigten Staaten im Irak, in Libyen und in anderen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie nach Barack Obamas öffentlichkeitswirksamem »Schwenk nach Asien« (pivot to asia) und Donald Trumps Eskalationen wieder aufgegriffen. Indem er sich selbst zum Mittelpunkt der Welt machte, hatte Trump das strategische Ziel »Eine Welt – Zwei Systeme« in den Vordergrund gestellt, um China vom Westen zu isolieren. Da China nun der Hauptrivale der USA ist, versuchen die Vereinigten Staaten, wenig überraschend, China mit allen Mitteln einzudämmen.

    Das Jahr 2013 war eine Wegmarke bei der Neuausrichtung der USA, China und andere Länder der Peripherie von einer globalen Finanzallianz auszuschließen. Am 31. Oktober 2013 vereinbarten die US-Notenbank, die Europäische Zentralbank sowie die Zentralbanken des Vereinigten Königreichs, Japans, Kanadas und der Schweiz ein langfristiges Währungs-Swap-Abkommen, das die vorübergehenden gegenseitigen Liquiditäts-Swap-Vereinbarungen ersetzte. Angesichts der Verknappung der Dollar-Liquidität dominiert das Monopol der sechs Zentralbanken das weltweite Währungs-, Finanz- und Wirtschaftssystem. Geld- und Finanzmärkte, die Teil dieses Systems werden, erhalten sowohl Liquiditätshilfe wie auch eine »Krisengewinnprämie«. Wirtschaftssysteme weltweit, die nicht das Glück haben, Mitglied dieser Allianz zu werden, sind anfällig für Angriffe auf die Wechselkurse und die Finanzmärkte.

    Am 19. März 2020 kündigte die Federal Reserve die Einrichtung von befristeten US-Dollar-Liquiditätsvereinbarungen (Swap-Lines) mit neun weiteren Zentralbanken an: »Diese neuen Fazilitäten werden die Bereitstellung einer US-Dollar-Liquidität in Höhe von jeweils bis zu 60 Milliarden US-Dollar für die Reserve Bank of Australia, die Banco Central do Brasil, die Bank of Korea, die Banco de Mexico, die Monetary Authority of Singapore und die Sveriges Riksbank sowie jeweils 30 Milliarden US-Dollar für die Danmarks Nationalbank, die Norges Bank und die Reserve Bank of New Zealand unterstützen. Diese US-Dollar-Liquiditätsvereinbarungen werden für mindestens sechs Monate gelten.«

    Auf diese Weise bildet das Währungssystem des Westens in der Ära der finanziellen Globalisierung ein ähnliches Muster wie in der Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein: Kern – Semiperipherie – Peripherie. Mit anderen Worten: Der US-Dollar bleibt in der zentralen Position und bildet zusammen mit den Währungen, die ihn umkreisen – Euro, britisches Pfund, Yen, kanadischer Dollar und Schweizer Franken – das Kernwährungssystem. Die neun neu beigetretenen Zentralbanken sind die semiperipheren Mitglieder. Die Wirtschaftssysteme, die vom Tauschgeschäft mit den Kernzentralbanken ausgeschlossen sind, werden in die Randlage verwiesen. Dieses institutionelle Arrangement im Finanzsystem stärkt das US-Lager im neuen Kalten Krieg.

    Wechselseitige Umstrukturierungen

    In den 1960er Jahren wurde China faktisch aus den beiden großen Lagern ausgeschlossen: dem sowjetischen und dem US-amerikanischen Lager. Etwa ein Jahrzehnt lang, bevor sich die Volksrepublik mit den Vereinigten Staaten versöhnte und 1971 wieder den Vereinten Nationen beitrat, war das Land gezwungen, sich um die Entwicklung innerhalb seiner eigenen Grenzen zu bemühen und erreichte dadurch ein gewisses Maß an Entkopplung. Nach der Normalisierung der Außenbeziehungen in den frühen 1970er Jahren holte sich China wieder ausländisches Kapital ins Land. Ende der 1990er Jahre war China im großen und ganzen in die Globalisierung integriert, importierte Rohstoffe, exportierte Industriegüter und Dienstleistungen, beteiligte sich an der Finanzialisierung und begann, seine Produktionskapazitäten für Industrie und Dienstleistungen durch die Neue Seidenstraße (»Belt and Road Initiative«) zu erweitern. Nachdem es jedoch explizit als Hauptkonkurrent der Vereinigten Staaten ins Visier genommen wurde, sah sich China mit wachsenden Handelsbeschränkungen konfrontiert, die in Verbindung mit den globalen Krisen der Covid-19-Pandemie zum Zusammenbruch der globalen Industrieketten führten.

    Das Wirtschaftswachstum der Volksrepublik hat sich seit 2013 verlangsamt und ist um fast 50 Prozent seines Höchststandes zurückgegangen – ein Rückgang, wie er seit zwanzig Jahren nicht mehr zu verzeichnen war. Die Dynamik des alten Globalisierungsmodells hat sich erschöpft, und die negativen externen Effekte der vergangenen drei Jahrzehnte hinterlassen tiefe Spuren. In den vergangenen Jahren hat China jedoch eine Strategie zur Wiederbelebung des ländlichen Raums verfolgt, die als Versuch verstanden werden kann, sich von einer Entwicklungspolitik abzuwenden, die dem westlichen Modernisierungsmodell folgt, und zu einer integrativen und nachhaltigen Entwicklung überzugehen, um die Armut in den ländlichen Regionen zu beseitigen.

    Dieser große Wandel wird durch den amerikanisch-chinesischen Handelskrieg und die gleichzeitige wirtschaftliche Umstrukturierung der beiden Länder eindeutig erschwert. Die Umstrukturierung ist eine Reaktion auf die Finanzkrise von 2007 bis 2009 und den allgemeinen Niedergang des Globalisierungsregimes der vergangenen vier Jahrzehnte. Inzwischen zeichnet sich am Horizont wieder die Gefahr neuer Krisen ab, sowohl weltweit als auch im eigenen Land. Dieser anhaltende Wirtschaftsabschwung, der eine Fortsetzung der Krise von 2007 darstellt, hat China in die Deflation gestürzt. Die Beendigung der quantitativen Lockerungspolitik (expansive Geldpolitik) der US-Notenbank im Jahr 2013 hatte große Auswirkungen auf die Schwellenländer in aller Welt. China bildet zwar keine Ausnahme, aber dank der Kapitalverkehrskontrollen und der soliden wirtschaftlichen Basis des Landes waren die Auswirkungen weniger gravierend.

    Als Reaktion auf die Krise führte die chinesische Regierung angebotsseitige Reformen durch und ergriff Maßnahmen, die im Grunde prozyklisch waren: Deindustrialisierung und Finanzialisierung. Im Gegensatz zu den antizyklischen Maßnahmen der Jahre 1997 und 2008, als die Regierung in erheblichem Umfang in die nationale Industrie und Infrastruktur investierte, wurde die übermäßige industrielle Produktionskapazität zwangsweise abgebaut. Angetrieben vom Enthusiasmus für eine radikale Finanzreform, wie sie vom aufstrebenden Block der Finanzwirtschaft vor dem Hintergrund der sinkenden Rentabilität des verarbeitenden Gewerbes befürwortet wurde, führte die Raserei der schnellen Finanzialisierung zum Börsencrash von 2015, gefolgt von der Devisenreform, die den Wechselkurs des Renminbi (Yuan) unter Druck setzte. Die Regierung musste bis zu einer Billion US-Dollar ihrer Devisenreserven auf den Markt bringen, um den Wechselkurs des Yuan zu stabilisieren.

    Falle der Finanzialisierung

    Das auffälligste Merkmal der Situation zwischen 2013 und 2018 war, dass es der Regierung nicht gelungen ist, den Trend der Finanzialisierung der Wirtschaft umzukehren. Der Geldmengen-Preismechanismus Chinas war in den letzten zwanzig Jahren stark auf den Zufluss ausländischer Währungen angewiesen. Per Verordnung müssen alle nach China fließenden Devisen an die Zentralbank verkauft werden, und die Geldbasis wird entsprechend ausgeweitet. Die Liquidität hat zugenommen, ohne dass ein entsprechendes Wachstum der Realwirtschaft zu verzeichnen war. Darüber hinaus haben die Mängel im monetären Leitmechanismus dazu geführt, dass es für kleine und mittlere Unternehmen in der Realwirtschaft schwierig ist, Kredite von Banken zu erhalten. Angesichts der sinkenden Gewinnraten im verarbeitenden Gewerbe und in der Realwirtschaft floss das Kapital in spekulative Bereiche wie den Aktien- und Immobilienmarkt. Infolgedessen erlebte China von 2013 bis 2018 starke Schwankungen an diesen Märkten. Diese Krise ist im Wesentlichen der Preis dafür, dass China unter dem Druck des überschüssigen Finanzkapitals in die globale Finanzialisierung eingebunden wurde.

    Der Trend zur Finanzialisierung in China ist sowohl endogen als auch exogen bedingt. Die Rentabilität des verarbeitenden Gewerbes im Allgemeinen sinkt aufgrund von Überkapazitäten und schwacher globaler Nachfrage. Nach der Finanzkrise von 2007 bis 2009 und den darauf folgenden Krisen im Westen brach die weltweite Nachfrage ein. China durchläuft eine Deindustrialisierung, wobei die Industrien des Landes noch technologisch aufgerüstet werden müssen, um eine höhere Wertschöpfung zu erzielen. Gleichzeitig nimmt China mehr und mehr an der finanziellen Globalisierung teil. Seit 1993 hat sich der chinesische Bankensektor nach dem angelsächsischen Modell kommerzialisiert, und der Finanzsektor ist zu einem der größten Interessenblöcke des Landes geworden, der sich immer mehr mit dem globalen Finanzkapitalismus vermengt.

    Infolgedessen hat sich der Finanzsektor mehr und mehr von der Realwirtschaft entfremdet. Während kleine und mittlere Unternehmen sowie das verarbeitende Gewerbe nur schwer Kredite von Banken erhielten, gilt dies nicht für den Ausbau der Infrastruktur, für staatliche Unternehmen und für Kredite mit Immobilien als Sicherheiten. Auf diese Weise hat eine Handvoll chinesischer Finanzgiganten den größten Teil der wirtschaftlichen Erträge abgeschöpft. Die Realwirtschaft wiederum wurde infolge der Imperative der Finanzwirtschaft verdrängt. Während erstere ausgehöhlt wird, drängt der Finanzblock auf weitere radikale Finanzreformen, wodurch überschüssige Liquidität in spekulative Sektoren fließt, Vermögensblasen entstehen und die Verschuldung steigt.

    Der chinesische Aktienmarkt hat seine eigentliche Funktion nicht erfüllt, nämlich überschüssige Liquidität effektiv in die Realwirtschaft zu leiten, um die industrielle Modernisierung zu fördern. Nach dem Crash von 2015 wurde überschüssiges Kapital den nicht mehr profitablen Aktienmärkten entzogen und auf andere Weise verspekuliert, vor allem im Immobiliensektor. Da die Immobilienpreise in den Großstädten in die Höhe schießen, können sich immer weniger Menschen eine Wohnung leisten. Erschwerend kommt hinzu, dass die lokalen Regierungen sich in eine Abhängigkeit von Grundstücken und Immobilien als Einnahmequellen begeben haben. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes belief sich der Gesamtwert der Immobilien in siebzig Großstädten Chinas im Jahr 2018 auf 65 Billionen US-Dollar, damit ist er höher als in den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und Japan zusammen. Gleichzeitig betrug der Wert der chinesischen Aktienmärkte nur ein Zehntel des Wertes dieser drei geographischen Blöcke.

    Es gibt eine offensichtliche Verzerrung in der Struktur des Vermögensportfolios der chinesischen Bürger. Einer Umfrage zufolge machte der Nettowert von Wohneigentum im Jahr 2017 66,35 Prozent des Vermögens der chinesischen Haushalte aus. Die Hypothekenkosten könnten den Haushalten die Konsumkraft rauben. Das Wachstum des verfügbaren Einkommens der Bürger ist hinter dem Wirtschaftswachstum zurückgeblieben und die Ersparnisse der Haushalte sind sogar zurückgegangen. Immobilien sind zu einer untragbaren Belastung für die chinesische Gesellschaft und Wirtschaft geworden, die die chinesische Regierung in die Enge treibt. Ein weiteres Anwachsen der Immobilienblase muss verhindert werden, aber ein Absturz der Immobilienpreise wäre ebenfalls eine Katastrophe.

    Der Börsencrash von 2015 hat den Finanzrausch nicht gestoppt. Finanzprodukte und Derivate haben weiter exponentiell zugenommen. Der Wert des von verschiedenen Finanzinstituten verwalteten Gesamtvermögens belief sich 2018 auf mehr als 100 Billionen Yuan (rund 13,5 Billionen Euro). Angesichts einer schwachen Wirtschaft und sinkender Rentabilität ist die Sorge um das exponentielle Wachstum von Finanzanlagen und vor einem möglichen Schneeballsystem berechtigt. Die rasche Finanzialisierung im vergangenen Jahrzehnt hat die chinesische Wirtschaft umgestaltet und ihr zusehends Züge eines Kasinokapitalismus verliehen. Ende 2017 belief sich der Gesamtwert der Vermögenswerte des chinesischen Finanzsektors auf 250 Billionen Yuan und war damit der höchste der Welt. Darüber hinaus geht die Ausweitung der Verschuldung immer mit einer Finanzialisierung einher, da Schulden und Finanzen zwei Seiten derselben Medaille sind. Ende 2000 belief sich der Gesamtkreditbestand im chinesischen Finanzsystem auf 9,9 Billionen Yuan. Im Juli 2014 wuchs er auf 78,02 Billionen Yuan an, ein Anstieg um 688 Prozent, während das nominale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts lediglich 473 Prozent betrug. Die Kreditausweitung ist eindeutig größer als das Wachstum der Realwirtschaft.

    Nach Angaben des Institute of International Finance belief sich die weltweite Gesamtverschuldung (einschließlich Regierungen, Unternehmen, Haushalte und Finanzinstitute) im März 2018 auf 247 Billionen US-Dollar, was einem Wachstum von 43 Prozent seit 2008 entspricht, während das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den zehn Jahren nach der Krise 37 Prozent betrug. Die Neuverschuldung privater Unternehmen belief sich auf 28 Billionen Dollar, wovon zwei Drittel von chinesischen Unternehmen gehalten wurden. China hat als Wachstumsmotor der Welt fungiert, aber wenn sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt, könnte die Last der Schulden untragbar werden.

    Zugegeben, ein großer Teil der Schulden in China steht im Zusammenhang mit dem Ausbau der Infrastruktur. Wenn die Volkswirtschaft weiter wächst, handelt es sich um produktive Schulden; besorgniserregend sind unproduktive Schulden wie Hypotheken- und Finanzschulden, die auf Spekulationsgewinne abzielen. Aber angesichts einer drohenden globalen Finanzkrise drängen die politischen Entscheidungsträger auf eine stärkere Liberalisierung der Finanzmärkte, um die Finanzialisierung zu vertiefen und zu beschleunigen. In diesem Sinne haben die Interessenblöcke der Finanzwirtschaft die Entscheidungsfindung in China fest im Griff.

    Entkopplung

    Während der ersten beiden Jahrzehnte der Beteiligung der Volksrepublik an der Globalisierung haben sich die USA und China trotz ständiger politischer Auseinandersetzungen in bezug auf ihre Wirtschaftsstruktur symbiotisch ergänzt. Die rasche Industrialisierung Chinas erfolgt gleichzeitig und komplementär mit der Deindustrialisierung der USA und der wachsenden Finanzialisierung. Der Schlüsselmechanismus, der China mit den Vereinigten Staaten verbindet, ist der große Dollarkreislauf zwischen den beiden Ländern. Aufgrund von Handelsdefiziten können US-Dollars nach China zirkulieren und fließen in die Vereinigten Staaten zurück, indem sich China mit Staatsanleihen eindeckt. Dieser große Dollarkreislauf ist ein internationales und institutionelles Arrangement. Das internationale Handelsregime der Nachkriegszeit wurde von den USA gestaltet und dominiert, und Chinas anfängliche Integration in die Globalisierung war nur möglich, weil die Vereinigten Staaten ihm das institutionelle Recht zugestanden, am globalen Handelsregime teilzunehmen. So gesehen ist der Dollarkreislauf eine Art Seigniorage-Vereinbarung (Geldschöpfungsgewinn, jW). Es ist daher keine Überraschung, dass China sowohl wirtschaftlich als auch institutionell immer abhängiger von den USA geworden ist.

    Vierzig Jahre nachdem China begonnen hat, den Zustrom westlichen Kapitals zu akzeptieren, und zwanzig Jahre nach seiner Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft drohen die Vereinigten Staaten, die immer noch das internationale Gefüge dominieren und die Währungshegemonie innehaben, China mit einem Handelskrieg zu bestrafen. Vordergründig geht es dabei um das riesige Handelsdefizit sowie um Vorwürfe wie erzwungene Technologietransfers und Diebstahl von geistigem Eigentum und Geschäftsgeheimnissen. Doch ganz gleich, wie viele Zugeständnisse China zu machen bereit ist und wie sehr es verspricht, den Handel auszugleichen und seine Finanz- und Kapitalmärkte zu öffnen, die herrschenden Eliten in den USA lassen sich offenbar nicht beschwichtigen.

    Zweck des Handelskriegs ist das Bestreben, die globale Wirtschaftsstruktur umzugestalten und zu verhindern, dass China durch seine technologische Entwicklung und seine Feinabstimmung der internationalen Handelsstruktur wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangt. China bleiben zwei Möglichkeiten: eine stärkere Unterwerfung oder der Austritt aus dem neuen Welthandelssystem, in dem die Vereinigten Staaten nach wie vor das Sagen haben. Die USA sind nicht nur ein überlegenes Mitglied der Weltgemeinschaft, sondern auch deren Regelsetzer. Das Welthandelsregime der Nachkriegszeit wurde von den Vereinigten Staaten geschaffen, und sie sind das einzige Land der Welt, das trotz jahrzehntelang wachsender Handelsdefizite wohlhabend bleiben kann.

    Das multinationale Kapital (insbesondere das US-Kapital) und die chinesischen kapitalistischen Eliten haben am meisten von Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft profitiert. All dies geschah durch ökologische Degeneration und die Ausbeutung des Mehrwerts der Arbeit. Obwohl China eine beachtliche Entwicklung aufweist, ist die chinesische Industrie immer noch stark von den fortgeschritteneren Ländern abhängig. Der größte Teil der Wertschöpfung in China wird von multinationalen Konzernen erwirtschaftet. Im Finanzsektor behält China immer noch weitgehend seine Souveränität, was den Unmut des ausländischen Finanzkapitals hervorruft, das in dem Land eine höhere Rentabilität anstrebt. Dabei scheint die chinesische Regierung jedoch ihren Einfluss auf die ausländischen Finanzkapitalströme zu verlieren. Die chinesische Wertpapieraufsichtsbehörde (China Securities Regulatory Commission) gab im März 2020 bekannt, dass sie die Obergrenze für ausländische Beteiligungen an Wertpapierunternehmen abschafft. Zuvor lag sie bei 49, später bei 51 Prozent.

    Große Spaltung

    Die untergeordnete Stellung Chinas im globalen Handelsregime zeigt sich auch in seinen fehlenden Rechten bei der Preisgestaltung für wichtige Rohstoffe. Obwohl es der größte Importeur ist, hat China nicht das Recht, die Preise für die wichtigsten Rohstoffe auszuhandeln, da die bedeutendste Abrechnungswährung der US-Dollar ist und die internationalen Rohstoffmärkte hochspekulativ sind. In den letzten Jahren hat China seine eigenen Rohstoffmärkte aufgebaut, um eine größere Preismacht zu erlangen. Eine dieser Bemühungen ist die Schaffung des Petroyuan, der von den Vereinigten Staaten als Bedrohung für den Petrodollar angesehen wird, der seit den 1970er Jahren zum Eckpfeiler der nationalen Interessen der USA geworden ist. Mit anderen Worten: China ist bestrebt, ein vorteilhafteres internationales Handelsregime zu schaffen, wenn innerhalb des bestehenden Regimes keine günstigeren Bedingungen geschaffen werden können.

    Die große Spaltung des derzeitigen Welthandelsregimes nimmt Gestalt an. Um seinen Status in der globalen Industriekette zu sichern, muss China – passiv oder proaktiv – ein internationales, vom alten, US-dominierten Regime abgespaltenes Handelssystem etablieren. Es ist vielleicht noch zu früh, diese Spaltung als einen umfassenden neuen Kalten Krieg zu bezeichnen, da nicht alle Länder gezwungen sind, sich für eine Seite zu entscheiden. Aber wir werden Zeuge der Entstehung von zwei Kernen mit sich überschneidenden Lieferketten und Märkten, die auf komplizierte Weise miteinander verwoben sind.

    Bei dieser großen Spaltung ist nicht so sehr die sogenannte Thukydides-Falle (Hegemoniekampf zwischen einer aufstrebenden und einer etablierten Macht) besorgniserregend, sondern die Unhaltbarkeit des derzeitigen Schuldensystems. Das alte System mit dem Federal-Reserve-Mechanismus als Herzstück könnte sich immer mehr zu einem Schneeballsystem entwickeln. In letzter Zeit mussten die großen Zentralbanken auf verschiedene Arten auf eine quantitative Lockerung zurückgreifen, weil die private Nachfrage nicht ausreicht, um das Spiel am Laufen zu halten. Wird, wenn China die weitere Beteiligung an diesem im Kern US-amerikanischen System verweigert, oder schlimmer noch, wenn China einen Teil des Tributs anstrebt, die Welt einen Beitragszahler finden, der groß genug ist, um das Spiel aufrechtzuerhalten? Droht, wenn das große Schuldenspiel nicht mehr tragbar ist, wie es vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war, ein neuer Weltkrieg?

    Interne Zirkulation

    Die Regierung unter Xi Jinping ist derweil zu antizyklischen Maßnahmen zurückgekehrt, indem sie eine effektive Nachfrage geschaffen hat. Im Juli 2020 schlug die Zentralregierung zur Bewältigung des Zusammenbruchs der globalen Lieferketten und des Wirtschaftsabschwungs vor, »ein neues Entwicklungsmuster zu schaffen, das sich auf den ›internen Kreislauf‹ konzentriert, und ein Wachstumsmodell mit ›doppeltem Kreislauf‹ zu beschleunigen, bei dem sich der ›interne Kreislauf‹ und der ›internationale Kreislauf‹ gegenseitig fördern.« Der interne Kreislauf umfasst die Binnenwirtschaft, insbesondere auf dem Land. Die lokalen Regierungen investierten rund 34 Billionen Yuan (4,9 Billionen US-Dollar) in »neue Infrastruktur«-Projekte wie 5G-Technologie, Internet der Dinge, Cloud Computing, Blockchain, Big Data und intelligentes Verkehrswesen.

    Eine weiterer wichtiger politischer Ansatz ist die Wiederbelebung des ländlichen Raums mittels der Förderung einer umweltfreundlichen Wirtschaft. Eine der wichtigsten Strategien der ländlichen Revitalisierung ist die Aufwertung der natürlichen Ressourcen in den Dörfern sowie die »Kapitalvertiefung der Ökowirtschaft«, um die durch den Handelsüberschuss und den Zustrom ausländischen Kapitals verursachte Krise des Geldüberflusses zu lösen.

    Chinas derzeitige wirtschaftliche und währungspolitische Maßnahmen sind Teil seiner proaktiven Bemühungen, sich von dem jahrzehntelang verfolgten Entwicklungsmodell westlicher Modernisierung zu lösen. Die nationale Entwicklungsstrategie verlagert sich allmählich auf eine umfassende nachhaltige Entwicklung, die ressourceneffizient und umweltfreundlich ist. Die offizielle Politik der ökologischen Zivilisation, der Wiederbelebung des ländlichen Raums und der Beseitigung der Armut sind wesentliche Strategien der Transformation.

  • 16.12.2022 19:30 Uhr

    Die große Lüge

    junge Welt und Melodie & Rhythmus präsentieren die Weltpremiere eines Dokumentarfilms über den Putsch gegen die Labour-Ikone Jeremy Corbyn
    Susann Witt-Stahl
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    Erzfeind und »Parteifreund« Jeremy Corbyns: Keir Starmer (r.; Szenenfoto aus »The Big Lie«)

    Bei seinen Wahlkampfauftritten wurde er stürmisch als großer Hoffnungsträger gefeiert. »Oh, Jeremy Corbyn« sangen seine Anhänger nach der Melodie des The-White-Stripes-Pophits »Seven Nation Army«. Nach Jahrzehnten politischer Finsternis des Thatcherismus und des Blairismus hatte sich die britische Arbeiterklasse unter seiner Führung kraftvoll zurückgemeldet. Er sei stolz, dass es gelungen sei, so viele Menschen zu mobilisieren, die sich vorher noch nie für Politik interessiert hatten. »Sie glauben uns, dass wir ihnen wirklich etwas anzubieten haben«, sagte der damalige Labour-Chef in einer Rede vor zigtausend vorwiegend jungen Besuchern auf dem Glastonbury-Festival 2017.

    »Er war eine Kriegserklärung an die herrschende Klasse«, heißt es in dem Dokumentarfilm »The Big Lie«, der eine unglaubliche Geschichte nachzeichnet, die 2015 mit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden ihren Lauf nahm. Eine halbe Million Briten trat damals in die Partei ein. »Es war eine Massenbewegung entstanden, mit der niemand gerechnet hatte«, so der Filme­macher Christopher Reeves. »Gleichzeitig war es der Beginn der größten politischen Hexenjagd des 21. Jahrhunderts.«

    In der 80minütigen Dokumentation wird ein Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse geboten, die ihr vorausgingen: Die Eliten und ihre Tories hatten auf die Losung der Corbynisten, »For the Many, Not the Few!«, und auf ihre Forderungen – Steuererhöhungen für die Reichen, mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem, Schulen und Bildung, ein Mindestlohn von zehn Pfund – äußerst allergisch reagiert. Als Corbyn, langjähriger Aktivist der Gewerkschafts- und Friedensbewegung, auch noch seine radikale Ablehnung von Nuklearwaffen äußerte, schickte das Establishment seine Medienarmada in die Spur: »Der Kollaborateur«, titelte Daily Mail und »entlarvte« Corbyn als ehemaligen Informanten sowjetischer Geheimdienste; das Revolverblatt The Sun behauptete, er sei im Bunde mit Dschihadisten – der Labour-Führer wurde in der britischen Öffentlichkeit systematisch als Bedrohung für die nationale Sicherheit dargestellt und dämonisiert.

    Als Corbyn bei der Unterhauswahl 2017 trotz der Diffamierungen ein hervorragendes Ergebnis einfuhr und nur knapp den Einzug in die Downing Street verpasste, holte man zum Vernichtungsschlag aus: Ein riesiges Netzwerk aus Neocons und anderen Labour-Rechten, die ihren eigenen Parteichef von Anfang an bis aufs Messer bekämpft hatten, brachte – mit tatkräftiger Hilfe von konservativen und extremen Rechten, darunter auch Trumpisten, und radikalen Zionisten – das schwerste aller Propagandageschütze in Stellung: Corbyn, der sich immer für die unterdrückten Palästinenser eingesetzt hatte, wurde mit einer bisher beispiellosen Schmutzkampagne aus konstruierten bis aberwitzigen Antisemitismusvorwürfen zu Fall gebracht. Sein Wahlkampf 2019 ging in einem Jauchemeer aus perfider Hetze, Lügen und Rufmord unter und endete mit einem Debakel – Labour verlor 59 Sitze. Corbyn musste zurücktreten und wurde sogar aus der Partei ausgeschlossen.

    Die Labour-Rechte habe die Drecksarbeit für die herrschende Klasse gemacht, lautet eine erschütternde Bilanz, die Andrew Murray, Corbyns ehemaliger Berater, in »The Big Lie« zieht. »Da waren keine Panzer in den Straßen mehr nötig.« Der Coup – bei dem Corbyns Nachfolger Keir Starmer eine Schlüsselrolle spielte – habe letztlich »nur einen Sinn und Zweck gehabt«, sagt ­Jackie Walker, Vizevorsitzende der Graswurzelorganisation »Momentum«, die 2015 extra zur Unterstützung von Corbyns Wahlkämpfen gegründet worden war: »Es ging um die Zerschlagung des Sozialismus.« Außer Murray und Walker kommen in dem Film weitere namhafte Vertreter des linken Labour-Flügels – auch mit (selbst-)kritischen Analysen – zu Wort, beispielsweise Chris Williamson, Exminister in Corbyns Schattenkabinett, sowie der Filmregisseur Ken Loach. Ebenso Graham Bash und weitere Mitglieder der 2017 gegründeten Organisation »Jewish Voice for Labour«, die besonders aggressiven Angriffen ausgesetzt war. Der Schauspieler und Komiker Alexei Sayle wirkt als Off-Sprecher und ­Kommentator mit.

    »The Big Lie« ist eine Produktion des »Platform-Films«-Kollektivs aus London, das seit mehr als 40 Jahren Dokumentationen, beispielsweise für die Gewerkschaftslinke und für die »Marx Memorial Library«, herstellt und zu den bedeutendsten Bewegtbildchronisten des großen Bergarbeiterstreiks 1984–1985 zählt.

    Am 15. Januar werden junge Welt und das Kulturmagazin Melodie & Rhythmus im Kino Babylon in Berlin-Mitte die Weltpremiere von »The Big Lie« veranstalten (Ausschnitte daraus werden bereits tags zuvor auf der XXVIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz gezeigt). Der Film wird in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln zu sehen sein. Im Anschluss an die Aufführung gibt es ein Podiumsgespräch mit Jackie Walker und weiteren spannenden Gästen.

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