Gegen Rassismus und Faschismus: Ezé Wendtoin und Mal Élevé heizten dem Publikum der RLK kräftig ein ...
Im Anschluss an das aufschlussreiche Jugendpodium heizten die beiden Musiker Ezé Wendtoin und Mal Élevé dem dieses Jahr ausgesprochen jungen Publikum der RLK ein. Ezé Wendtoin kommt aus Burkina Faso – wie Moderatorin Gina Pietsch erklärte, heißt der Name übersetzt »Land der Aufrechten«. Mal Élevé (zu deutsch »schlecht erzogen«) wiederum wurde als Sänger der Heidelberger Gruppe Irie Révoltés (in etwa »Glückliche Aufständische«) bekannt, die allerdings 2017 aufgelöst wurde. Beide Sänger wandten sich in ihren Songs zwischen Pop und HipHop vor allem gegen den Rechtsruck, gegen Rassismus und Faschismus. Auch erinnerten sie an den derzeit stattfindenden AfD-Parteitag in Riesa – während zur gleichen Zeit über soziale Netzwerke Nachrichten eintrafen, dass ein Abgeordneter der Partei Die Linke dort bei einer Gegendemonstration übel von Einsatzkräften malträtiert worden sei. »Faschismus! Warnung! Sie kommen nicht durch!« sang Mal Éléve unter dem Beifall des Publikums. (jt)
12.01.2025 19:23 Uhr
Bildstrecke (3): 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz
Impressionen von der Konferenz in den Wilhelm Studios Berlin
Torben Höke
Anja Panse und Anna Keil zeigen Auszüge aus dem Theaterstück "CLARA Z- Kämpfen wo das Leben ist"
Jens Schulze
Die Teilnehmer des Jugendpodiums diskutierten unter der Frage "Alle Räder stehen still?" Perspektiven der gewerkschaftlichen und der Jugendarbeit
Christian-Ditsch.de
Konzert mit Ezé Wendtkoin aus Burkina Faso
Christian-Ditsch.de
Special Guest: der Rapper Mal Élevé (vormals Irie Révoltés)
jW
Kundgebung im Saal: Solidarität mit Palästina und Kuba
Torben Höke
Der Politikwissenschaftler Yücel Demirer spricht über Krieg und Faschisierung
12.01.2025 19:23 Uhr
Für sofortigen Waffenstillstand
Die Saalmanifestation »Unblock Cuba! Free Palestine!«
Anna Joerke/jW
Die Saalmanifestation ist wie immer aktuellen internationalen Kämpfen gewidmet. »Unblock Cuba! Free Palestine!« ist das Motto. George Rashmawi, Vorsitzender der Union der palästinensischen Gemeinden, Institutionen und Aktivitäten in Europa, spricht über die Lage in Gaza. Der Konflikt habe nicht am 7. Oktober 2023 begonnen, betont er, sondern mit den Vertreibungen von 1948. Seit 15 Monaten herrsche in Gaza ein Inferno, vor den Augen der Weltöffentlichkeit werde ein Völkermord verübt. Die Berichterstattung in Deutschland darüber erreiche nicht einmal das kritische Niveau von Teilen der israelischen Presse. Und die deutsche Regierung interveniere vor dem Internationalen Gerichtshof zugunsten der israelischen Regierung. Die Kriegsverbrechen hätten derweil ein solches Ausmaß angenommen, dass der Internationale Strafgerichtshof sich gezwungen gesehen habe, Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten und den ehemaligen Verteidigungsminister zu erlassen. George Rashmawi fordert zum Abschluss einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza.
Emilia Neurys, Tierärztin und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas, spricht über die schwierige Lage in Kuba, wo die jahrzehntelange US-Blockade und eine Häufung von Naturkatastrophen gravierende Auswirkungen haben. Sie betont, dass der Kampf auch international nur zu gewinnen sei, wenn die linken und progressiven Kräfte einig bleiben. Von »Spaltung und Sektiererei« profitiere nur der Imperialismus. Ausdrücklich spricht sie sich für das Recht des palästinensischen Volkes auf einen unabhängigen Staat in den Grenzen von vor 1967 und mit Ostjerusalem als Hauptstadt aus. In Kuba werde die Kommunistische Partei Kubas gemeinsam mit dem Volk den Aufbau des Sozialismus vorantreiben: »Wir werden unermüdlich arbeiten!« Die in vielen Jahren des Kampfes errungene Souveränität werde verteidigt. (jW)
12.01.2025 19:23 Uhr
»Diese EU ist nicht reformierbar.«
Peter Mertens von der belgischen Partei der Arbeit (PVDA-PTB), spricht zu Aufrüstung und Krise in Europa
Torben Höke
Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit (PVDA-PTB), spricht über das Thema »europäische Friedensordnung«. Die USA, die ihre globale Hegemonie nicht aufgeben wolle, stehe heute vor Herausforderungen wie noch nie in der Geschichte. China sei viel stärker, als es die Sowjetunion je war. In diesem Kontext wolle die EU nach dem Bekunden von Ursula von der Leyen lernen, die »Sprache der Macht zu sprechen«. Die ehemaligen europäischen Kolonialmächte seien seit der Nachkriegszeit Juniorpartner der USA. In diesem Zusammenhang entstand die Idee einer europäischen Einigung, und am Anfang habe ein kollektiver Neokolonialismus gestanden. Seit 2022 werde nun systematisch die Steigerung der Militärausgaben betrieben. Mehr Kanonen, mehr Gewehre sei die neue »Geostrategie« der EU.
Europas Position habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Bretton Woods 1944, als der Dollar zum Weltgeld aufstieg, und vor allem mit den erfolgreichen antikolonialen Kämpfe geändert. Mit den Verträgen von Rom 1957 und der damit erfolgenden Prozesse der politischen und ökonomischen Kooperation der europäischen Staaten in den EG hat sich, wie der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah festgestellt habe, ein Neokolonalismus des gemeinsamen europäischen Marktes entwickelt.
Sieben Jahrzehnte nach dem Vertrag von Rom ist die Europäische Union in schlechtem Zustand, sagte Mertens. Offene Geopolitik und bisher ungekannte Aufrüstung seien die Losungen des Tages. Mertens stellte die rhetorische Frage, warum die riesigen Summen, die in die Rüstungen fließen, nicht an Krankehäuser, nicht an Schulen, nicht für den Aufbau einer Friedensordnung dienen. Alles werde auf dem Altar der Rüstungsproduktion geopfert, der Green Deal ist beerdigt worden.
Europa sei inzwischen immer tiefer in die Krise gerutscht. Rezession in Deutschland, Macron in Frankreich abhängig von Marine Le Pen, die Niederlande haben sich den Grillen von Geert Wilders unterworfen, eine ultrarechte Regierung in Italien und wahrscheinlich bald auch in Österreich. Belgien sei Weltmeister in nicht endenden Regierungsverhandlungen, die Widersprüche zwischen Frankreich und Deutschland verschärfen sich. Die Europäische Union verstricke sich immer tiefer in Widersprüche. Mertens: »Die EU der Krise und des Krieges ist nicht reformierbar. Wir brauchen eine komplett anderes Europa.«
Dabei sei die Wut der Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Europa groß. Marxisten sollten den Willen zu radikaler Änderung erkennen und damit umgehen. Mertens rief dazu auf Arbeiterparteien mit dem Ziel Sozialismus zu gründen, und politisch die großen Fragen bündeln: »Pensionen statt Kanonen, Löhne statt Kanonen, Schulen statt Kanonen, Gesundheitswesen statt Kanonen, Öcologie statt Kanonen, Demokratie statt Kanonen, Sozialismus statt Krieg.«
12.01.2025 19:23 Uhr
Solidarische Grüße
Die Frage nach der Überwindung dieser Zustände: Grußbotschaft von Daniela Klette
Christian-Ditsch.de
Rolf Becker trägt eine Grußbotschaft der inhaftierten Daniela Klette vor. Klette sitzt seit 2024 in Vechta in Haft, derzeit bereitet die Justiz den Prozess gegen sie vor. Sie habe sich immer als Teil der weltweiten Bewegungen gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Kapitalismus, Krieg und Militarismus gesehen, schreibt Klette. Die Mächtigen rüsteten für den Erhalt ihrer Macht für den großen Krieg, die Armut wachse, der Kapitalismus steuere auf eine ökologische Katastrophe zu. Der Zustand der heutigen Welt zeige, dass die Fragen nach Überwindung dieser Zustände gerechtfertigt waren. »Wir werden diese Fragen nur in großen Bewegungen beantworten können«, betont Daniela Klette – und dafür gibt es starken Beifall. Die Inhaftierten seien im Gefängnis, weil revolutionäre Kämpfe delegitimiert werden sollten. Der Prozess gegen sie sei ein Prozess gegen eine antikapitalistische, linksradikale, emanzipatorische Opposition, »gegen alle, die sich mit der Frage der Überwindung des Kapitalismus auseinandersetzen«. Sie freue sich über jegliche Solidarität und über jeden, der zu ihrem demnächst beginnenden Prozess komme. Sie schließt mit solidarischen und kämpferischen Grüßen. (jW)
12.01.2025 19:22 Uhr
Über die Kanonen reden
Die abschließende Podiumsdiskussion der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Joshua Regitz/jW
Im Rahmen der abschließenden Podiumsdiskussion diskutiert jW-Chefredakteur Nick Brauns mit Petra Erler (Autorin/SPD-Mitglied), Mark Ellmann (DKP/GEW), Ulrike Eifler (Die Linke/IG Metall) und einem Vertreter von »Rheinmetall entwaffnen« über die Frage, wie die Aufrüstung in Deutschland zu stoppen ist. Ulrike Eifler sagt auf die Frage, was die »Zeitenwende« für die Menschen in den Betrieben bedeute, dass das ein Frontalangriff sei. Die »Zeitenwende« werde von den arbeitenden Menschen bezahlt. Es werde ein Klima des Verzichts erzeugt – die Zeitenwende sei auch eine Umverteilungsstrategie. Mark Ellmann verweist, angesprochen auf die Analyse der DKP zum »reaktionär-militaristischen Staatsumbau, auf den Zusammenhang von reaktionärer Entwicklung und Sozialabbau im Inland und Aggressivität nach außen. Die Verfassungsrealität verändere sich, etwa im Bereich der Meinungsfreiheit. Petra Erler betont, dass die Mehrheit der Menschheit nach Verständigung und Frieden suche – der deutsche Mainstream dagegen stehe für eine Minderheit. Der Vertreter von «Rheinmetall entwaffnen» sagt, dass Konzerne wie Rheinmetall auf dem Weg in die «gesellschaftliche Mitte» seien. «Rheinmetall entwaffnen» versuche, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass in Deutschland die Waffen hergestellt werden, mit denen in anderen Ländern getötet wird.
Nick Brauns fragt Ulrike Eifler, wie vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen über die Stellung zur Friedensbewegung der Stand der Debatte in der Linkspartei ist. Eifler sagt, dass sie es regelmäßig erlebe, dass die Linke häufig nicht mehr als Friedenspartei wahrgenommen werde. Ein aktueller schwerer Fehler sei, dass im Bundestagswahlkampf, während andere über Kanonen statt Butter sprächen, von der Partei vor allem über Butter, aber kaum über die Kanonen gesprochen werde. Eigentlich müsse die Linkspartei die Infrastruktur der Friedensbewegung, die seit dem NATO-Krieg gegen Serbien 1999 schwer angeschlagen sei, stärken.
Petra Erler fordert von der SPD eine neue Entspannungspolitik. Das sei keine Illusion. Diplomatie und Verständigung seien allerdings kriminalisiert. Mark Ellmann betont, dass ein Zusammengehen mit der AfD in der Friedensfrage keine Option sei. Die AfD sei eine Alternative für das herrschende Monopolkapital. Der Vertreter von «Rheinmetall entwaffnen» konstatiert eine «gewisse Orientierungslosigkeit» in der Friedensbewegung. Die Friedensbewegung sei aber noch nie eine «homogene Truppe» gewesen. Wichtig sei, eine Klassenposition und eine antikapitalistische Orientierung in die Friedensbewegung hineinzutragen. Teile der «radikalen Linken» seien allerdings «umgekippt» und für Waffenlieferungen.
Petra Erler sagt mit Blick auf die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen, dass die Grundsatzentscheidung darüber bereits 2017 gefallen sei. Jeder Vermittlungsversuch, den INF-Vertrag zu retten, sei unterminiert worden. In Deutschland würden diese US-Entscheidungen einfach nachvollzogen. Hier gehe es um Angriffswaffen, nicht um Verteidigungswaffen. Es gehe den USA darum, territoriale Verteidigungssysteme in Russland und China «zu knacken».
Mit Blick auf die gewerkschaftliche Diskussion sagt Ulrike Eifler, dass die Integration der Gewerkschaften in den Regierungskurs ein großes Problem sei. Aber es gebe Kollegen, die dafür kämpfen, dass die Gewerkschaften Teil der Friedensbewegung sind. Die Frage der Mittelstreckenraketen spiele in dieser Diskussion eine sichtbare Rolle. Die Gewerkschaften seien unersetzlich für die Friedensbewegung, in der die «Kraft der Klasse» zur Geltung kommen müsse. Mark Ellmann sagt, dass es bereits gewerkschaftliche Friedensproteste gebe. Aber oft fehle noch der Mut, diese gesellschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Man dürfe nicht den Fehler machen, sich Gedanken über die Probleme der Herrschenden zu machen, während die Herrschenden tägliche neue Probleme für die Arbeiterklasse schaffen. (jW)
08.01.2025 19:30 Uhr
Bewegungen verbinden
Der deutsche Aufrüstungs- und Kriegskurs kann nur durch das Zusammengehen von Arbeiter- und Friedensbewegung gestoppt werden
Mark Ellmann
Swen Pförtner/dpa
Traditionell bildet die Podiumsdiskussion den Abschluss der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Kriegstüchtig? Nie wieder! Wie stoppen wir die Aufrüstung in Deutschland?« Wie in den Jahren zuvor haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt vorab vorzustellen. (jW)
Mehr als 60 Prozent der Deutschen sind gegen die Lieferung des Marschflugkörpers »Taurus« an die Ukraine. Laut ARD-»Deutschlandtrend« vom November findet sich in dieser Mehrheit fast jeder zweite Union-Wähler wieder. Deren Kanzlerkandidat Friedrich Merz formuliert mittlerweile »Bedingungen« für die »Taurus«-Lieferung, damit Deutschland keine Kriegspartei werde. Sollte Merz Kanzler werden, so ist also auch er, wie sein Vorgänger im Amt, mit der mangelnden Kriegstüchtigkeit der Wählerinnen und Wähler konfrontiert.
Bellizisten, also verbale Kriegstreiber in Leitmedien und Parteien, wurden nicht müde, den scheidenden Kanzler als »Zweifler« darzustellen, der zu »zögerlich« an der Eskalationsspirale drehe. Dabei endet mit der Regierung Scholz eine SPD-geführte Koalition, die geschafft hat, woran die Außenpolitik des deutschen Imperialismus seit der Euro-Krise verstärkt arbeitet: die Schaffung einer Heimatfront für eine deutsche Führungsrolle in Europa und damit in der Welt.
Besondere Dienste haben dabei – wie schon beim Aufstieg der AfD – die großen Medien geleistet. Trotzdem ändern sich die Zustimmungsraten zu mehr Waffenlieferungen und Kriegseskalation kaum. Statt dessen fühlt die Mehrheit, als könnte sie ihre Meinung zu politischen Themen nur hinter vorgehaltener Hand äußern. Kein Wunder, wird doch jegliches Befürworten von Diplomatie und Abrüstung als Auftragsarbeit für den Kreml oder andere »Feinde« abgetan.
Kein Geld für Sozialklimbim
Die 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz findet fast drei Jahre nach der Verkündung der »Zeitenwende« statt. Diese ist ihrem Wesen nach ein militaristisch-reaktionärer Umbau der gesamten Gesellschaft mitsamt Sozialkahlschlag zum Zwecke der Schaffung der Kriegsfähigkeit gegen Russland. Seitdem die Kriegskredite mit dem Titel »Sondervermögen« durch den Bundestag geprügelt wurden, wird die Bundeswehr aus- und aufgerüstet. Der zurecht unbeliebte damalige Finanzminister Christian Lindner läutete dafür das Ende der »reinen Verteilungspolitik« ein. Das ist die Kehrseite der »Zeitenwende«, denn wenn alle Gelder in militärische Aufrüstung gesteckt werden, bleibt nichts mehr für Soziales, Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur.
Und so steht das »Bürgergeld« auf der Kürzungsliste der nächsten Regierung. Dazu kommen Überlegungen zur Reform von Kündigungs- und Arbeitsschutzgesetzen und konkrete Stellenabbaupläne in der Industrie. Ebenfalls gekürzt werden soll die Unterstützung für Menschen, die vor Krieg fliehen. Gegen Kinderarmut oder marode Krankenhäuser ist kein Geld da, statt dessen gibt es Kassenbeitragserhöhungen auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung bei zeitgleicher Ankündigung von weiteren Krankenhausschließungen.
Währenddessen wird ein »Operationsplan Deutschland« bekannt und von tausend Kriegsverletzten täglich gesprochen, die künftig in den Kliniken behandelt werden sollen – während alle wissen und viele täglich als Beschäftigte oder Patienten erfahren müssen, dass das Gesundheitssystem schon jetzt am Anschlag ist. Im vergangenen Jahr zeigten Brückeneinstürze das ganze Dilemma kaputtgesparter Infrastruktur.
Der Kriegskurs verschärft, was wir schon in Friedenszeiten ertragen müssen: Bildung, Gesundheit, Heizung, Brot und Frieden – nichts davon hat dieses System für uns übrig.
Tagtägliche Propaganda für die Verlängerung von Kriegen führt zum Diskursbruch durch Fake News. Die ständige Wiederholung der Narrative, nach denen Russland gegenüber der NATO eine Bedrohung darstelle zum Beispiel, trifft auf eine anderslautende Realität: Selbst die europäischen NATO-Staaten ohne die USA liegen bei ihren militärischen Budgets, Truppenstärken und Waffensystemen vor Russland, wie eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie nachweist. Oberst a. D. Richter stellt für die Friedrich-Ebert-Stiftung fest, dass die Eskalationsgefahr hingegen von der realen Bedrohung durch die NATO gegenüber Russland abhängt, also konkret davon, ob »der Westen« oder die NATO ihr Ziel nach »Siegfrieden« und »Regime-Change« in Russland erreichen und umsetzen können. Diese Argumente nicht zu würdigen, schränkt, wie das Gerede von »Staatsräson« und »schweigender Mehrheit« (Robert Habeck), die gelebte Verfassungsrealität des Grundrechts der Meinungsfreiheit ein.
Es ist die auf Spaltung der Arbeiterklasse ausgelegte Aufrüstungs- und Kriegspolitik des Monopolkapitals, die den Nährboden für den gesellschaftlichen Rechtsruck mitsamt dem Aufstieg der AfD mit ihrem faschistischen Flügel bietet. Die Abschaffung des Asylrechts durch die Grenzschließungen der SPD-Grünen-FDP-Regierung – getrieben von CDU und CSU, die schon neue »Obergrenzen« fordern – sorgt für Hetze statt für Lösungen. In diesem Klima kann sich die AfD als scheinbare »Alternative« präsentieren, indem sie »brennendste Nöte und Bedürfnisse« wie Energiepreise und Eskalationspolitik anspricht. Dabei steht die AfD für die NATO und kann sich doch als schärfster Kritiker des NATO-Kriegskurses gegen Russland inszenieren. Sie inszeniert sich als Alternative für Deutschland bzw. der arbeitenden Leute und bekommt dafür lobende Worte vom reichsten Mann der Welt, dem US-Regierungsberater Elon Musk.
Ablenkungsmanöver
Dabei zeigt die Migrationspolitik der AfD-Konkurrenten von CDU bis SPD deutlich, dass das Monopolkapital die durch Ausbeutung und Kriege verursachte Migration nutzt, um die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen zu verschärfen und um von den konkreten Maßnahmen der Kriegspolitik abzulenken: Für die langen Wartezeiten beim Arzt seien nicht die mangelnden Sozialausgaben aufgrund der Kriegskredite verantwortlich, sondern die Ausländer, will uns der nächste Kanzler glauben machen. Für die vielen Verspätungen bei der Bahn sind diesen Politikern zufolge auch die streikenden Bahnangestellten schuld und nicht das Management. Da ist es nur konsequent, dass dieselben Kräfte die Einschränkung des Streikrechts fordern und dabei wie selbstverständlich einen Übergang zur Kriegswirtschaft organisieren.
Die deutsche Außenpolitik, genauer die Außenpolitik des deutschen Imperialismus, der mit der Euro-Krise ab 2008 die dominante Rolle in EU-Europa einnahm, sieht sich heute mit neuen Problemen und steigender Abhängigkeit von den USA konfrontiert. Der EU-Austritt Großbritanniens, die gescheiterten Versuche einer eigenständigen EU-Militärpolitik unter deutscher Führung und die Wiederbelebung der US-dominierten NATO haben die Position Berlins in Europa und die EU als imperialistisches Bündnis vorerst geschwächt. Hinzu kommt der abgeschnittene Zugriff auf ehemals sowjetische Bodenschätze als auch der mittlerweile messbare wirtschaftliche Aufstieg der VR China, welcher auf geplanter Entwicklung der Produktivkräfte basiert. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat bereits 2019 die Weichen für den künftigen Umgang mit dem systemischen Rivalen China gestellt und dabei – in anderen Worten ausgedrückt – festgestellt, dass die imperialistischen Zentren zunehmend unter Druck geraten werden, ihren weltweiten Hegemonieanspruch durchzusetzen. Die Folge ist nicht von Putin oder Xi, sondern von der Realität geprägt, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist: Der deutsche Imperialismus zeigt uns seine reaktionäre Seite mit dem größten Aufrüstungsprogramm der Geschichte und finanziert dieses auf unserem Rücken.
Unabhängig davon, wie sich die wirtschaftliche Konkurrenz zu den USA entwickelt und wie sehr dabei digitale Abhängigkeit und Russland-Sanktionen den Handlungsspielraum des deutschen Imperialismus einschränken: Beim Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg gegen die VR China und deren Verbündete vertreten sie gemeinsame Interessen. Die massive Hochrüstung in Deutschland dient dabei nicht nur kurzfristigen Zielen wie der Kriegsfähigkeit gegen Russland, sondern auch der Schaffung einer ökonomischen Grundlage für die Großmachtphantasien von SPD bis AfD.
Deutsche Führungsrolle
Diese deutsche »Führungsrolle« zeigt sich schon heute bei der Stationierung deutscher Soldaten an der russischen Grenze in Litauen, bei der Waffenschieberrolle der von Deutschland dominierten EU oder bei der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Denn die geplante Stationierung der Raketen macht Deutschland nicht nur zur Führungsmacht an der Seite der USA, sondern auch zum potentiellen Kriegsschauplatz.
Ob es so weit kommt, hängt davon ab, wie lange wir die Einbindung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in diesen Kriegskurs und damit einhergehend den Angriff auf erkämpfte soziale Standards noch zulassen werden. Die gemeinsame Demonstration unter dem Motto »Soziales rauf! Rüstung runter« von Verdi, GEW und Münchner Friedensbündnis am 12. Oktober 2024 war ein gutes Beispiel dafür, wie wir der Kriegstüchtigkeit die soziale Frage entgegenstellen können.
Es muss uns gelingen, Arbeiter- und Friedensbewegung in Ost- und Westdeutschland zu einen, indem wir den Kampf für den Frieden in die Betriebe und auf die Plätze tragen. Der am 3. Oktober veröffentlichte »Berliner Appell« richtet sich gegen die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland und kann das verbindende Element zwischen den verschiedenen Kämpfen der Arbeiter- und Friedensbewegung gegen die Kriegstüchtigkeit Deutschlands werden.
08.01.2025 19:30 Uhr
Gegen Krieg und Kapital
»Rheinmetall entwaffnen« markiert die Profiteure der Aufrüstung. Linke Interventionen in die teilweise rechtsoffenen Antikriegsproteste sind notwendig
Sarah G.
Hartenfelser/imago
Demonstration von Rheinmetall entwaffnen in Kassel (3.9.2022)
Im Jahr 2018 rollten »Leopard 2«-Panzer aus deutscher Produktion durch das seither von der Türkei besetzte Afrin im Nordwesten Syriens. Dass die kurdische Selbstverwaltung von der türkischen Armee so offensichtlich mit Hilfe deutschen Kriegsgeräts angegriffen werden konnte, gab den Anstoß für eine antimilitaristische Mobilisierung, an deren Ursprung ein internationalistischer Gedanke stand. Statt ungehört an Staatsoberhäupter zu appellieren, beschlossen wir, die deutsche Rüstungsindustrie direkt anzugreifen und damit praktische Solidarität mit Unterdrückten und Ermordeten weltweit zu üben.
Die Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung erwächst dabei nicht nur aus der Notwendigkeit, die Komplizenschaft der deutschen Rüstungsindustrie mit mordenden Militärs und autoritären Herrschern wie Recep Tayyip Erdoğan anzuprangern. Wir halten die Konzepte von Demokratie und Freiheit, die in der kurdischen Selbstverwaltung jenseits des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen Ökonomie entwickelt und praktiziert werden, für wegweisend. Um die herrschenden Verhältnisse zu überwinden, ist die demokratische Konföderation der Völker und Gemeinschaften unser Horizont. Den Versuch eines multiethnischen Zusammenlebens, basisdemokratisch und an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, wollen wir durch internationale Solidarität unterstützen. Und ebenso wie die Befreiung der Frauen zentraler Bestandteil der Revolution in Rojava ist, betonen wir die enge Verzahnung von Krieg, Kapitalismus und patriarchaler Unterdrückung durch eine autonom-feministische Organisierung innerhalb des Bündnisses und bei Aktionen.
Kein Frieden im Kapitalismus
»Rheinmetall entwaffnen« ging es von Anfang an nicht nur um strengere Rüstungsexportkontrollgesetze oder die Einstellung militärischer Produktion. Vielmehr geht es auch darum, auf die militärische Absicherung des kapitalistischen Systems zu verweisen, bei der Staaten wie die Bundesrepublik ganz vorne mitspielen. Die Bundesregierung propagiert heute ganz offen Aufrüstung zur Durchsetzung ihrer eigenen und westlicher Interessen in der Welt. Dass es dabei eben nicht um die Einhaltung von Menschenrechten geht, zeigt nicht zuletzt das Paktieren mit nützlichen Autokraten wie Erdoğan, die offene Unterstützung der menschenverachtenden Regierung Benjamin Netanjahus und Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Dass einige Nationalstaaten in der internationalen Hackordnung weiter unten stehen, bedeutet nicht, dass sie nicht ihrerseits versuchen, ihren heimischen Unternehmen Zugriff auf Ressourcen anderswo zu sichern. Daher verwehren wir uns einem Lagerdenken, das meint, in jeglichen gegen die globale Vorherrschaft der USA gerichteten Initiativen das »kleinere Übel« erkennen zu wollen, das es zu unterstützen gilt. Gleichzeitig ist auch uns die Heuchelei unerträglich, mit der der Westen die eigenen imperialistischen Ambitionen verschleiert.
Dass es heute vergleichsweise nur noch wenige wirkmächtige linke Gegenprojekte zur herrschenden kapitalistischen Weltordnung gibt, hat dazu beigetragen, dass linke Antikriegspositionen deutlich an Schärfe und Mobilisierungskraft verloren haben. Nicht umsonst blieb es in bezug auf den seit 2011 in Syrien tobenden Krieg recht still in der deutschen Linken. Dass sich Teile der Friedensbewegung positiv auf Russland oder Baschar Al-Assad als Bollwerke gegen den US-Imperialismus bezogen, war für viele von uns befremdlich. Gleichzeitig konnten wir – zum Teil politisiert zu Zeiten der westlichen Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen – ein militärisches Eingreifen des Westens nicht befürworten. Dieses anscheinende Dilemma verfolgt uns bis heute und spiegelt sich auch in aktuellen Auseinandersetzungen um die Aufrüstung der Ukraine gegen Russland wider.
»Rheinmetall entwaffnen« ist ein Vorschlag an die linke Bewegung, wieder entschlossener gegen Militarismus und Imperialismus aktiv zu werden: indem wir die deutsche Rüstungsindustrie angreifen und uns auf den Hauptfeind im eigenen Land fokussieren, anstatt darüber zu sinnieren, welche Herrscher uns auf menschenfreundlichere Art und Weise unterdrücken, während uns sowieso niemand nach unserer Meinung fragt. In den vergangenen Jahren haben wir zu antimilitaristischen Aktionswochen im Rahmen spektrenübergreifender Camps mobilisiert und Blockadeaktionen gegen Rheinmetall in Unterlüß, Heckler & Koch in Oberndorf, Krauss-Maffei Wegmann in Kassel und kürzlich gegen die Rüstungsindustrie in Kiel durchgeführt. 2019 gelang es uns zudem, die Rheinmetall-Aktionärsversammlung zu stören; in Unterlüß gedachten wir mit einem Weg der Erinnerung der bis zu 5.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und setzten einen Schwerpunkt auf Rheinmetalls Machenschaften im Faschismus.
Austausch fördern
Die sich überschlagenden Ereignisse der vergangenen Jahre haben die Notwendigkeit einer Antikriegsbewegung mit einer linken Perspektive noch verstärkt. Seit Verkündung der »Zeitenwende« scheint die militärische Eskalation das offizielle Mittel der Wahl zu sein. Wegen der russischen Invasion in der Ukraine und des nun seit über einem Jahr andauernden Massakers der israelischen Armee an den Palästinenserinnen und Palästinensern gingen so viele Menschen gegen Krieg auf die Straße wie seit dem US-Einmarsch im Irak nicht mehr. Allerdings standen die verschiedenen protestierenden Gruppen teils gleichgültig nebeneinander oder sich gar unversöhnlich gegenüber.
In Berlin diskutierten und demonstrierten wir unter dem Motto »No War but Class War« gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, die die Aktienkurse von Rheinmetall in ungeahnte Höhen treiben und das Gemetzel von Tausenden von ukrainischen und russischen Soldaten und Zivilisten weiter befeuern. Wir demonstrieren mit »Stop Arming Israel« gegen die Unterstützung von Bundesregierung und deutscher Rüstungsindustrie, ohne die die Ermordung Zehntausender und die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser im Gazastreifen nicht möglich wäre. Und wir protestieren auch jetzt gegen den neuen Rüstungsdeal mit der Türkei, der die Existenz der kurdischen Selbstverwaltung und damit auch die Hoffnung und Perspektive, die diese gibt, bedroht.
Angesichts der neuen Allgegenwärtigkeit militärischer Konflikte sind weitere Gruppen zum Bündnis gestoßen, wir wurden für viele Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen angefragt, und zum letzten Camp in Kiel kamen mehr Menschen als je zuvor. Dem »Rheinmetall entwaffnen«-Bündnis ist es zudem gelungen, eine klare Position zu Waffenlieferungen und zum Gazakrieg zu beziehen, ohne sich zu spalten. Trotzdem bleibt die Entwicklung des Bündnisses weit hinter der verstörenden Geschwindigkeit zurück, mit der uns Nachrichten von immer mehr Kriegstoten, Rüstungsdeals und der militärischen Mobilmachung von Wirtschaft und Gesellschaft erreichen. Unsere Suche nach Antworten auf dieses Missverhältnis dauert an. Das darf uns aber nicht aufhalten, schon jetzt zu handeln.
Falscher Moralismus
Ohne dass wir uns über den Umgang damit einig wären, sehen wir uns mit folgenden Herausforderungen konfrontiert: Ein oberflächlicher Moralismus hat in Teilen der Linken eine klassenpolitische Analyse verdrängt. Wer nur noch vagen »Verhaltensrichtlinien« folgt, wird empfänglich für Manipulationen, die von politischen Inhalten und ökonomischen Interessen abstrahieren. So begegnet uns regelmäßig der Vorwurf, wir würden das Selbstbestimmungsrecht »der Ukrainer« nicht anerkennen, während völlig ausgeblendet wird, dass die ukrainische Nation Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen und Interessen umfasst und wir andersherum niemals auf die Idee kämen, uns automatisch der Mehrheitsmeinung in Deutschland anzuschließen, Interessen deutscher Unternehmer zu verteidigen oder uns mit der deutschen Regierung gleichzusetzen.
Die Strategie der Regierung, oppositionelle Stimmen pauschal als rechts, antisemitisch oder putinfreundlich zu verunglimpfen, ist mehr als erfolgreich. Die extreme staatliche Repression und mediale Hetze gegen palästinasolidarische Proteste haben viele schockiert, aber nicht dazu geführt, die seit über einem Jahr stattfindenden Demonstrationen aufzuhalten. Auffällig ist jedoch die geringe Beteiligung weißer Linker, die sich aus Angst vor Antisemitismusvorwürfen in Abgrenzungsdebatten und dem Ausloten von akzeptablen Meinungskorridoren verloren haben, während die Straßen längst brannten. Ähnlich schwierig gestaltet sich die Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung, die uns regelmäßig Querfrontdebatten beschert. Diese Debatten waren lähmend, ein Stück weit sind uns in der Praxis aber auch Klärungen gelungen.
Wir lehnen die Zusammenarbeit mit rechten und antisemitischen Kräften ab, denken aber, dass linke Interventionen in zum Teil diffus aufgestellten Antikriegsprotesten sinnvoll und notwendig sind. Wir dürfen uns nicht für die Machtkämpfe von Staaten, ihren Unternehmern und Großaktionären vor den Karren spannen lassen. »Rheinmetall entwaffnen« ist der Versuch, spektrenübergreifend zusammenzukommen, durch Diskussionen aber eben auch durch direkte Aktionen die Möglichkeiten eines zeitgemäßen antikapitalistischen Antimilitarismus aufzuzeigen und für eine bessere Welt für alle zu kämpfen.
07.01.2025 19:30 Uhr
Designpreise gewinnen. Und Kriege
Wie ist der Imperialismus heute nicht nur sozial- und weltpolitisch, sondern auch wissenschaftlich-technisch als Destruktionsverhältnis organisiert?
Dietmar Dath
piemags/IMAGO
Joint Venture: Elon und die Air Force (Colorado Springs, 7.4.2022)
Der folgende Text ist die gekürzte Fassung eines Referats, das der Verfasser am 23. Dezember 2024 vor der Anton-Semjonowitsch-Makarenko-Gesellschaft in Freiburg-Munzingen gehalten hat. (jW)
Ende 2024 wurde es einigen Beschäftigten bei Open AI endlich mulmig. Die Folgen von Chat-GPT und anderen Erzeugnissen des Hauses hatten ihnen noch nicht das Gewissen gezwickt. Jetzt aber kündigte die Firmenleitung eine Partnerschaft mit dem Militärausrüster Anduril Industries an. Teile der Belegschaft murrten also. Es half nichts: beschlossene Sache.
Eine ältere Formulierung in den Open-AI-Nutzungsbedingungen hatte den Gebrauch der eigenen Produkte auf dem Feld »military and warfare« noch ausgeschlossen, nun aber hieß es aus der Chefetage, man wolle gemeinsam mit Anduril dafür sorgen, dass keine feindlichen Maschinen amerikanischem Militärpersonal Ungelegenheiten machen könnten. Sam Altman, das öffentliche Gesicht von Open AI, bekannte sich pathetisch dazu, Menschen helfen zu wollen, die ihr Leben riskierten, um »unsere Familie und unser Land« zu schützen.
Man kann die Verbindung zwischen Politik, Krieg und dem Stand der Technik, die Imperialismus heißt, auch weniger patriotisch beschreiben. In den Aufzeichnungen, die Lenin zwischen 1912 und 1916 verfasste, um seine große Abhandlung über den Imperialismus vorzubereiten, steht die hilfreiche Bemerkung: »Der Sozialchauvinismus ist ein ebenso unvermeidliches Produkt des Imperialismus wie der drahtlose Telegraph.«
Wenn man weiß, dass mit »Sozialchauvinismus« die (hier und da notdürftig sozialistisch verhüllte) aggressive Vaterlandspropaganda der moralisch zusammengebrochenen Zweiten Internationale gemeint war, dann kann man dem Satz ein etwas detailreicheres und verwickelteres Update für 2025 entlocken: Die zunehmend kriegsaffinere Ideologie der bürgerlichen »international rules-based order«, besonders laut vertreten beim Establishment-Linksliberalismus, von den US-Demokraten bis zu den deutschen Grünen, ist ein ebenso unvermeidliches Produkt des Imperialismus wie die Digitalisierung (inklusive künstlicher Intelligenz).
Kriege werden in Wirtschaftszusammenhängen ausgebrütet, nicht in Regelstreitigkeiten, deswegen ist Donald Trumps Verachtung für Regeln keine Garantie, dass er die Kriege bleibenlassen wird, die Obama und Konsorten mit Regelverstößen des Feindes zu rechtfertigen pflegen. Ideologie macht nur Geräusche zum falschen Produktionsverhältnis, Politik gibt dann die tödlichen Mittel frei.
Wenn also etwa die NATO-Leitung sich auf die Aufgabenliste schreibt, man wolle bald mal nachsehen, ob sich unbemannte intelligente Boote eignen, Untersee-Internetkabel vor Anschlägen zu schützen, und wenn Admiral Pierre Vandier, zuständig für »Concepts and Transformation« an genau dieser Front, dazu bereits vorhandene KI-kompatible Einheiten ausbauen will, dann passiert das eben in Wirtschaftszusammenhängen, also auf dem Spielfeld von Open AI, Microsoft und Google. Die Aufwertung der Wehrhaftigkeit des Gemeinwesens ist nämlich nur die dialektische Kehrseite der Entwertung von allerlei zivilen Qualifikationen, zum Beispiel derjenigen promovierter Arbeitskräfte, die sich auf einmal in Hilfsarbeitsdienstleistungspools wiederfinden. Es gibt Betriebe, die nichts anderes leisten als die Organisation solcher Schieberei. Ihre Namen kennt jedoch im Gegensatz zu denen von Open AI, Microsoft und Google kaum jemand. Einer heißt Centaur Labs, Anbieter der Arbeitskraft akademischer Koryphäen zur bedarfsgerechten Fütterung von KI-Software im medizinischen Bereich. Sehr viel »intelligente« Software lässt sich ohne derartige menschliche Assistenz gar nicht profitabel nutzen – »custom tooling and experts-in-the-loop for machine learning and generative AI model evaluation« heißt diese Assistenz bei einer weiteren Firma aus diesem neuen Wirtschaftszweig, die sich »iMerit« nennt. Der Wortbestandteil »merit« im Firmennamen meint »Verdienst«, aber nicht im Sinne von Entgelt. Gemeint ist »Wert der Leistung«, wie in »Meritokratie«. Herrschen soll das Verdienst indes gerade nicht (»-kratie« kommt von »kratein«, herrschen), denn dafür gibt’s schon Monopolbosse.
Die Radiologin, der Festkörperphysiker, der roboterkundige Massenmörder mit Abschluss bei einer Heeresakademie: nach dieser Art Fachkraft gieren Investitionsinstanzen, die das KI-Geschäft befeuern. Das gesamte Digitalwesen ist wagniskapitalgetrieben. Figuren wie Raj M. Shah, ehemals Direktor der »Defense Innovation Unit« im Pentagon, die heute mit Spießgesellen das Unternehmen Shield Capital steuert, ködern »Angel Investors«, die dann ihrerseits Startup-Firmen wie den Rüstungs-Ideenzünder Vannevar Labs züchten. Dieser Betrieb heißt nach dem Ingenieur Vannevar Bush, einem der Väter des Manhattan-Projekts, also der Atombombe, dessen 1945 lancierter Bericht »Science, the endless Frontier« den US-Kongress zur Schaffung der National Science Foundation bewegte, die der Digital Libraries Initiative in Stanford auf die Beine half, bei der Sergey Brin und Larry Page die Algorithmen entwickelten, aus denen Google wurde. Ein Stand entsteht: Schon Brins Vater war Informatiker an der Michigan State Uni gewesen, als dort allerlei Raketenballistik ausgetüftelt wurde, und seine Mutter gehörte zur NASA-Belegschaft.
Staat und Kapital verschaltet
Rasch nähert sich der Imperialismus in Sachen Erblichkeit von Funktionsposten heute feudalen Verhältnissen an. Vergessen ist die »vertikale soziale Mobilität« (heißt: auch armer Leute Kinder können interessante Jobs ergattern), ein Hauptanliegen sozialliberaler Bildungspolitik während der letzten großen westlich-nördlichen Modernisierungen vor einem halben Jahrhundert. Die aktuelle Produktivkraftentwicklung verschaltet Staat und Monopolkapital mit erheblich größerem Wirkungsgrad als ehedem, von der Halbleiterindustrie bis zur Elektromobilität – wer ernsthaft meint, Elon Musk suche erst jetzt die Nähe zum Staat, dessen Sozialsperenzchen er für seinen erfolgreichen Kandidaten zusammenstreichen soll, ignoriert den 500-Millionen-Dollar-Kredit des Energieministeriums, ohne den Tesla nicht ins Rollen gekommen wäre.
Während Musk sein Showmanship ausübt, vernetzt der im Schatten solcher Show wirkende Raj M. Shah technische Expertise-Kader mit politischen Strategie-Cracks, über Organisationen wie die »Tech Track 2«-Initiative bei der Hoover Institution, einem scharf reaktionären Thinktank, dessen Aktivitäten in den bürgerlichen Medien genau wie Shah eher wenig Licht abkriegen, im Gegensatz zum »Project 2025«, das von 2022 an bei der Heritage Foundation als Blaupause für einen autoritären Rollback in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, mit dem strukturfunktionalen Zweck der Beseitigung binnenstaatlich-verwaltungsstruktureller Widerstände gegen faschistoides Durchregieren der entschlossensten Kapitalfraktionen. So was wie das »Project 2025« alarmiert Linksliberale, aber »Tech Track 2« will viel mehr, nämlich Russland und die VR China kleinkriegen, und morgen die ganze Welt. Im Handbuch für dieses Programm »Unit X: How The Pentagon and Silicon Valley are transforming the Future of War« (2024), gemeinsam verfasst von Shah und einem Tech-Berater des National Security Council unter Drohnen-Obama namens Christopher Kirchhoff, erklären die beiden, das geopolitische Ziel sei nur zu erreichen mit den besten Köpfen, und zwar im Verteidigungsministerium wie im Silicon Valley. Vermittlungseinrichtungen sollen dabei helfen, zum Beispiel In-Q-Tel, der Venture-Capital-Arm der CIA. Wie bitte?
Lenins Klarheit
Ja: Dieser fürchterliche Geheimdienst besitzt einen Kapitalmanagement-Flügel. Überraschen kann das nur Menschen, die keinen Begriff vom Monopolkapitalismus haben, nicht mal in Form von Lenins schöner Eselsbrücke »Heute Minister, morgen Bankier; heute Bankier, morgen Minister!«
Gemessen an Lenins Klarheit war selbst die berühmte Abschiedswarnung des Präsidenten Eisenhower im Jahr 1961 vor »unwarranted influence« (also: ungerechtfertigtem Einfluss) des »military-industrial complex« ein Stochern im Nebel, genau wie das Gerede von Uni und Medien über »Industriegesellschaft« statt »Imperialismus«. Welche Vielfalt der Erscheinungen wird dem Hirn zugemutet: »Neoliberalismus«, dann »Globalisierung«, dann »Finanzmarktkapitalismus«, dann »Digitalkapitalismus«, immer werden diese Namen gebastelt unter Hypostasierung einzelner Aspekte des imperialistischen Gesamtprozesses. Kritik wird so auf geordnet kritisch-reformistische Bahnen abgeleitet. Sofern nämlich etwa »Finanzparasiten« und deren Übermacht übers »schaffende Kapital« (um gleich den Nazi-Ausdruck zu nennen, der dieses ganze dumme Zeug ideal zusammenfasst) das Problem sind, muss man ja lediglich Steuerinstrumente in Stellung bringen. Sofern Robert Habeck, wie die Black-Rock-Merz-CDU und die AfD ihm vorwerfen, bloß Exekutor einer obskuren »Klima-Ideologie« ist, obgleich er dazu ansetzt, das Wohneigentum der letzten paar Kleinbesitzenden per Mehrfach-Umbaubelastung im Nachhaltigkeitskorsett zu liquidieren, interessiert uns eben auch nur, was dieser Onkel subjektiv in der Rübe hat, und wir können vornehm davon schweigen, dass er diesen Rübeninhalt nur als Knecht der Monopole ausagieren darf (denn der Kleinbesitz der Ruinierten wird an »private equity« verkauft, wenn die Nummer klappt). Wo man den Typus Habeck derart missdeutet, wird er in der Phantasie wieder gut, sobald der empirische Habeck sich besinnt und im Wahlkampf mit der Parole »Milliardärssteuer« auf Dummenfang geht. Hurra, er hat die »Klima-Ideologie« im Sinne eines sozialen Gewissens einzuschränken gelernt!
Der Milliardär, der härter besteuert werden soll, könnte ganz aufrichtig schimpfen: Woher soll ich’s nehmen, wenn die vorhandenen Produktionsverhältnisse nicht mal mehr auf dem Sektor »Innovationen« eine Profitrate hergeben, die sich halbwegs sehen lassen kann, wie früher, im Eisenbahnräuberkapitalismus? Per Staatsgewalt und Gewaltstaat lässt sich allerdings doch noch ein bisschen an den Profiten drehen, nämlich zum Beispiel durch Rüstung, und deshalb erklärte dann Noam Perski vom Big-Data-Unternehmen Palantir im Dezember 2024 auf dem ersten »Defense Tech Summit« der Uni von Tel Aviv, »kein moderner Krieg« könne mehr ohne die richtige Software gewonnen werden (die Rolle der Infanterie in Syrien hin oder her).
Software ist tatsächlich, wie Perski in jener Ansprache predigt, das »most malleable« Waffenmaterial, also: das formbarste. Es kann dabei spektakulär nach hinten losgehen, wie die Arroganz der Datenfirmenchefs lernen könnte, wenn diese Leute zum Beispiel ein Ohr dafür hätten, wie die Hege- und Pflegetruppen bei Open-Source-Programmen derzeit von wertlosen Fehlerwarnungen überflutet werden, die KI-Systeme unablässig abfeuern. Unter technisch-naturwissenschaftlich geschulten Leuten erheben sich aber zunehmend Stimmen wie die des »Intellectual Dark Web«-Mitbegründers Eric Weinstein für neue digitalisierte Waffenproduktion. Dieser Mann ist von Haus aus mathematischer Physiker, außerdem Geldmanager für Trumps Strippenzieher Peter Thiel und absolut kein Dummkopf. Neuerdings fordert er die Abschaffung von juristischen Sicherheitsvorkehrungen, die in den USA bislang dafür gesorgt haben, den Einfluss des Militarismus auf die avancierteste Forschung einzuschränken. Weinstein verlangt, man solle jetzt vor allem die »Mansfield Amendments« loswerden, Bestimmungen, die a) militärischer Finanzierung von Forschungsprojekten Grenzen setzen und b) auch die indirekte Verfilzung der zwei Sphären erschweren.
Es kennt meinen Namen
Als die Militärs uns, den Forschungsfachleuten, noch näherstanden, so erzählt Weinstein jetzt allen Podcasts, die es hören wollen, haben sie uns meistenteils in Ruhe gelassen, wir hatten allenfalls eine Art Bereitschaftsdienst, wurden also gefragt, falls mal was los war, da müssen wir wieder hin, und wichtiger als Breitenbildung ist, dass diejenigen, die in Physik, Mathe, Biologie Neues und Außergewöhnliches zustande bringen, im Zivilen wie Militärischen zeitgemäße Formen von intellektuellen Besitzrechten beanspruchen können, auch für Grundlagenforschung, nicht nur bei Sachen, für die man Patente anmelden kann.
Wenn Herr Weinstein das wirklich glaubt, dann glaubt er wohl auch, dass arbeitslose Reservearmeen von Niedrig- und Unqualifizierten eine Menge Spaß beim Rumsitzen als Opportunitätskostendarsteller und Lohndrücker haben. Es wird Weinsteins imaginären Eliten auf diesem Kurs nicht besser gehen als dem von Simon Pegg gespieltem Techniker Benji Dunn in den »Mission: Impossible«-Filmen, der in »Dead Reckoning« (2023) seinen Schock angesichts der Reichweite der Verfügung künstlicher Intelligenz über die lebendige Arbeit in die entsetzten Worte kleidet: »It knows my name!«
Ja, dein Name steht auf der Speisekarte der KI, die braucht viel Eiweiß für Künstliche Neuronale Netze insgesamt, für konkrete, bedarfsgerechte Versionen wie RNNs (Recurrent Neural Networks), LSTM-Networks (Long Short-term Memory) und schließlich für die Transformer-Architekturen, die seit 2017 das Spiel grundsätzlich umgekrempelt haben. Die nächsten Gänge sind bekannt: Quantencomputer, Kühlsystemfragen, Verschlüsselungswettläufe, Quantensensorik fürs Messen von Strahlung und Kräften, unter Wasser, im Erdinnern, für die Zielerfassung, dann Energie- und Rohstoffsicherung für all dies und so weiter. Die Eigengesetzlichkeit der Hardware- und Softwareneuerungen ist dabei das eine. Die Aneignung von Lösungen sämtlicher Probleme, die sie schaffen, das andere. Nämlich unter den versauten Gebrauchswertbestimmungen der monopolkapitalistischen Klassengesellschaft ins irrationale Belieben von Instanzen gesetzt, die nur fragen: Läuft das Programm auf dieser oder jener Maschine richtig? Aber nicht: Ist es das richtige Programm, ist das die richtige Maschine für uns Menschen?
Die Irrationalität des Arrangements wird verschleiert mittels Systemrationalitätsbehauptungen, deren Plausibilität mit Erfindungen wie den Künstlichen Neuronalen Netzen und insbesondere der Transformer-Architektur einen fatalen Plausibilitätsschub bekommt: »Autonome Maschine« wird ein glaubhafter Begriff, gerade auch in dem spezifischen Sinn der Definition des Internationalen Roten Kreuzes für Waffenkontrollbelange: »Autonom« ist nach dieser Bestimmung eine militärische Vorrichtung, die erstens selbständig Angriffsziele aussucht und diese zweitens ohne direkten Befehl angreift.
The First AI War
Am 16. Dezember 2020 gaben die USA bekannt, dass zum ersten mal (wenn’s stimmt …) ein KI-System die komplette Kontrolle über das Sensor- und Navigationssystems eines U-2-Dragon-Lady-Spionageflugzeugs übernommen hatte. Das Programm suchte nach Raketenabschussrampen des Gegners und wertete Radaraufnahmen aus. Dem Piloten aus Fleisch und Blut blieb nur noch das Erkennen angreifender Flugzeuge und gegebenenfalls die Reaktion darauf. Eine Maschine attackiert, der Mensch darf sich gerade noch verteidigen – die Schwelle, die da überschritten wird, macht Geräte zu etwas, das nicht einfach »funktioniert«, sondern zum Beispiel »lauert« wie die in ihrem Einsatzgebiet herumschwebenden »Harpy«-Drohnen des israelischen Militärs. Der Waffenexperte Zachary Kallenborn schrieb schon 2021 einen Alarmaufsatz namens »Israel’s Drone Swarm over Gaza schould worry everyone« und nannte das, was ihn da umtrieb, den »first AI war«: den ersten KI-Krieg. Wo eine Maschine autonom agiert und attackiert, zeigt sich der Anteil der menschlichen Arbeit (nämlich: des falschen Produktionsverhältnisses) an der Entmenschlichung des Menschen als katastrophenförmiger Übergang vom naturgeschichtlichen zum produktionsgeschichtlichen Aggressionsmuster.
So sehr gewisse Gelehrte der Welt mit sozialdarwinistischem Gedankenlärm in den Ohren liegen, der die Destruktivität der herrschenden Unordnung als »Kampf ums Dasein« (und also als naturgegeben) verkaufen soll, so ungern hört man in der sogenannten »Soziobiologie« (wie auch der seriösere Teil entsprechender Forschungen seit Edward O. Wilsons in der Tat unerschöpflich anregendem Hauptwerk gleichen Namens aus dem Jahr 1975 heißt) etwas über die energetischen Kosten-Nutzen-Rechnungen, die unsereins von Natur aus gerade nicht aggressiv, sondern eher defensiv macht. Als Lebewesen darf ich mich in der Knappheitslandschaft der Naturressourcen nämlich auch dann immer nur soweit anstrengen, wie ich eben muss, um meine Nahrungsquellen, mein Territorium und meine Fortpflanzungsaussichten zu schützen, wenn ich ein sehr böser Affe bin. Falls ich nämlich vor lauter Bosheit andauernd konspezifisch oder außerhalb meiner Art unprovoziert irgendwas oder irgendwen angreife, wird mir bald die Puste ausgehen.
Maschinen jedoch, die von Selbsterhaltung und Reproduktion nichts wissen müssen (aber können, wenn man’s reinprogrammiert), sind an diese Prämissen nicht von vornherein gefesselt. Wenn wir die Kriegführung jetzt Automaten überlassen, weil wir mit ihrer Rechengeschwindigkeit nicht mithalten können, ändert sich folglich eine erdgeschichtliche Biosphären-Tiefenkonstellation: Unprovozierte Aggression wird vom Nachteil zum potenziellen Vorteil im Entwicklungsgang.
Wir unterstehen heute ökonomischen Abläufen, in denen mit ungeheurem Aufwand sehr vieles produziert wird, was für die Mehrheit der Menschen keinerlei Gebrauchswert hat, zum Beispiel Warenwerbung (inklusive Manipulation und suchterzeugende Attribute der Waren selbst) oder Mordwerkzeug. In Simon Stålenhags illustriertem Roman »The Electric State« hängt über einer tristen spätimperialistischen Steppenlandschaft ein Schild, auf dem steht, worauf irgend so eine Computerkram-Firma besonders stolz ist: »Winning design awards. And wars.«
07.01.2025 19:30 Uhr
Gemeinsam vorm Livestream
Rosa-Luxemburg-Konferenz ausverkauft. jW-Leser laden ein
Nick Brauns
Christian-Ditsch.de
Hinter den Kulissen der RLK (Berlin, 9.1.2021)
Die 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz (RLK), die am 11. Januar 2025 in Berlin-Wilhelmsruh stattfinden wird, ist bereits ausverkauft. Zu der ganztägigen Veranstaltung, die die Tageszeitung junge Welt mit Unterstützung von über 30 Organisationen, Gruppen und Medien ausrichtet, werden über 3.000 Teilnehmer erwartet.
Nur wenige Restkarten sind gegebenenfalls noch an der Tageskasse zu bekommen. Aber keine Sorge: Wer es verpasst hat, sich rechtzeitig ein Ticket zu sichern oder die Reise nach Berlin nicht antreten will, kann die Beiträge der internationalen Referenten zum Konferenzthema »Das letzte Gefecht – Wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?«, die abschließende Podiumsdiskussion »Kriegstüchtig? Nie wieder! Wie stoppen wir die Aufrüstung in Deutschland?« sowie das Kulturprogramm auch am heimischen Bildschirm oder auf dem Handy mitverfolgen.
Doch so wie die RLK in Berlin für viele eine wichtige Gelegenheit ist, sich alljährlich mit Gleichgesinnten, Freunden und Genossen auszutauschen, so bietet auch der Livestream eine Möglichkeit zum gemeinsamen Verfolgen der Konferenz in der WG, der kommunistischen Parteigruppe oder einem linken Jugendzentrum. In Nürnberg und Würzburg etwa laden Initiativen von jW-Lesern zum Public Viewing auf der Leinwand ein. Dazu gibt es Infotische, Raum für Austausch und Diskussionen sowie Snacks und Getränke.
Der Livestream über jungewelt.de in allen vier Konferenzsprachen – Deutsch, Englisch, Spanisch und Türkisch – ist kostenlos. Da er dennoch wie die ganze Konferenz viel Geld kostet, sind Spenden sehr erwünscht.
06.01.2025 19:30 Uhr
Unter Feuer
Die »Zeitenwende« kommt einem Frontalangriff auf die Arbeiterklasse gleich
Ulrike Eifler
Moritz Schlenk/imago
Die »Zeitenwende« ist die Wende zum Krieg (Ostermarsch in Nürnberg, 1.4.2024)
Traditionell bildet die Podiumsdiskussion den Abschluss der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Kriegstüchtig? Nie wieder! Wie stoppen wir die Aufrüstung in Deutschland?«. Wie in den Jahren zuvor haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt vorab vorzustellen. (jW)
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik verändert. Olaf Scholz leitete daraus eine neue Kriegsgefahr für Europa ab. Die Bundesregierung spricht seitdem von einer »Zeitenwende« und arbeitet unter Hochdruck an den Vorbereitungen eines Krieges gegen Russland: 100 Milliarden Euro Sondervermögen, Wehrpflichtdebatte, Militarisierung des Gesundheitswesens, Stationierung von Mittelstreckenraketen und ein Bundesverteidigungsminister, der ohne jede Zurückhaltung von der neuen Kriegstüchtigkeit Deutschlands spricht. Hinzu kommen Veteranentage, freiwillige Heimatschutzregimenter, Rheinmetall-Werbung in Fußballstadien, Pizzakartons in Tarnfleckfarben und kriegsverharmlosende Animationsfilme im öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehen – all das soll militärisches Denken im Alltag verankern.
Gleichzeitig durchdringt die »Zeitenwende« die Arbeitswelt: Das Lehrpersonal wird dazu verpflichtet, Soldaten in den Unterricht einzuladen. Medienschaffende müssen ihre Arbeit in einem politischen Meinungskorridor verrichten, der sich mehr und mehr verengt. Hochschullehrer werden mittels politischen Listen diszipliniert, wenn sie sich mit ihren protestierenden Studierenden solidarisieren. Pflegekräfte werden auf Katastrophenschutzseminare geschickt, während die Stationen auch ohne diese Seminare schon unterbesetzt sind. Lokführer müssen den Transport der Panzer in die Ukraine sicherstellen. Und die Mitarbeiter in den Jobcentern und Arbeitsagenturen müssen auf der Grundlage einer neuen Kooperation zwischen Verteidigungsministerium und Bundesagentur Arbeitsuchende in die Bundeswehr vermitteln. Im Zuge dieser Entwicklung wird die militaristische Durchdringung der Gesellschaft auf allen Ebenen zu einem Frontalangriff auf die arbeitenden Klassen.
Tarifpolitik unter Druck
Dabei erleben wir, wie sehr die gewerkschaftliche Tarifpolitik unter Druck gerät. Bereits in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges hat sich gezeigt, dass der inflationsbedingte Kaufkraftverlust tarifpolitisch nur schwer auszugleichen war. Denn während der Anstieg der Löhne 2022 nahezu unverändert blieb, vervielfachte sich der Anstieg der Preise. Nach Angaben des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) verharrten die Tariflöhne 2024 auf dem Stand von 2016. Gleichzeitig verursachen Inflation, Deindustrialisierung und Sozialabbau ein Klima des Verzichts, das fatale Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat, weil es Rückenwind für die Forderungen der »Arbeitgeber« ist.
Es zeichnet sich bereits jetzt ab, wie sehr Militarisierung und Sozialabbau Hand in Hand gehen. Ein Panzer kostet mehrere Millionen Euro. Jeder Schuss 13.000 Euro. Und ein einziger Schuss aus dem neuen Panzerabwehrsystem »Mells« liegt bei 100.000 Euro. Natürlich sagt die Bundesregierung auch, woher diese Unsummen kommen sollen. So heißt es in der »Nationalen Sicherheitsstrategie«: »Angesichts der erheblichen aktuellen Herausforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushaltes insgesamt zu bewältigen.« Keine zusätzlichen Schulden also, dafür Umverteilung innerhalb des Haushaltes. Damit wird die Sicherheitsstrategie zur Grundlage für eine forcierte gesellschaftliche Debatte über nationale Prioritäten, an deren Ende die Kürzung sozialer Leistungen stehen muss, um die Sicherheit nicht zu gefährden. Die militärpolitische »Zeitenwende« zieht zwangsläufig eine sozialpolitische »Zeitenwende« nach sich, stellte der Armutsforscher Christoph Butterwegge jüngst fest.
Dieser Strategie folgend, kündigt Friedrich Merz bereits die »Agenda 2030« an, während Christian Lindner die notwendigen »Brutalitäten in den Sozialsystemen« fordert. Dass dabei sogar auf die Referenz des ehemaligen Propagandaministers unter Hitler, Joseph Goebbels, zurückgegriffen wird, um die Notwendigkeit von Sozialabbau zu begründen, ist eine neue Qualität in der deutschen Debatte. Von Goebbels stammt das Zitat »Kanonen statt Butter«.
Dem Klimakollaps näher
Gewerkschaften ging es nie »nur« um die Verbesserung der Arbeits-, sondern immer auch um die Verbesserung der Lebensbedingungen. Es ist daher auch für die Welt der Arbeit relevant, dass Aufrüstung und Krieg die ökologische Zerstörung beschleunigen. Beim Abfeuern von Geschossen und Marschflugkörpern und beim Einsatz von Militärflugzeugen, Panzern, Kampfjets oder Militärschiffen werden enorme CO2-Emissionen freigesetzt. Allein der F-35-Kampfjet stößt pro Stunde mehr CO2 aus, als ein Deutscher im Jahr verursacht. Werden solche Emissionsquellen nicht abgeschaltet, lässt sich die Erderhitzung nicht stoppen.
Die britischen Wissenschaftler Linsey Cottrell und Stuart Parkinson schätzen den CO2-Fußabdruck der deutschen Waffenhersteller auf mehr als 3,4 Millionen Tonnen im Jahr; für den gesamten deutschen Militärsektor kommen sie, die Bundeswehr eingeschlossen, auf 4,5 Millionen Tonnen. Das entspricht dem CO2-Ausstoß von etwa einer Million Autos im Jahr. Und der niederländische Klimaforscher Lennard de Klerk errechnete, dass im Ukraine-Krieg allein im ersten Jahr 120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente ausgestoßen wurden. Mit jedem Euro, den die Bundesregierung für die Aufrüstung der Bundeswehr genehmigt, mit jeder Waffenlieferung in die Ukraine oder nach Israel treibt sie die negative Klimabilanz in die Höhe. Mehr Sicherheit bedeutet in Wahrheit mehr Unsicherheit.
Auf Druck der USA hat der Krieg in der Ukraine eine »Gaswende« in Europa beschleunigt, die gerade in Deutschland die Industrie unter Druck setzt und Tausende Arbeitsplätze gefährdet. Die Sanktionspolitik gegen Russland löste den großen europäischen Markt von billigem Pipelinegas aus Russland und band ihn an das US-amerikanische, dreckige und teure Frackinggas. Ein Schritt, der innerhalb nur weniger Monate die Position der europäischen Industrie schwächte und die der USA stärkte. Flankiert wird diese Entwicklung von der gezielten Strategie der USA, die europäische Industrie insbesondere in den Bereichen Autobatterien, Windräder, Solarzellen und Halbleiter abzuwerben. Niedrige Energiepreise und ein umfangreiches Förderprogramm mit üppigen Subventionen – der »Inflation Reduction Act« – schaffen dafür die Bedingungen. Es bräuchte gerade jetzt Investitionen in den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur und den ökologischen Umbau der Industrie, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Unternehmernahe und gewerkschaftsnahe Institute kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass dafür in den nächsten zehn Jahren insgesamt 600 Milliarden Euro notwendig wären. Der Grad der öffentlichen Investitionen in Energie, Verkehr, Glasfasernetze, Wohnungsbau und Infrastruktur bestimmt also die Zukunft des Kontinents und der Menschen, die auf ihm leben. Der Industrieumbau wird scheitern, wenn geostrategische Interessen die Haushaltspolitik dominieren.
Angriff auf die Mitbestimmung
Die aktiven Kriegsvorbereitungen der Bundesregierung haben grundlegende Auswirkungen auf Demokratie und Mitbestimmung. Der Chef des Bundeswehr-Verbandes, André Wüstner, forderte bereits »eine Kriegswirtschaft« und damit eine Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter das Primat der Außenpolitik. Dass das auch Auswirkungen auf elementare Grundrechte haben dürfte, machte er deutlich, indem er die Anwendung von Notstandsparagraphen und den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren in Betracht zog. Dabei handelt es sich nicht etwa um unverbindliche Äußerungen eines einzelnen. Vielmehr macht die Bundesregierung Nägel mit Köpfen. »Heimatschutzregimenter« trainieren nicht nur den Schutz der kritischen Infrastruktur, sondern auch den Einsatz gegen Demonstrationen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung am 4. September 2024 den Entwurf eines »Artikelgesetzes zur Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft« beschlossen, das unter anderem die Anwendung des sogenannten Arbeitssicherstellungsgesetzes erleichtern soll. Im Falle eines Spannungsfalles können Beschäftigte, deren Tätigkeit der Versorgung der Bundeswehr oder der verbündeten Streitkräfte dient, aber auch Beschäftigte in Betrieben, die Militärausrüstung oder die entsprechenden Dienstleistungen erbringen, sowie Beschäftigte in Forschungsbereichen, soweit sie militärisch forschen, zur Sicherstellung ihrer Arbeitsleistung verpflichtet werden. Weiterhin heißt es: »Durch Artikel 10 werden die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes und des Schutzes vor Arbeitszwang eingeschränkt.«
Alles in allem bleibt also festzuhalten: Die arbeitenden Klassen haben in dieser »Zeitenwende« nichts zu gewinnen und alles zu verlieren.
06.01.2025 19:30 Uhr
Tyrannei des Westens
Herrschaftssicherung: Die USA und ihre Verbündeten setzen auf Konfrontation statt Verständigung
Petra Erler
Anna Jörke/jW
Demonstration »Nie wieder Krieg« (Berlin, 3.10.2024)
Es ist Krieg in der Ukraine, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Russland trägt die Schuld, zur Waffe gegriffen zu haben. Völkerrechtswidrig. Die Kriegsursachen allerdings schuf der kollektive Westen unter Führung der USA. Deren Bestreben, nach dem Ende des Kalten Krieges als einzige Supermacht die Welt zu beherrschen, ließ keinen Raum für eine Partnerschaft auf Augenhöhe oder gar für die Beachtung legitimer russischer Sicherheitsinteressen. Das brach und bricht sich mit dem Selbstverständnis der USA als »unverzichtbarer« Weltenlenker. Die Welt, so die Annahme, muss nach dem Bild und den Herrschaftsvorstellungen der USA gestaltet werden. Das ist die »regelbasierte Ordnung«. Darin hat die souveräne Gleichheit aller Staaten keinen Platz, ist Diplomatie immer nur die zweitbeste Lösung. Unter hegemonialer Fuchtel herrschen ein Freund-Feind-Bild, der Glaube an Auflagenpolitik und Bestrafung. Rigide Sanktionspolitiken, Regime-Change und militärische Lösungen für politische Konflikte sind der Markenkern der US-Politik seit den 1990er Jahren.
Sie ist extrem rückwärtsgerichtet, zerstörerisch für die USA und die Welt. Gleichzeitig ist sie das deutlichste Anzeichen dafür, dass der selbsternannte Hegemon längst die Blüte seiner Herrschaftsjahre hinter sich gelassen hat und sich gegen den Machtverfall stemmt.
Das ist allerdings nicht die Erzählung, die in den USA und in den Ländern dominiert, die sich mit dem Platz der USA am Kopf der Tafel arrangierten und in einer Mischung aus Dankbarkeit, Demut und Widerborstigkeit zumindest zur rechten und linken Seite des Herrschers plaziert sein wollen, wie eines Königs Narr.
Russland im Visier
Nach den friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa und dem Ende der Sowjetunion dominierte dieses Arrangement unter den Reformkräften. Umgekehrt betrachtete sich der gesamte Westen als Sieger der Geschichte, der nunmehr die verdiente Ernte einbrachte. Nur in Russland ging alles schief, was nur schiefgehen konnte.
Wer die Gründe dafür begreifen will, sollte ein langes Memorandum aus dem Jahr 1994 lesen. Verfasst hat es der damalige US-Botschaftsrat Wayne Merry in Moskau. Es kostete ihn die Karriere. Mehr als 30 Jahre wurden seine Einschätzungen in den Archiven begraben. Schließlich wurden sie freigeklagt.¹
Unter dem Titel »Wem gehört Russland überhaupt? Auf dem Weg zu einer Politik des wohlwollenden Respekts« sezierte Merry die russische Gesellschaft, russische politische Interessen und Zwänge sowie die Wirkungen einer US-Politik, die unbekümmert von den Realitäten ihrem Mantra folgte, so als wäre Russland das Land der US-Amerikaner. Dem Verfasser war wohl bewusst, dass er sich mit seinen Überlegungen und Einschätzungen gegen die vorherrschende außenpolitische US-Doktrin stellte, aber er sah es als seine Pflicht an, vor russischen Fehlentwicklungen und einer tiefen Zerrüttung der US-Russland-Beziehung zu warnen. Merry, der über eine große analytische Klarsicht verfügte, glaubte an die Veränderbarkeit eines Tyrannen durch Einsicht und menschliche Rührung. Seit Schillers »Bürgschaft« spukt die wundersame Bekehrung eines Despoten in unseren Köpfen herum, allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz.
Denn das erklärte US-Bestreben, als einzige Supermacht die Welt so lange wie möglich zu regieren, ist ohne Tyrannei nicht zu verwirklichen. Man mag sie in hehre Worte fassen, die Ordnung als »regelbasiert« deklarieren, von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten reden, aber die Probe aufs Exempel ist immer, was in der Realität angerichtet wird: Geht es den dominierten Völkern besser? Gibt es weniger Leiden und Ungerechtigkeit auf der Welt? Ist eines der großen Probleme, die die Menschheit heute heimsuchen, gelöst oder auch nur einer Lösung näher?
Hat China, wie der Papst 2024 meinte, ein größeres Potential für Verständnis und Dialog als etablierte Demokratien? Ist es nicht tatsächlich so, dass unter dem Banner eines globalen »Demokratiebringers« Tyrannei betrieben wird, die kein anderes Ziel kennt, als sich selbst zu erhalten? Koste es, was es wolle.
Russland, China und eine immer größere werdende Anzahl von Völkern widersetzen sich seit nunmehr Jahrzehnten dem hegemonialen Treiben der USA und ihrer Gefolgschaft. Das macht sie in unseren Augen zu Aggressoren, zu Gegnern, die geschwächt, wenn nicht gar vernichtet werden müssen. Auf die eine oder andere Art und Weise. Denn in der tyrannischen Logik wird ein Tyrann allenfalls von einem anderen Tyrannen ersetzt, der dann womöglich noch schlimmer agiert. Er erblickt immer nur sich selbst im Spiegel. Alternative Formen des gesellschaftlichen Miteinanders sind ihm völlig fremd.
Keine Verhandlungen
So betrachtet, ist der aktuelle Stellvertreterkrieg in der Ukraine ein Lehrstück sich entblößender Tyrannei. Zu keinem Zeitpunkt dieses Krieges spielte das tatsächliche Schicksal der Ukraine eine Rolle. Wäre dem so gewesen, hätte der völkerrechtlichen Verurteilung von Russland eine umgehende Friedensinitiative des Westens folgen müssen. Statt dessen wurden frühe russisch-ukrainische Verhandlungen um Frieden unterminiert, denn der Westen brauchte diesen Krieg, in der Annahme, daraus ein zweites Afghanistan für Russland machen zu können. Daher fehlt auch jedes Mitgefühl für die ukrainischen Opfer dieses Krieges. Zwar ringt man die Hände, aber befeuert gleichzeitig das Schlachten. Die Zahl der ukrainischen Opfer, die angeblich allenfalls in die Zehntausende gehen, wird wie eine geheime Kommandosache behandelt, während eine allein der Phantasie entsprungene Zahl russischer toter bzw. verwundeter Soldaten zum bejubelten Beleg dafür genommen wird, dass Russland sich dem eigenen Untergang entgegenkämpft.
Um Russland »zu ruinieren«, wurden und werden Sanktionen mit kriegsähnlicher Wirkung ausgetüftelt, die tatsächlich wie ein Bumerang auf die westlichen Wirtschaften zurückschlagen und das ganze globale Gefüge erschüttern.
Wie sich der Westen zu diesem Krieg stellt, demonstriert dem russischen Bären nur eines: Die Jagd auf ihn ist eröffnet.
Der Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa und gleichzeitig auch militärischer NATO-Befehlshaber, General Christopher G. Cavoli, war sich der Folgen dieser Politik im Sommer 2024 wohl bewusst, als er über die Zeit nach dem Ukraine-Krieg sprach: Er sprach nicht über die verheerte Ukraine. Er sprach über ein militärisch herangezüchtetes und nun auch kampferprobtes Russland, stärker denn je, vollends von der Feindschaft des Westens überzeugt, direkt an der NATO-Grenze gelegen und furchtbar wütend.
Wie soll unter solchen Umständen Dialog und Verständigung gelingen? Auf der Agenda der NATO hat das keinen Platz. Noch ist die Ukraine, deren Überleben finanziell und militärisch allein vom Westen noch halbwegs gesichert wird, nicht völlig ausgeblutet. Es gibt noch eine vom Krieg ausgesparte Generation, die der 18- bis 24jährigen. Es gibt noch kampftaugliche Männer, die in EU-Staaten Zuflucht suchten, also ein letztes Aufgebot. Denn noch immer muss um den Sieg gekämpft werden, der wie eine Fata Morgana am Horizont erscheint.
Umgekehrt spielt diese Strategie, die von Anfang an verfehlt war, Russland direkt in die Hände. Wer die militärische Entscheidung sucht, wird sie bekommen, warnte der russische Präsident im Sommer 2022.
Anderthalb Jahre später liegt recht klar auf der Hand, dass Russland in diesem Krieg militärisch überlegen ist. Was kann der Westen noch aufbieten, um die unvermeidliche Niederlage abzuwenden? Im konventionellen Bereich nicht mehr viel. Keine der westlichen »Wunderwaffen« führte zum Wunder, und der Stellvertreterkrieger, die Ukraine, ist am Verbluten.
Wer unter diesen Bedingungen auf die Stimme der Vernunft, der Verständigung und der Humanität wartet, wartet vergebens. Denn die NATO hat längst ihre Rückfallposition entwickelt: Fällt die Ukraine, was sie nicht soll, niemals wird, aber man weiß ja nie, lauert die russische Aggression auf die NATO. Schon in wenigen Jahren. Kriegstüchtigkeit ist der einzige Weg, eine russische Aggression entweder abzuschrecken, ihr zuvorzukommen oder sie erfolgreich abzuwehren.
Die Erfindung des wiederauflebenden russischen Imperialismus und das Dogma von der Aggressivität Russlands als naturhaftes Phänomen des Landes spiegeln letztlich nur den tyrannischen westlichen Traum, der über Jahrhunderte mit eisernen Besen über den Globus fegte. Bis die USA als einziges Imperium mit globalen Sicherheitsinteressen nach dem Zweiten Weltkrieg übrigblieben. Mit dem ganzen amerikanischen Kontinent als erklärtem »Hinterhof«, einem dauerhaften Fuß in Europa und weltweiter militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Präsenz.
Nächster Krieg gegen China
Wie schön würde es erst, wenn sich der US-geführte Westen nach Belieben auf der großen eurasischen Landmasse tummeln könnte. Man denke allein an die Rohstoffe, die dem russischen Bären natürlich und also ganz unverdient zufielen. Ist der Bär erst erledigt, ist auch die erzwungene Schonzeit für den Tiger vorbei. Die US-Armee bereite sich auf den Krieg mit China vor, titelte die New York Times am 29. Oktober 2024. Das muss geübt werden, zu Land, zu Wasser und in der Luft, denn es wäre nicht auszudenken, wenn China auf dem eigenen Kontinent dominant werden würde. Wäre das mit dem Fall Roms vergleichbar, fragte die New York Times. Die Antwort folgte auf dem Fuß. Das sei die richtige Sicht auf die Dinge.
In einer solchen Betrachtung der Welt gibt es aktuell niemanden von Bedeutung im Westen, geschweige denn in der EU, der für einen Dreierbund à la Schiller plädiert oder für ein Bündnis aller Völker und den Weg der Mäßigung oder Konfliktentschärfung für möglich oder gar wünschenswert hält. Aus tyrannischer Sicht ist eine solche Alternative regelrecht Ketzerei, die entweder großer Dummheit oder Heimtücke entspringt. Tyrannen lieben es allenfalls, wenn ihnen der eigens bei Hofe gehaltene Narr ab und an den Spiegel vorhält. Nicht, um sich darin zu erkennen, sondern um das Bewusstsein ihrer Macht zu genießen. Bis diese in Scherben fällt.
Die offene Frage heute lautet, ob sich das US-Imperium unblutig geschlagen geben wird, oder ob es die Welt lieber mit sich in den Untergang reißt. In dieser Hinsicht stellt sich an Deutschland und im weiteren Sinn an die EU die Frage, wie wir unsere Zukunft sehen wollen: als einen mühsamen Prozess des Aushandelns eines Modus vivendi, der den Frieden in sich trägt, oder als mutmaßliche Plattform und Drehscheiben eines Krieges, bei dem am Ende kein Stein mehr auf dem anderen bleibt?
Der Filmemacher Eran Torbiner spürt dem Erbe der jüdischen antizionistischen Linken nach. Am Wochenende stellt er in Berlin sein Schaffen vor
Susann Witt-Stahl
matzpen.org
»Wer Matzpen nicht hasste, war kein Patriot« – die kleine sozialistische Organisation kritisierte in den 1960ern den Gründungsmythos Israels (Filmstill)
Eran Torbiner hielt am 59. Jahrestag der Befreiung von der Hitlerdiktatur 2004 einen historischen Moment mit seiner Kamera fest. Jüdische Spanienkämpfer und deren Familien waren in einem Ehrenhain bei Beth Schemesch im Bezirk Jerusalem zusammengekommen, auch um der vielen gefallenen Kameraden zu gedenken. »Es war nicht unsere Schuld, dass wir nicht gewonnen haben«, erinnerte David Ostrovsky, einer der ehemaligen Interbrigadisten, an den durch die Anerkennung des Franco-Regimes begangenen Verrat liberaler Demokratien in Europa – der sich für sie als verheerend erwiesen hatte.
Torbiner begibt sich in seinen Dokumentarfilmen auf die Spur der jüdischen Linken, die als »bolschewistische Weltverschwörer« verfolgt und ermordet, später in Israel stigmatisiert und unterdrückt wurden und nach 1989 größtenteils im Abgrund des Vergessens verschwunden sind – nicht obwohl, sondern weil sie ihre universalistische Weltanschauung hochhielten und die Emanzipation aller Menschen verwirklichen wollten: Kommunisten, Sozialisten, die sich weigerten, die arabische Bevölkerung zu töten, zu vertreiben oder zu berauben. »Für uns war ein Arbeiter ein Arbeiter, egal, ob er Jude oder Araber war« – solche Besinnung auf das Wesentliche, nämlich die Klassenfrage, wie sie von Yaakov Chen, Mitglied der Kommunistischen Partei, in Torbiners Doku »Madrid before Hanita« (2006) zu vernehmen ist, darf heute fast schon als sensationelle (Wieder-)Entdeckung gefeiert werden. Auch die Erkenntnis der durch Hitler bewiesenen und im Filmtitel apostrophierten Dringlichkeit nicht des Aufbaus eines zionistischen Staates (für den die Siedlung Hanita zum Symbol wurde), sondern einer sozialistischen Gesellschaft – die einzige Möglichkeit, mit der brutalsten Form bürgerlicher Herrschaft auch den Antisemitismus zu beseitigen. »In Spanien konnten wir zum ersten Mal mit dem Gewehr in der Hand gegen den internationalen und deutschen Faschismus kämpfen«, erklärt Kurt Goldstein die besondere Motivation der deutschen Kommunisten unter den jüdischen Interbrigadisten (aus Palästina kamen 300, insgesamt waren es 7.000). Ebenso wie die Hunderttausenden von Juden in der Roten Armee widerlegten sie die heute hartnäckig wie nie verbreitete Behauptung, dass nur der Judenstaat den vom frühen Zionisten Max Nordau propagierten wehrhaften »Muskeljuden« hervorbringen könne.
Dass Torbiners Gesamtwerk vor allem als Hommage an von Zionisten verächtlich gemachte »Nervenjuden«, Anti- und Nichtzionisten, die Uzis und Merkavas nicht als Argument anerkennen wollen, zu begreifen ist, zeigt sein Film über die Sozialistische Organisation in Israel. Die unter dem Namen ihres Organs Matzpen bekanntgewordene Gruppe junger Marxisten aus dem studentischen Milieu, der auch Palästinenser angehörten, demontierten in den 1960er- und 1970er-Jahren mit ihrer Anklage des Zionismus als koloniales Projekt den Gründungsmythos Israels (»Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«): »Wer Matzpen nicht hasste, war kein Patriot«, blickte Akiva Orr, damals ein führender Kopf der Organisation, in Torbiners Film von 2003 auf bewegte Zeiten zurück.
privat
Legt die verschüttete Geschichte der israelischen Linken frei: Eran Torbiner
»Es ist barbarisch, unmenschlich. Sie wollen keinen Frieden bringen, nur Krieg, Krieg, Krieg«, erklärte Michael Veinappel – ein 2007 in Jerusalem verstorbener namhafter Bundist in Israel –, in Torbiners Film »Bunda’im« (2012), warum er »das Verhalten aller israelischen Regierungen, von rechts bis links« als existenzgefährdend für das »gesamte jüdische Volk« betrachtete. Der Bund als internationale sozialistische Bewegung war aus dem 1897 in Vilnius gegründeten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund von Polen und Russland hervorgegangen, seine Milizen waren 1943 am Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die Nazis beteiligt.
»Ich habe immer Angst, dass die alten Aktivisten sterben könnten, bevor sie ihre Geschichte mit mir geteilt haben«, sagt Eran Torbiner im Gespräch mit jW. »Diese Genossen sind von einer Aura umgeben – ihnen gilt meine Neugier, mein Respekt und meine Empathie.« Das alles atmen Torbiners Filme, die mit einer enormen menschlichen Wärme und Einfühlung in die Atmosphären ihrer jüdischen Welten von gestern erzählen. Ganz ohne Kitsch und Nostalgie, vielmehr durchwirkt von dem Imperativ, dass morgen alles ganz anders sein muss – der nicht zuletzt seit dem Siegeszug des Kahanismus in Israel, der zionistischen Erscheinungsform des Faschismus, und dem Gaza-Massaker unwiderruflich ein kategorischer ist. Die Rettung des unterdrückten Erbes der jüdischen Sozialisten und Kommunisten bedeutet nicht weniger als die Rettung der Welt. Daher muss es bis zum letzten verteidigt werden – heute auch und besonders gegen die hegemoniale normalisierte Deutschlinke, die es als »roten Antisemitismus« verfemt, weil sie die antifaschistische Bewältigung der Vergangenheit für ihren Kniefall vor der »Staatsräson« des NATO-gestützten Imperialismus der Berliner Republik aufgegeben hat.
03.01.2025 19:30 Uhr
»Die imperiale Kolonialgeschichte hinterfragen«
Die weiße Vorherrschaft brechen. Ein Gespräch mit Jennifer Black und Mumia Abu-Jamal
Jürgen Heiser
ZUMA Press Wire/IMAGO
»Keine Gerechtigkeit seit 1619«: Erinnerung an die ersten nach Amerika verschleppten Sklaven (Philadelphia, 4.7.2020)
Am 11. Januar werden Sie auf der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz den Beitrag von Mumia Abu-Jamal einleiten und einen Tag später Ihr gemeinsam herausgegebenes Buch»Beneath the Mountain« mit Stimmen aus dem US-Gefängnissystem auf einer Lesung in Berlin vorstellen.Wie entstand die Idee dazu?
J. B.: Bei mir war es der Kontakt zu vielen inhaftierten Radikalen, darunter viele junge Männer, die durch die Erfahrung ihrer eigenen Inhaftierung politisiert worden waren, und die Erkenntnis, wie schwierig es ist, im Gefängnis etwas zu recherchieren. Die Knastbibliotheken sind furchtbar, und Gefangene haben keinen Zugang zum Internet. Daraus und aus vielen Gesprächen mit Mumia im Laufe der Jahre entstand die Idee.
Mumia Abu-Jamal, Sie als Autor und politischer Gefangener im 43. Jahr der Haft, wie sehen Sie die Rolle des inhaftierten Intellektuellen?
M. A.-J.: Es ist die gleiche Rolle wie die des nicht inhaftierten Intellektuellen: Man muss die richtigen Fragen stellen und Antworten finden. Und man muss die imperiale Kolonialgeschichte hinterfragen, wo immer man sie sieht. Einige der freiesten Köpfe der USA sitzen hinter Gittern. Und einige der am meisten in ihrem Denken Gefangenen sind sogenannte freie Menschen in Amerika. Wer Lügen über die Geschichte unterworfen ist, ist nicht frei.
Welche Bedeutung hat das Buch für Sie?
M. A.-J.: Dr. Black hat wirklich einen Treffer gelandet, als sie dieses Projekt initiierte. Es bietet tiefgründige Informationen von Menschen, die Gefängnis und Gefangenschaft erlebt und gegen diese Strukturen gekämpft haben: Nat Turner, George Jackson, klassische Leitfiguren wie Malcolm X. Das Buch enthält 30 Briefe, Essays und Botschaften von einer Vielzahl von Menschen aus allen wichtigen Bewegungen, die alle mit ihrer eigenen Stimme sprechen. John Browns Brief an seine Frau beschreibt das große Übel der USA, das wir nie vergessen dürfen und weiterhin bekämpfen müssen – die Sklaverei. Dies war buchstäblich sein letzter Brief in seinem Leben. Er stand kurz vor der Hinrichtung durch die Regierung wegen des Überfalls auf das Armeewaffenlager von Harpers Ferry, West Virginia, seinem Fanal zur Einleitung der Sklavenbefreiung.
Über Malcolm X können wir nicht sprechen, ohne an seine enorme Selbstveränderung zu denken, als er lernte, die Welt neu zu sehen. Er verinnerlichte, was er lernte, und die Dinge wurden ein Teil von ihm, an denen er wuchs und immer weiter wuchs, solange er lebte. Wir lesen im Buch von Menschen, die im Gefängnis »unter dem Berg« schreiben. Darunter ein Beitrag von Elijah Mohammed von der Nation of Islam (NOI). Mir ist die Frage wichtig: Was hat Malcolm Little zu Malcolm X und dann zu El Hajj Malik el-Shabazz werden lassen? Die Antwort lautet: Was ihn verwandelte, war etwas Mächtiges und doch so Einfaches – Geschichtsbewusstsein. Von Elijah Muhammad lernte Malcolm einen Grundsatz, den er sein ganzes Leben lang und in seinen Schriften wiederholte: »Von all unseren Studien ist es die Geschichte, die am besten geeignet ist, unsere Forschung zu belohnen.« Malcolm verstand, dass er ohne Elijah Muhammad und die Lehren der NOI über die Geschichte der Gefangenschaft und der Herrschaft, der Sklaverei und der Depression in den USA weiter der verbitterte und unwissende junge Häftling geblieben wäre, für den es keinen Ausweg gab.
Diese Erfahrung veränderte ihn, machte ihn zu einem neuen Menschen. Das machte ihn zu dem Malcolm, an den wir uns erinnern. Dem die Schwarzen zuhörten, wenn er zu ihnen sprach. Sie wussten, dass er im Knast gesessen hatte und deshalb genau wusste, wie ihr Leben im schlimmsten Fall aussah. Das Geschichtsbewusstsein, das er sich in der NOI angeeignet hatte, veränderte ihn. Das ist der Grund, warum das Wissen um Geschichte so brisant ist. Warum es so gefährlich ist.
Warum sprechen die Vertreter weißer Vorherrschaft wohl davon, dass wir die Geschichte zerstören müssen? Darin zeigt sich ihre Schwäche, denn sie ahnen, dass das gefährlichste Thema der amerikanischen Geschichte die Geschichte selbst ist. Dieses Buch enthält in jedem Essay eine Lektion über die Geschichte der radikalen und revolutionären Bewegungen, die die Hegemonie der weißen Vorherrschaft, des Kapitalismus und des Imperialismus in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus anfochten.
Wenn junge Menschen diese Lektionen lernen, werden sie sich verändern, so wie Malcolm sich verändert hat, denn sie werden die USA nie wieder auf die gleiche Weise betrachten. In der Highschool lernt man keine Geschichte, sondern Lügen. Wir lernen Lügen in der Grundschule und in der Mittelschule. Und dann beginnen wir, uns die Wahrheit zu erarbeiten. Wir lesen die Originaltexte aus sozialpolitischen Bewegungen, die Wahrheiten enthalten, von denen dieses Land erschüttert wurde.
Warum war es wichtig, Nat Turner einzubeziehen?
M. A.-J.: Unterdrückte Menschen finden Hoffnungsschimmer, wo immer es sie gibt, und manchmal dort, wo sie am wenigsten zu erwarten sind. Nat Turners Hoffnungsschimmer war, dass er im Gegensatz zu den meisten Sklaven lesen konnte. Er las die Bibel und sah darin eine grundlegende Revolution der Verhältnisse, unter denen er lebte. Als er anfing, dies anderen Menschen mitzuteilen, waren sie von seiner Vision berührt und bewegt von seinem Glauben an die mögliche Schaffung einer neuen Welt. Aber möglich wird sie nur, wenn wir dafür kämpfen.
Nat Turner ist deshalb wichtig, weil er einen der bedeutendsten Sklavenaufstände in der Geschichte der USA anführte. Seine Rebellion hat den ganzen Süden, ja das ganze Land erschüttert. Denn dieses Land beruhte auf den von der Sklaverei hervorgebrachten wirtschaftlichen Errungenschaften und dem damit erzeugten Kapital. Jede Sklavenrebellion bedrohte deshalb das Fundament der Vereinigten Staaten.
Warum ist dieses Buch für ein internationales Publikum relevant?
J. B.: Ich bin davon überzeugt, dass revolutionäre Solidarität keine Grenzen kennt. Die weltweite Solidarität, die Mumia erfahren hat, ist inspirierend und bewegend. Ich habe sie persönlich erlebt, als ich 1995 nach London reiste, kurz nachdem der Gouverneur von Pennsylvania einen Hinrichtungsbefehl gegen Mumia unterzeichnet hatte. Ich war erstaunt über die Solidaritätsbekundungen und die Unterstützung für Mumia. Die Unterdrückung durch den Staat, die wir in den USA erleben, mag sich aus spezifischen Gründen unserer Geschichte entwickelt haben, aber sie ist etwas, das Unterdrückte auf der ganzen Welt nachempfinden können.
Was bedeutet das Buch für Sie persönlich?
J. B.: Es ist ein guter Schritt in eine interessante Richtung. Wir wollten ein Handbuch für unabhängige Lernende bereitstellen, einschließlich Menschen im Gefängnis, die keinen Zugang zu Universitäten und dem Internet haben, um die Grundzüge der gegen Gefängnisse gerichteten Stimmung in den USA nachzuvollziehen. Wir haben erkannt, dass die politischen Stimmen von eingesperrten Menschen der Welt etwas Wichtiges zu vermitteln haben. Sie lehren uns, wie wichtig der Prozess der Politisierung und Organisierung ist und wie wichtig es ist, die Kräfte zu erkennen und zu artikulieren, die uns verbinden. Sie lehren uns etwas über Solidarität und revolutionäre Liebe und über die lange Tradition des Kampfes vor uns, von der wir ein Teil sind. Sie lehren uns, stolz zu sein auf die Menschen, die es verstehen, zu kämpfen und zu lieben, auf die Revolutionäre, die uns vorausgingen, und dass wir niemals vergessen dürfen, Teil einer stolzen Tradition zu sein.
Wie sind Sie zur Solidaritätsarbeit für Mumia gekommen?
J. B.: In Pennsylvania begann die Solidaritätsarbeit Anfang der 1990er Jahre. Mein Vater, der 1921 in Berlin geboren wurde, dort aufwuchs, aber mit 18 Jahren wegging, besuchte 1991 Berlin. Wo er auch hinkam, fragten deutsche Genossen und Linke ihn: »Du kommst aus Pennsylvania – was tust du da für Mumia Abu-Jamal?« Er antwortete: »Wer ist Mumia Abu-Jamal?«
Als mein Vater in die Staaten zurückkehrte, wollte er das unbedingt herausfinden, und er war erschüttert und schockiert, als er erfuhr, dass Mumia nur 33 Meilen (ca. 53 Kilometer, jW) von seinem Wohnort entfernt inhaftiert war. Zu dieser Zeit saß Mumia seit neun Jahren mit einem Todesurteil im Gefängnis von Huntington im Todestrakt.
Wir informierten uns über den Fall und nahmen Kontakt zum Komitee »International Concerned Friends and Family of Mumia Abu-Jamal« in Philadelphia und dem Quixote Center sowie zu Leuten von Pacifica Radio in Kalifornien auf. Wir fanden heraus, warum Mumia so wichtig war, und begannen einfach zu organisieren. Schon bald wurde daraus eine Welle der Organisierung im ganzen Land und auf der ganzen Welt. Aber wir waren verwundert darüber, dass viele von uns in Pennsylvania erst durch eine Reise nach Deutschland von Mumia Abu-Jamal erfuhren.
Mumia, hier erinnern sich noch viele daran, wie uns seit 1989 Ihre handgeschriebenen Beiträge zuerst per Luftpost und später per Fax erreichten. Warum wurden Ihre Geschichte und Ihr Fall gerade in Deutschland aufgegriffen?
M. A.-J.: Was in den USA passiert, hat viel mit dem zu tun, was in Deutschland passiert, und sei es nur durch eine emotionale Bindung. Menschen, deren Vorfahren aus Deutschland kamen, fanden in Nordamerika eine neue Heimat. Eine der großen Bevölkerungsgruppen in den USA sind mit 44 Millionen die Deutschamerikaner. Die meisten Deutschen lernen in der Schule zumindest etwas Englisch, so dass sie einen Zugang zu den Vereinigten Staaten haben. Der eigentliche Knackpunkt ist jedoch: Wo haben die Deutschen ihre Lektion der »Isolierung der Rassen« gelernt, die seit den 1930er Jahren in Deutschland um sich griff? Sie studierten die US-amerikanische Geschichte und das US-Recht. Sie kamen hierher und studierten vor Ort, wie in den USA mit den afrikanischen und indigenen Sklaven umgegangen wurde. Genau wie die weißen Rassisten in Südafrika von den Reservaten für Indigene in den USA lernten und ihre »Bantustans« schufen.
Die Deutschen lernten aus der rassistischen Geschichte der USA und der Rassentrennung. Wie bei der Apartheid in Südafrika entwickelte sich daraus auch die Diskriminierung und Isolierung der Juden in Deutschland. Die USA sind ein großer Lehrmeister, im Guten wie im Schlechten.
Darüber schreibt sehr brillant der Kameruner Achille Mbembe in »Necropolitics«. Er beschreibt, wie das Volk der Herero in Südwestafrika von den Deutschen kolonisiert wurde. Etwa 50.000 Menschen fielen einem Völkermord zum Opfer, weil sie sich gegen die koloniale Gewalt und den Raub ihrer Arbeitskraft wehrten. Sie wurden in Konzentrationslager gesteckt und abgeschlachtet. Und das geschah bereits eine Generation vor dem Aufstieg der Nazis.
Deutschland und die USA sind durch ihre Kolonialgeschichte geprägt. Wie Frantz Fanon sagte, ist der Kolonialismus an sich ein Akt der Gewalt eines Volkes gegen ein anderes Volk. Praktiziert in der Illusion eines gütigen Akts, geht es jedoch tatsächlich um Ausbeutung. Grundlage ist der gute alte amerikanische Kapitalismus und der deutsche Kapitalismus, es geht um den Raub menschlicher Arbeitskraft, um Profit zu machen. Und das geht nicht ohne Terror. Wie viele Menschen erinnern sich noch an das Volk der Herero im südlichen Afrika, das zu Zehntausenden abgeschlachtet wurde, weil es ein afrikanisches Volk in Afrika war?
Die Konferenz steht in diesem Jahr unter dem Motto »Das letzte Gefecht – wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?« Was heißt das für Sie?
M. A.-J.: Wir betrachten dieses Thema aus einer einzigartigen historischen Perspektive, denn vor Jahrzehnten, vielleicht vor 50 Jahren, haben Leute es noch nicht so drastisch gesehen. Ich spreche vom Ökozid, der Zerstörung der Umwelt, in der wir leben. Politiker sagen, die globale Erwärmung sei ein Schwindel. Das erstaunt mich, denn es ist bewiesen, dass einige der zerstörerischsten Stürme in der aufgezeichneten Geschichte der Menschheit Teile der USA trafen. Wir haben erst vor einigen Monaten gesehen, wie dieser große Sturm durch Florida zog, bis nach Georgia vordrang und Berggemeinden in North Carolina zerstörte. Die meisten der Menschen dort haben für Trump gestimmt und ihm geglaubt, als er sagte, die globale Erwärmung sei nicht real.
Was bedeutet die Wahl Donald Trumps für die Zukunft?
M. A.-J.: Widerstand erzeugt Gegenreaktionen. Dies ist eine folgenreiche Zeit. Um zu wachsen und zu überleben, braucht die Trump-Bewegung eine wenig gebildete Bevölkerung. Also treiben sie die Leute zur Hetze an, und Propagandanetzwerke füttern sie mit Lügen. Ich finde es verblüffend, dass ein verurteilter Verbrecher bald Präsident der Vereinigten Staaten sein wird – eigentlich Grund genug für Konservative, nicht mehr darauf zu beharren, dass Gefangene nicht wählen dürfen. Jeder im Gefängnis sollte wählen dürfen.
Und wenn wir im Kampf gegen den Faschismus nicht scheitern wollen, brauchen wir jetzt konsequenten Widerstand auf allen Ebenen und aus allen Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung.
03.01.2025 19:30 Uhr
Was tun? Anpacken!
Die junge Welt freut sich über Unterstützung bei der Ausrichtung der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar
jW-Aktionsbüro
Ivett Polyak-Bar Am/jW
Die Vorbereitungen für die 30. Ausgabe der Rosa-Luxemburg-Konferenz laufen – wie im vergangenen Jahr wird wieder jede helfende Hand gebraucht
Die 30. Internationale Rosa-Luxemburg Konferenz steht kurz bevor. Ein Höhepunkt wird die Manifestation »Für eine Welt der Solidarität! Unblock Cuba! Free Palestine!«, zu der Solidelegationen aus verschiedenen europäischen Ländern sowie Gäste aus Kuba und Palästina vor Ort sein werden. Sie haben die Möglichkeit, die Manifestation mitzugestalten, in dem Sie ein thematisch passendes Transparent zur Konferenz mitbringen (bis zur Konferenz ist natürlich noch genug Zeit, um eines zu bemalen). Geben Sie es bitte am Eingang bei der Sicherheitskontrolle ab, damit wir es zur Manifestation an der Bühne bereithalten können.
Jährlich findet die Konferenz mit der Unterstützung freiwilliger Helfer statt. Die Belegschaft der jW könnte diese Großveranstaltung auch gar nicht alleine stemmen. Wenn auch Sie uns bei der Durchführung helfen möchten, freuen wir uns riesig. Melden Sie sich bitte unter aktionsbuero@jungewelt.de und wir besprechen gemeinsam, wo Sie – ganz nach ihren Möglichkeiten – mit anpacken können. Fragen Sie gerne auch Ihre liebsten und fleißigsten Genossinnen und Freunde und melden sich gleich als Gruppe bei uns.
Wie das im Kapitalismus leider so ist, kostet eine Großveranstaltung Jahr für Jahr mehr Geld. Auch finanziell wäre die Konferenz für unseren kleinen Verlag nicht zu stemmen, wenn wir nicht das Glück hätten, über eine solidarische Leser- und Besucherschaft zu verfügen, die große Spendenbereitschaft zeigt. Bitte helfen Sie uns auch in diesem Jahr, den wirtschaftlichen Verlust, der durch die Konferenz entsteht, zu minimieren.
Nicht jeder wird am 11. Januar die Möglichkeit haben, nach Berlin zu fahren, um die Konferenz vor Ort mitzuerleben. Daher bieten wir auch in diesem Jahr einen kostenlosen Livestream auf jungewelt.de an. Sollten Sie zu denjenigen gehören, die die Rosa-Luxemburg-Konferenz von zu Hause aus verfolgen, bitten wir Sie um eine Spende, denn auch der Stream verursacht hohe Kosten. Dafür gibt es auch ein kleines Dankeschön: Ab einem Spendenbetrag von 40 Euro erhalten Sie von uns gerne einen der beliebten Kühlschrankmagneten mit dem aktuellen Konferenzmotiv (dafür bitte Name und Adresse im Verwendungszweck angeben).
01.01.2025 19:30 Uhr
Ruf nach Frieden
Ohne das Schweigen der Waffen keine Entwicklung. Der Krieg ist der größte Feind des Fortschritts
Yücel Demirer
Metin Yoksu/AP/dpa
Opfer der türkischen Kriegsmaschine. Gedenkdemonstration für die von einer Drohne in Nordostsyrien getöteten Journalisten Nazim Daştan und Cîhan Bilgin (Nisêbîn, 21.12.2024)
Wir dokumentieren im folgenden drei der Kolumnen, die der Politikwissenschaftler Yücel Demirer wöchentlich in der linken türkischen Tageszeitung Evrensel (Universal) veröffentlicht. Yücel Demirer wird als Redner an der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 in Berlin teilnehmen. (jW)
Im Juni dieses Jahres veröffentlichte das Institut für Wirtschaft und Frieden einen Bericht, der den Zustand der Menschheit in Bezug auf Frieden und Sicherheit für das Jahr 2024 skizziert. Der Bericht warnt davor, dass sich die Welt an einem Scheideweg befindet und dass ohne gemeinsame Anstrengungen die Zahl der großen bewaffneten Konflikte weiter zunehmen wird. Dem Bericht zufolge nehmen Kriege im 21. Jahrhundert nicht nur zu, sondern wandeln sich auch aufgrund der Fortschritte in der Militärtechnologie und der wachsenden geopolitischen Rivalitäten. Anhaltende Konflikte, die kaum Aussicht auf Befriedung haben, sind im Gegensatz zu traditionellen Kriegen eine direkte Folge dieses Wandels.
Der Bericht präsentiert düstere Zahlen: 2024 ist das fünfte Jahr in Folge, in dem sich die Friedenslage weltweit verschlechtert hat. Derzeit gibt es international 56 aktive bewaffnete Konflikte, die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Konflikte haben sich zunehmend internationalisiert: 92 Länder sind in Streitigkeiten jenseits ihrer Grenzen verwickelt. Außerdem erhöht die Zunahme kleinerer Konflikte die Wahrscheinlichkeit größerer Kriege in der Zukunft. Die bewaffneten Auseinandersetzungen in Äthiopien, der Ukraine und im Gazastreifen, die 2019 als kleinere Konflikte eingestuft wurden, werden jetzt als Beispiele dafür angeführt, wie solche Situationen dramatisch eskalieren können.
Unter den 163 Ländern, die im Global Peace Index erfasst sind, belegt die Türkei in diesem Jahr Platz 139. Der Index misst den Frieden und die Sicherheit innerhalb eines Landes anhand von Faktoren wie der Anzahl der Polizei- und Militärangehörigen, der Mordrate, der Gefängnispopulation, der zivilen Bewaffnung, der politischen Instabilität, der anhaltenden internen und externen Konflikte, der Beziehungen zu den Nachbarländern, des Waffenhandels und des Militarisierungsgrads.
Die ständige Plazierung der Türkei am unteren Ende der Rangliste spiegelt anhaltende Konflikte und Sicherheitsprobleme, Spannungen mit Nachbarländern, steigende Inhaftierungsraten, zunehmende zivile Bewaffnung und einen wachsenden Waffenhandel wider.
Die Daten zeigen, dass die Auswirkungen von Krieg und Frieden auf das Leben der normalen Bürger viel direkter sind, als gemeinhin angenommen wird. Krieg und die damit einhergehende Unsicherheit gehen über die Fernsehbilder von fernen Konflikten hinaus und durchdringen unser tägliches Leben.
Die steigende Zahl von Morden an Frauen, die zunehmende Bewaffnung der Zivilbevölkerung, der Bau immer größerer Gefängnisse und die Gewalt gegen Tiere sind allesamt Auswüchse der »Kriegsmentalität«. Die Gewalt, der wir täglich begegnen, ist eng mit den Kriegen verbunden, von denen wir annehmen, dass sie weit von uns entfernt seien. Trotz der Behauptungen derjenigen, die wirtschaftlich oder politisch vom Krieg profitieren, breiten sich die vielfältigen Auswirkungen von Konflikten schnell auf weitere Gebiete aus und betreffen auch diejenigen, die fern der Frontlinien leben. Gewalt und Unsicherheit wirken sich auch auf das Leben von Arbeitern, Frauen, Kindern und Tieren aus. Regierungen, die den Krieg zur Konsolidierung ihrer Macht nutzen, greifen auf Unterdrückung und Gewalt zurück, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, die in einem solchen Umfeld entstehen.
Militärische Lösungen gehen an den eigentlichen Ursachen von Konflikten vorbei. Probleme wie Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung, die vielen Konflikten zugrunde liegen, verschärfen sich in Kriegszeiten. Die Eskalation der Gewalt verschärft die bestehenden Probleme und vergrößert das Leid der Armen. Die »Sprache der Gewalt« löst weder die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die diesen Konflikten zugrunde liegen, noch ermöglicht sie eine Lösung, sondern verursacht statt dessen unermessliches Leid und zerstört Leben.
In Kriegszeiten wird das Leben der Arbeiter immer unerträglicher. Unter der Herrschaft von Regierungen, die vor dem Hintergrund von Sicherheitspolitiken handeln, werden die Grundrechte und -freiheiten verletzt. Der Ausnahmezustand wird heraufbeschworen, um die ungleiche Verteilung von Ressourcen zu rechtfertigen. Der freie Informationsfluss wird beschnitten, und Korruption und Bestechung breiten sich aus.
Armutsbeschleuniger
Für die Arbeiter, deren Leben im Schatten des Krieges unerträglich geworden ist, hat der Frieden eine immense Bedeutung. Heute leben etwa zwei Milliarden Menschen in einer von Gewalt geprägten Umgebung. Konflikte und Kriege verschärfen die Armut, die Ungleichheit und den Mangel an Solidarität.
Nur in einem dauerhaften Frieden können die Grundlagen für eine hoffnungsvolle Zukunft geschaffen werden – gesicherte Existenzgrundlagen, robuste Institutionen und gesunde soziale Beziehungen, die Wohlbefinden und Glück fördern. Frieden schafft ein stabiles und sicheres Umfeld, das den Gesellschaften ermöglicht, sich auf wirtschaftliche Entwicklung, sozialen Fortschritt und Wohlstand zu konzentrieren. Frieden verhindert den Verlust von Menschenleben, die Vertreibung von Menschen und die Zerstörung von Infrastruktur und Ressourcen und schützt den materiellen Wohlstand, der von den Arbeiterinnen und Arbeitern produziert wird. In Friedenszeiten können die Regierungen Ressourcen zur Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens und anderer sozialer Dienste bereitstellen. Darüber hinaus erleichtert der Frieden die internationale Zusammenarbeit, den Austausch von Ideen und gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung globaler Probleme wie Klimawandel und Armut.
Politiker, denen das Wohlergehen der Arbeiterinnen und Arbeiter am Herzen liegt, wissen, dass Gesellschaften nur in einem friedlichen Umfeld widerstandsfähiger gegen Schocks, Katastrophen und Störungen werden können. Probleme und Meinungsverschiedenheiten können wirksam bewältigt werden, und es kann das notwendige Maß an Vertrauen, Zusammenarbeit und Integration erreicht werden, um sich an die unvermeidlichen Veränderungen anzupassen, die die Dynamik des Lebens mit sich bringt. Aus diesem Grund betonen die Sozialisten den Kampf für den Frieden. Selbst in den dunkelsten Momenten der chauvinistischen und rassistischen Unterdrückung weigern sie sich, den Ruf nach Frieden aufzugeben.
(1. September 2024)
Wer ist der wahre Terrorist?
Auf den Bombenanschlag am Taksim-Platz¹ folgte rasch eine weitverbreitete Kriegspropaganda, die in Luftangriffen auf den Nordirak und Syrien gipfelte. Von höchster Stelle wurden Überlegungen zu einer Bodenoperation geäußert.
In den Medien des Erdoğan-Regimes wurden die politischen Rechtfertigungen für einen Krieg debattiert. Mittels einer Bodenoperation sollte versucht werden, den Zusammenbruch des »offiziellen Narrativs« über den Taksim-Anschlag zu kaschieren. Die Diskussionen drehten sich um die Frage, ob die USA und Russland, die den syrischen Luftraum kontrollieren, ihre Zustimmung gegeben hatten, sowie um den möglichen Inhalt und die Ergebnisse von Verhandlungen mit diesen Ländern.
Die Regierung nutzt regelmäßig die regionale Instabilität für innenpolitische Manöver. Selbst wenn ihr die Zustimmung globaler Mächte fehlt, versucht sie, die Innenpolitik durch die Schaffung einer künstlichen Kriegsagenda zu beeinflussen. Die »nationalistische Rhetorik« hat einen großen Einfluss auf die politische Atmosphäre in der Türkei. Vor dem Hintergrund der Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt durch die Sicherheitskräfte und der enormen juristischen Repression fällt es der Antikriegsopposition schwer, über eine politische Analyse hinauszugehen. Diese Unfähigkeit, die kriegsorientierte Regierung herauszufordern, führt zu einer Situation, in der sich sogar der Oppositionsblock »Altılı Masa«² mit der Regierung verbündet.
Jedes politische Manöver ist in die Wahrnehmung historischer Abläufe eingebettet. Neue Kriege werden mit alten Kriegen gerechtfertigt. Die narrative Handlungskette vom Taksim-Anschlag bis zu den Luftangriffen und von den Luftangriffen bis zur Aussicht auf eine Bodenoperation beruht auf einer »historischen Erzählung«. Bekanntlich ist Geschichtsschreibung nicht nur die Weitergabe von Informationen aus der Vergangenheit, sondern spiegelt auch die Dynamik der Gegenwart wider. In der Türkei wird das »offizielle Narrativ« zu kontroversen und konfliktträchtigen Themen wie der Kurdenfrage, insbesondere unter einem repressiven Regime, von den aktuellen Erfordernissen der staatlichen Strategie geprägt, wobei die historische Kohärenz gewahrt bleibt. Dieser Ansatz verknüpft den »alten anderen« mit dem heutigen »Feind« und verankert die Vorstellung einer raschen und gewaltsamen Beseitigung des »anderen« als »Notwendigkeit« im öffentlichen Bewusstsein.
Wissenschaft am Gängelband
Die ständige Erneuerung des offiziellen Narrativs, das als die »einzige Wahrheit« präsentiert wird, ist für die Aufrechterhaltung seiner Wirksamkeit von entscheidender Bedeutung. In diesem Erneuerungsprozess spielt die kooptierte akademische Welt eine zentrale Rolle. Durch die Sperrung von Archivbeständen und die Verhinderung alternativer Perspektiven in der akademischen Forschung werden Beiträge zu »alternativen Erzählungen« von Historikern und Sozialwissenschaftlern blockiert. Forscher, die Mut zeigen, werden durch rigide akademische Beförderungskriterien ins Abseits gestellt, als »Verräter« gebrandmarkt und, wenn sie nicht nachgeben, von den Universitäten verwiesen.
Eine umfassende Antwort auf die historische Erzählung, die durch offizielle Interventionen geprägt ist und durch die Massenmedien verbreitet wird, erfordert Geduld und Kreativität. Diese Antwort muss ideologische und politische Analysen einbeziehen sowie die sozialen Dimensionen des Krieges. Sie muss auch die Bilder des menschlichen Leidens, das der Krieg verursacht, in die Öffentlichkeit bringen. Ein solcher Ansatz ist nicht nur notwendig, sondern im Rahmen der verfügbaren Mittel auch zwingend erforderlich. Gegenüber Erzählungen, die sich auf Befehlshaber, Helden und nationale Interessen konzentrieren, muss der Schwerpunkt auf die Tragödien des Krieges, die Verarmung der Arbeiter, die Verschwendung von Mitteln und die Zerstörung der Umwelt gelegt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Öffentlichkeit mit konkreten Bildern von den Verwüstungen des Krieges und detaillierten Informationen über dessen Folgen zu versorgen. Die Betonung der Brüderlichkeit der Völker angesichts der »Gefühllosigkeit«, die die Kriegsrhetorik transportiert, ist besonders wichtig.
Es gibt viele Menschen, die den Krieg ablehnen, der die Lebensgrundlagen der Menschen vernichtet, die Demokratie zerstört und das tägliche Leben unerträglich macht. In diesem Kampf können Fotos, die die negativen Auswirkungen der Kriegspolitik auf den einzelnen beleuchten, auch die Dynamik des Widerstands gegen die Kriegspolitik sichtbar machen. Um dem Narrativ von der »Unvermeidbarkeit des Krieges« und der zerstörerischen Dynamik der »Kriegskultur« etwas entgegenzusetzen, muss eine Sprache gefunden werden, die die »vergessenen Opfer« der Kriegspolitik ans Licht bringt. Dazu gehört auch die Infragestellung von »Einzelwahrheiten« wie dem Narrativ der »Operation Klauenschwert«³.
Die Frage, die bei jeder Gelegenheit mutig gestellt werden muss, bleibt: Was ist Terror, und wer ist der wahre Terrorist?
(26. Oktober 2022)
Die Karte der Unterdrückung
Die Media and Law Studies Association⁴ hat kürzlich ihren Jahresbericht 2024 veröffentlicht, der sich auf die Wahrung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Informationen konzentriert. Der Bericht enthält Daten aus 614 Anhörungen in 281 Verfahren mit 1.856 Angeklagten zwischen dem 1. September 2023 und dem 20. Juli 2024. Dem Bericht zufolge waren 46,31 Prozent der Angeklagten Aktivisten, 20,25 Prozent Studenten und 19,71 Prozent Journalisten.
Unter den 187 Personen, die wegen »Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung« angeklagt wurden, waren 64,2 Prozent Journalisten. Ebenso waren 34,6 Prozent der 162 Angeklagten, die der »Verbreitung terroristischer Propaganda« beschuldigt wurden, Journalisten. Von den 101 Personen, die wegen »Beleidigung eines Amtsträgers« angeklagt waren, waren 37,6 Prozent Pressevertreter. Von den 63 Personen, die wegen »Beleidigung des Präsidenten« angeklagt waren, waren 24 Prozent ebenfalls Journalisten.
In 107 von der Vereinigung beobachteten Verfahren mit 230 Angeklagten traten Präsident Erdoğan und seine Familie, hochrangige Bürokraten, Mitglieder der Justiz, lokale Verwaltungsbeamte und Polizeibeamte als Kläger auf. Von den Angeklagten in diesen Fällen waren 116 Journalisten.
Die Unterdrückung geht heute jedoch weit über Journalisten hinaus. Auch Arbeiter, Frauen, arbeitslose Lehrer und zahllose andere sind davon betroffen. Das stetig größer werdende Ausmaß und die Intensität machen eine umfassende Betrachtung der Auswirkungen der Unterdrückung erforderlich.
Ein genauerer Blick auf die Unterdrückung unter dem Erdoğan-Regime offenbart ein kalkuliertes Bemühen, Legitimität zu schaffen, noch bevor repressive Maßnahmen beginnen. Strategische Spaltungen der Gesellschaft in Kategorien wie »reines/tugendhaftes Volk« vs. »korrupte Eliten«, »Patrioten« vs. »Terroristen« und »einheimisch/national« vs. »vom Ausland unterstützt« werden gezielt vorgenommen und je nach Akteur in Anschlag gebracht. Es werden Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass repressive Agenden zumindest teilweise von der Öffentlichkeit unterstützt werden, und es werden entsprechende Narrative entwickelt. Unter Ausnutzung ungelöster soziopolitischer und kultureller Probleme aus der Geschichte der Türkei werden Unterdrückungspraktiken durch pauschale Verallgemeinerungen und schamlose Stigmatisierungen erleichtert.
Bei der Umsetzung einer repressiven Maßnahme wird zunächst eine angeblich dringende gesellschaftliche Bedrohung festgestellt. Dann wird eine »verantwortliche« und »gefährliche« Gruppe definiert, und ihre Handlungen werden als Rechtfertigung für die Unterdrückung angeführt.
Dieser Prozess ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Dann wird eine Gruppe erfunden und konstruiert, die diese repressive Politik unterstützt. So wird beispielsweise ein Bürger, der sich für den Schutz des Wassers oder des Waldes in seinem Dorf einsetzt, gegen seinen Nachbarn ausgespielt, dem ein Job als Wachmann in einem bald zu bauenden Wärmekraftwerk versprochen wird. Frauen, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter und ein Ende der Gewalt einsetzen, werden mit Müttern konfrontiert, die ihre Kinder zu Hause aufziehen. Diejenigen, die gegen die Vergabe öffentlicher Aufträge an Vertraute protestieren, werden von Subunternehmern der begünstigten Firmen bekämpft. Eine Mutter, die ihr Kind in einer städtischen Kindertagesstätte lässt, um einen Mindestlohn zu verdienen, wird mit der Behauptung erschreckt, dass den Kindern dort LGBTQ+-Werte aufgezwungen werden. Jemand, der sich bewusst ernährt, wird gegen einen Wachmann aus einem anderen Viertel mit anderen Ernährungs- oder Sozialgewohnheiten ausgespielt.
Wie wird die Unterstützung der Unterdrückung durch einen Teil der Gesellschaft hergestellt?
»Dog Whistle Politics«
Der Begriff »Dog Whistle Politics«, benannt nach Pfeifen, die nur Hunde hören können, wird von Politikwissenschaftlern seit Jahren verwendet. Er beschreibt, wie scheinbar normale oder harmlose Äußerungen von Politikern insgeheim Botschaften vermitteln, die bei bestimmten Teilen der Gesellschaft Angst oder ein Gefühl der diskriminierenden Überlegenheit hervorrufen, um deren Stimmen zu sichern.
Es gibt zahlreiche Beispiele für politische Manöver, die Ängste und Befürchtungen der Öffentlichkeit ausnutzen, um die Arbeiterklasse zu spalten und Wahlen zu gewinnen. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan sprach während seines Wahlkampfs 1980 von »Wohlfahrtsköniginnen, die Cadillacs fahren«, und »Steakfressern, die Lebensmittelmarken nutzen«, um zu implizieren, dass schwarze Amerikaner das Sozialsystem ausnutzen, und appellierte damit an rassistische Gefühle. Donald Trumps Slogan »Make America Great Again« warb in ähnlicher Weise um Wählerstimmen, indem er die Sehnsucht nach einer weißeren, angelsächsischeren Vergangenheit weckte.
Eine genauere Betrachtung der aktuellen Karte der Unterdrückung in der Türkei offenbart eine Strategie, bei der Angst und die Ausnutzung von Gefühlen eingesetzt werden, um Unterstützung für jede Unterdrückungsagenda zu sichern. Diese Unterstützung wird dann eingesetzt, um die Unterdrückung zu legitimieren. In einem übermäßig polarisierten gesellschaftlichen Umfeld werden diese Prozesse durch Brüche innerhalb der Gesellschaft und kontrollierte Informationsflüsse über staatlich ausgerichtete Medien umgesetzt.
Daher ist eine detaillierte Kartierung aller Fälle von Unterdrückung unter Erdoğans Regime notwendig, um die gesellschaftliche Dynamik zu beleuchten, die die Unterdrückung ermöglicht, und um zu verstehen, wie ihre Legitimationsmechanismen funktionieren. Nur mit einer solchen Methode können wir begreifen, wie die Regierung emotionale, kulturelle und soziale Narrative für pragmatische Zwecke ausnutzt. Indem wir die jeweiligen Mechanismen der »Dog Whistle Politics« aufdecken, bei denen die Befürworter einbezogen und die Gegner ausgeschlossen werden, können wir dazu beitragen, den Widerstand gegen die Unterdrückung zu stärken.
(1. Dezember 2024)
Anmerkungen:
1 Bombenanschlag in Istanbul vom 13. November 2022, bei dem sechs Menschen starben und in dessen Folge die Regierung eine absolute Nachrichtensperre verhängte und den Zugang zu den sozialen Medien, allen voran Twitter, blockierte. Die Regierung beschuldigte die PKK und die YPG, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Die PKK wies die Vorwürfe zurück.
2 Eine Allianz aus sechs kemalistischen, liberalen bis konservativen Parteien, die sich ursprünglich zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 zusammengeschlossen haben.
3 Name der Militäroffensive der türkischen Armee gegen kurdische Kräfte in Syrien und im Irak im Anschluss an den Bombenanschlag vom 13. November 2022.
4 2017 gegründete Menschenrechtsorganisation, die sich für die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit einsetzt. www.mlsaturkey.com/en
27.12.2024 19:30 Uhr
Gemeinsam statt einsam
Die Rosa-Luxemburg-Konferenz ist ein kollektiver Genuss – und das selbst aus der Ferne
RLK-Vorbereitungskollektiv
Eine gute Nachricht zuerst: Noch gibt es Tickets für 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025! Bislang haben rund 2.650 Menschen ihr Kommen angekündigt; wenn Sie kurzentschlossen ebenfalls im Saal am politischen Jahresauftakt der Linken im deutschsprachigen Raum teilnehmen möchten, können Sie noch Tickets im jW-Shop kaufen. Unser Berliner Ladengeschäft in der Torstr. 6 wird ab Donnerstag, den 2. Januar, wieder regulär für Sie geöffnet sein. Allerdings kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht garantiert werden, dass es Anfang des neuen Jahres noch Tickets geben wird – zögern Sie also nicht, wenn Sie gerne persönlich teilnehmen möchten!
Selbst dann, wenn Sie kein Ticket mehr bekommen sollten oder aus anderen Gründen nicht persönlich nach Berlin reisen können oder wollen, ist eine Teilnahme an der Konferenz möglich – über unseren kostenlosen Livestream. Wir senden am 11. Januar sämtliche Inhalte der Konferenz von 10 bis 20 Uhr über jungewelt.de. Unsere Kooperationspartner aus unterschiedlichen Ländern, darunter Morning Star aus Großbritannien, Arbeijderen (Dänemark) oder Cuba Información, unterstützen dies, indem sie unseren Stream verlinken oder ihn direkt auf ihren Webseiten spiegeln. Unser Livestream wird in allen vier Konferenzsprachen – Deutsch, Englisch, Spanisch und Türkisch – zur Verfügung gestellt.
Der kollektive Aspekt der Veranstaltung, das Wiedersehen mit Freunden und Genossen aus verschiedenen Ländern, macht die Rosa-Luxemburg-Konferenz zu dem, was sie ist: zum jährlichen Highlight im politischen Kalender. Doch auch hier gibt es Möglichkeiten, das Zuschauen aus der Ferne zum gemeinsamen Erlebnis zu machen: Warum nicht in der Kneipe mit wohlgesinntem Wirt, im Jugendklub oder im Stadtteilzentrum einen Monitor aufstellen und zusammen mit anderen die Konferenz verfolgen? Wenn Sie selbst vorhaben, den Livestream öffentlich oder gemeinsam mit Freunden zu schauen, können Sie sich gerne unter kommunikation@jungewelt.de melden, damit wir andere darauf hinweisen können. Hinterher freuen wir uns übrigens immer sehr über Fotos von solchen Aktionen – Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht!
Der Livestream ist für Sie zwar komplett kostenlos, für uns aber teuer. Denn um eine entsprechende Qualität zu erzielen, die das Zuschauen möglichst zum ruckelfreien Genuss macht, ist ein enormer technischer und personeller Aufwand nötig; auch die Synchronübersetzung in mehrere Sprachen kostet uns viel Geld. Das klappt nur mit Ihrer Hilfe: Unterstützen Sie uns mit einer Spende, wenn Sie den Stream sehen oder anderen dies ermöglichen möchten! Ab einem Betrag von 40 Euro senden wir Ihnen den Kühlschrankmagneten mit dem Motiv der Konferenz als Dankeschön und als eine Art symbolische Eintrittskarte zu. Geben Sie dazu bitte bei der Überweisung Ihren Namen und die Lieferadresse für die Zusendung an:
27.12.2024 19:30 Uhr
Unbeleuchtete Geschichte
Der israelische Filmemacher Eran Torbiner stellt sein Werk am Sonntag nach der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der jW-Maigalerie vor
jW-Maigalerie
Susann Witt-Stahl
Am 12. Januar 2025 wird zwar die Rosa-Luxemburg-Konferenz vorbei sein – die nächste wird erst wieder am 10. Januar 2026 stattfinden. Doch am Sonntag nach der Konferenz ist in Berlin traditionell immer viel los: Trotz einer großen Baustelle vor der Gedenkstätte der Sozialisten soll die Demonstration im Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Sonntag um 10 Uhr in Friedrichshain starten und zum Friedhof führen. Dort findet traditionell das Gedenken an die ermordeten Revolutionsführer statt. Wer sich nach dem Besuch auf dem Friedhof in Lichterfelde, wo auch die Demo endet, noch stärken möchte, hat dazu die Gelegenheit in der Maigalerie der Tageszeitung jungeWelt (Torstraße 6, 10119 Berlin): Dort wird um 14 Uhr die Veranstaltung »Kämpfer der Internationalen Brigaden, antizionistische Aktivisten und Kriegsdienstverweigerer – ein Treffen am Schneidetisch in Tel Aviv« mit Eran Torbiner und Susann Witt-Stahl, Chefredakteurin des Magazins Melodie&Rhythmus, stattfinden.
Torbiner ist israelischer Filmemacher, dessen erstes Dokumentationsprojekt der sozialistischen Organisation Matzpen galt, mit der er schon während seines Studiums der Politikwissenschaften in Tel Aviv in Kontakt kam. Der britische Regisseur Ken Loach inspirierte ihn zu seinem zweiten Film über jüdische Freiwillige in den internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Das filmische Schaffen Torbiners wird Gegenstand eines Gesprächs sein, weiterhin werden einige Ausschnitte aus seinem Werk gezeigt.
Sein zweites Projekt wird dann sicher auch eine Rolle spielen: das Archiv der Linken in Israel. Früher hatte die Kommunistische Partei Israels ihr Archiv in die UdSSR geschickt, um es vor dem Zugriff der Behörden zu schützen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging das Archiv an die Nationalbibliothek in Jerusalem und damit unter die Kontrolle des israelischen Staates. Darüber hinaus gibt es weitere Organisationen und Einzelpersonen, die Dokumente aus Jahrzehnten politischer Arbeit produziert haben. Diese zusammenzutragen und verfügbar zu halten, hat sich Torbiner zur Aufgabe gemacht.
Diese und weitere spannende Aspekte werden am 12. Januar 2025 in der jW-Maigalerie zur Sprache kommen. Wir freuen uns, wenn Sie an diesem Tag bei uns vorbeikommen – vielleicht, um das Wochenende mit Konferenz, Friedhofsbesuch und Demo bei einer spannenden Veranstaltung im Warmen ausklingen zu lassen!
26.12.2024 19:30 Uhr
»Ich bin nicht nur eins, ich bin vieles«
Über Burkina Faso, Sprachwitz und Wahlpopulismus. Ein Gespräch mit Ezé Wendtoin
Hagen Bonn
Wehnert/imago images/Future Image
Ezé Wendtoin bei der Kundgebung der Partei Die Linke zum Weltfriedenstag auf dem Alaunplatz in Dresden (1.9.2020)
Sie haben meine Aufmerksamkeit erregt, als Sie sagten, die deutsche Sprache sei »witzig«. Vielen Dank, endlich hat das jemand bemerkt. Ich war 20 Jahre alt, als ich über bestimmte Wörter stolperte: Doppelhaushälfte und Holzeisenbahn. Aber auch Formulierungen wie »eingefleischter Vegetarier« finde ich klasse.
Donnerwetter! Es ist ein bisschen verrückt, dass Sie hier Oxymora wie »Doppelhaushälfte« benennen. Denn ausgerechnet die haben mir in den letzten Tagen schlaflose Nächte bereitet. Über diese Paradoxa und Wortspiele der deutschen Sprache schreibe ich gerade einen Songtext. Meine Songs »Ratzfatzlatzspatz«, »Ups-Salat« oder »Ruth Ding will Weile« sind durch meine Leidenschaft zur deutschen Sprache entstanden. Das Nachdenken und Grübeln über gewisse Wörter sind für mich wie ein Leiden, das letztendlich doch Freude schafft! So stieß ich gleich zu Beginn meines Masterstudiums in Dresden auf den Begriff »Wahlpflichtfach« und fragte mich, was jetzt? Habe ich nun die Wahl oder nicht?
Sie thematisieren oft die »politische Dimension des Schwarzseins in Deutschland«. In Ihrem Lied »Kein Mensch ist illegal« singen Sie:»Aus Senegal, Wuppertal oder Portugal / Scheißegal, kein Mensch ist illegal.«In Strophe zwei werden Sie dann deutlicher:»Über die Kriegsursachen sind wir gerne stumm / Aber wenn Menschen hierherkommen, meckern viele rum.«Das Thema Fluchtursachen wird oft vergessen, aber aktuell überschlagen sich die politischen Forderungen, Syrer nach Hause zu schicken. Wie ordnen Sie das ein?
Die massive Nutzung entmenschlichender Begriffe wie »illegale Einwanderer« oder »Asylbetrüger« ist in den letzten Jahren zur Normalität geworden. Das hat die Grausamkeit der Begriffe fast unsichtbar gemacht. Der deutsche Staat predigt Wasser und trinkt Wein: Migranten zu Sündenböcken zu machen und vor ihrem Leid und ihrem Recht auf Menschenwürde die Augen zu verschließen, ist heuchlerisch, ja rassistisch! Wie passt das zur Demokratie und vermeintlich europäischen Werten? Ich denke, dass sich aktuell manche Parteien von diesem Populismus erhoffen, rechte Wähler für sich zu gewinnen. Die Diskussion um Migration ist nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver von den echten Problemen – von der Ausbeutung bis zu den globalen Ungerechtigkeiten, die Menschen zur Flucht treiben. Gleichzeitig wird die Spaltung im Land vorangetrieben: Kürzungen in der Jugendarbeit, Bildung und Kultur. Ich finde das ziemlich absurd.
ZuIhremHerkunftsland. Die Sicherheitslage in Burkina Faso war in den vergangenen Jahren recht fragil. Islamistische Gruppen sind im Norden aktiv, und das Militär hat erst kürzlich wieder die Regierung aufgelöst. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Klar, es schmerzt mich sehr, dass die allgemeine Lage im »Motherland« eine echte Herausforderung darstellt. Durch Gespräche mit Verwandten und Freunden ist meine Gesamteinschätzung so, dass die Menschen vor Ort mit den neuen Verantwortlichen eher Zuversicht und Hoffnung verbinden. Als jemand, der zwischen den Ländern, also als »inzwischen dazwischen« Lebender, lebt, ist es ein gutes Gefühl, vor Ort zu spüren, dass die Menschen optimistisch sind. Ich wünsche mir, dass eine Regierung frei von äußeren imperialistischen Einflüssen und unter Wahrung der Rechte und Interessen der Bevölkerung das Land entwickeln und stabilisieren kann.
Viele achten Sie wegen Ihrer musikalischen Vielfalt – westafrikanische Rhythmen, Rap und Afrobeats. Wie verträgt sich das kalte Berlin damit? Vermissen Sie bei Konzerten den Passatwind »Harmattan« und die hohen Temperaturen nicht?
Wenn Sie so fragen, muss ich darauf aufmerksam machen, dass sich die klimatischen Bedingungen der Region konstant zuspitzen, also verschlechtern. Von dieser Klimakrise vor Ort sind freilich alle Menschen und besonders die Kleinbauern betroffen. Dass der globale Süden mit Überhitzung und Naturkatastrophen zu kämpfen hat, ist Folge der kolonialen und imperialistischen Vorherrschaft des weißen Nordens. Und klar, dieser Klimarassismus ist eine Fluchtursache!
Zur Musik. Ich bin nicht nur eins, ich bin vieles: in Sprachen, Gedanken, Geschmäckern oder Musik. Ich möchte mich nicht in eine Kiste sperren lassen. Ich cancle mich nicht, wenn ich gewisse Klischees erfülle. In einem entstehenden Text heißt es: »Meine Zunge behalte ich nicht in meiner Tasche. Ich bin ein Mensch freier Gedanken und keine Maultasche.«
13.12.2024 19:30 Uhr
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