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13.01.2023 11:24 Uhr

Auf Kriegskurs

Immer mehr, immer schwerere Waffen. Die Bundesrepublik ist in der Ukraine de facto Kriegspartei und führt hierzulande soziale Attacken gegen die eigene Bevölkerung
Von Sevim Dagdelen
Neue Soldaten für künftige Kriege vereidigen? Gelöbnis im Bendlerblock, Berlin, 12. November 2022

Hundert Jahre sind nur ein Tag. Was im Ersten Weltkrieg die Zustimmung zu den Kriegskrediten war, sind im Jahr 2023 die Rufe nach deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Die tragische Geschichte wiederholt sich als Farce. Wie im Schicksalsjahr 1914 scheint eine gelangweilte Bourgeoisie den Weltkrieg förmlich herbeizusehnen, da sich ihr kapitalistisches Projekt im Niedergang befindet. Die Hofreiters, Strack-Zimmermanns, Baerbocks und Habecks geben dieser gelangweilten Bourgeoisie ihre Stimmen; schrill von den Obertönen der Doppelmoral eingefärbt ertönt der Ruf nach Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen. Und ganz nebenbei präsentiert man sich als Vollstrecker der Profitinteressen von deutschen Rüstungsschmieden und US-Frackinggaskonzernen. Jetzt sollen wieder deutsche Panzer gen Osten rollen, um den Sieg gegen Russland zu erkämpfen. Die deutsche Öffentlichkeit soll in trügerischer Sicherheit gewiegt werden, da gebetsmühlenartig erklärt wird, dass ja keine deutschen Panzerfahrer dabei seien – und dass es keinen deutschen »Sonderweg« gebe, weil Waffen nur »in Abstimmung mit den Partnern« geliefert würden. Dabei fällt auf, dass diese »Stützen der Gesellschaft« wie Alkoholkranke auf immer mehr Alkohol, auf immer schwerere Waffen setzen müssen, da der versprochene Erfolg ausbleibt. Erst kommt der »Marder«, dann der »Leopard«, dann werden Kampfjets geliefert. Und wenn auch das nicht wirkt, dann doch noch die Bundeswehr? Was derzeit noch ausgeschlossen wird, kann schnell die militärische Erfordernis von morgen sein.

Und da gibt es keine Grenzen: Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter etwa meint, die Ukraine müsse in die NATO aufgenommen oder mit 3.200 »Leopard«-Panzern ausgestattet werden. »Dann wird niemand sie mehr angreifen.« Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erörterte er Mitte Dezember auch, ohne China beim Namen zu nennen, folgendes Szenario: »Wenn uns ein Land seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ›Was wollt ihr eigentlich essen?‹« Ohne seltene Erden käme man ein paar Wochen aus, ohne Nahrung nicht, lautet das grüne Imperialisten-Einmaleins. China ist einer der größten Exporteure seltener Erden, die EU zweitgrößter Weizenexporteur der Welt. Oft sei es in der Geopolitik geboten, »mit dem Colt auf dem Tisch« zu verhandeln, so Hofreiter.

In dieser Logik des Krieges versinkt man immer mehr im Sumpf der eigenen Hybris. Während drei Viertel der Bevölkerung den Eskalationskurs ablehnen und Diplomatie fordern, bringt die Ampelkoalition Deutschland auf Kriegskurs und riskiert den dritten Weltkrieg. Denn sollte die NATO mit ihrem Stellvertreterkrieg in der Ukraine tatsächlich erfolgreich sein und deutsche Panzer gen Moskau fahren, um die territoriale Integrität der Ukraine zu erzwingen, ist schwer vorstellbar, dass eine Atommacht dies nicht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern wollen wird. Mit Allgemeinplätzen wie »Angst ist ein schlechter Ratgeber« spielt die Bundesregierung Vabanque um einen Atomkrieg in Europa.

Zuweilen stutzt man vor so viel Tollkühnheit und fragt sich nach dem Geheimnis der Bereitwilligkeit, mit der Berlin Russisch Roulette spielt. Es scheint, als sei der Quell dieser totalen Risikobereitschaft die erwartete Unterstützung der USA. Dass die indes eigene Interessen haben, scheint völlig vergessen zu werden. Es ist aber wie bei einem Hund-Herr-Verhältnis. Der Hund, wenn er an der Leine geführt wird, fühlt sich um so stärker, den Herr hinter sich wissend. »Wir können nicht verlieren, denn die USA stehen hinter uns«, so die wenig umsichtige Denke der Bundesregierung. Es ist eben diese gefährliche Illusion, dass das Risiko eines Weltkrieges dadurch kalkulierbar niedrig und vor allem beherrschbar sei.

Aufrüstung und Wirtschaftskrieg

Allein: Dieser Krieg wird nicht nur mit Waffen geführt, sondern auch mit ökonomischen Mitteln. Beispiellose Wirtschaftssanktionen sollen Russland niederringen. Aber statt Russland zu ruinieren, führt die Bundesregierung im Grunde einen Wirtschaftskrieg gegen große Teile der eigenen Bevölkerung. Denn während in Russland staatliche Energiekonzerne Rekordgewinne infolge der Preissteigerungen durch Angebotsverknappungen einfahren, müssen die Beschäftigten in Deutschland mit 4,7 Prozent den größten Reallohnverlust in der Geschichte der Bundesrepublik hinnehmen. Alle Brosamen der Energiehilfen können das nicht abfedern. Skrupellos verknüpft die Ampelkoalition Krieg und Sozialabbau. Und in diesem Jahr soll es so weitergehen. Weitere Reallohnverluste sind programmiert. Die kommende Rezession ist hausgemacht. Bereits jetzt stehen zwei Millionen Menschen in Deutschland bei den Tafeln für Lebensmittelspenden an, während für Aufrüstung und Wirtschaftskrieg hunderte Milliarden verausgabt werden. So führt die Ampelregierung diesen Krieg auch als soziale Attacke, die die Existenz von hunderttausenden Arbeitsplätzen in der deutschen Industrie aufs Spiel setzt und die Leute regelrecht ins Elend stürzt.

Der Philosoph Walter Benjamin hatte einst die Einsicht formuliert: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.« Die Politik der Bundesregierung schafft diesen Ausnahmezustand. Die De-facto-Kriegsbeteiligung wird mit einer brutalen Umverteilungspolitik von unten nach oben verknüpft. Während die Beschäftigten die Zeche zahlen, stiegen 2022 die Gewinne der Öl- und Stromkonzerne mit einem Zuwachs von 113 Milliarden Euro rasant an. Und mit rund 55 Milliarden Euro zahlen die deutschen Dax-Konzerne ihren Aktionären so viel Dividende aus wie noch nie zuvor. Für dieses Jahr rechnet die Sparkassen-Tochter Deka in einer Analyse mit einer weiteren Dividendensteigerung von voraussichtlich 56,8 Milliarden Euro.

Weltmeister der Doppelmoral

Der brutale soziale Krieg gegen die eigene Bevölkerung verlangt selbstverständlich nach verstärkten Bemühungen moralischer Kriegseintrittsbemühungen. Dass dabei mit zweierlei Maß gemessen werden muss, ist geradezu folgerichtig. Die Bundesregierung jedenfalls ist Weltmeister der Doppelmoral, denn einer Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA im Irak oder der Türkei in Syrien verweigert sie sich beharrlich, während der Völkerrechtsbruch Russlands als Argument für einen Kriegseintritt mittels Waffenlieferungen und Wirtschaftskrieg dient.

So wie 1914 die SPD mit dem Argument des notwendigen Sieges über den »russischen Despotismus« für die Kriegskredite stimmte, so ist mehr als einhundert Jahre später der vorgebliche Kampf gegen den russischen Imperialismus die Triebfeder für den Ruf nach Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen, auch wenn dies die Gefahr einer direkten deutschen Kriegsbeteiligung weiter erhöht. Ganz im Sinne der Burgfriedenspolitik des Ersten Weltkriegs kommt es zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung für deutsche Aufrüstung und Waffenlieferungen, für die sich selbst linke Intellektuelle einspannen lassen. So etwa der Kulturphilosoph Slavoj Zizek, der auf dem Kriegspfad der Bundesregierung wandelt – ganz im Geiste des »Manifests der 93« (»An die Kulturwelt!«) zur Rechtfertigung des deutschen Vormarschs im Ersten Weltkrieg. Als sei er ein Wiedergänger der SPD-linken Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe, die sich vom Krieg die Befreiung der Völker Europas von zaristischer Unterdrückung und vom französischen und britischen Imperialismus erhoffte, trommelt Zizek heute für den Kriegseintritt Deutschlands mittels weiterer Waffenlieferungen. Und wer sich gegen diese Waffenlieferungen erklärt, dem wird das Linkssein ganz im Sinne der nationalistischen Formierung einer Volksgemeinschaft des Krieges abgesprochen. Zizek richtet alles darauf, dass die westlichen Gesellschaften endlich ihren »Pazifismus« aufgeben, die »eigene Melancholie« ablegen und sich offensiv am Krieg beteiligen. Man könne kein Linker sein, ohne die Ukraine zu bewaffnen; eine direkte Kriegsbeteiligung wird unausgesprochen in Aussicht gestellt und emanzipatorisch verbrämt.

Linke Erfüllungsgehilfen

Man darf nicht verschweigen, dass diese Haltung auch bei der Partei Die Linke ihren Niederschlag gefunden hat. Führende Linke überschlagen sich mit Forderungen, Waffen zu liefern. Sie brechen offen mit dem Parteiprogramm. Das Argument, dass sich aus dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine eine völkerrechtliche Pflicht zu Waffenlieferungen ergebe, ist falsch und hanebüchen. Wer für die Lieferungen schwerer und noch schwererer Waffen von deutschen Rüstungsschmieden an die Ukraine plädiert, befeuert nicht nur die Gefahr eines direkten deutschen Kriegseintritts, sondern macht sich auch zum Erfüllungsgehilfen der Profitinteressen des militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland. Was für die Waffenlieferungen gilt, gilt für den Wirtschaftskrieg gegen Russland in noch stärkerem Maße. Offizielle Position des Parteivorstands ist es mittlerweile, sich an den einseitigen Wirtschaftssanktionen zu beteiligen – auch dies unter Bruch des eigenen Programms. Aus der Linken ist an der Spitze eine Partei der Enthaltung und des Wegduckens geworden. Mit den Mächtigen und Krisenprofiteuren will und kann man sich nicht mehr anlegen. Mit dieser Politik der Regungslosigkeit werden der AfD die Hasen in die Küche getrieben. In der Tierwelt mag das sich Totstellen als Verteidigungslist zum Teil funktionieren, in der Politik wird es gnadenlos bestraft.

Das hat dazu geführt, dass Die Linke als Antikriegskraft ausfällt, allen schwachen Appellen nach einer Verhandlungslösung zum Trotz. Wohlweislich hatte man in der Leipziger Erklärung der Linken die Themen Waffenlieferungen und Wirtschaftskrieg ausgespart und die Wiederherstellung der völligen Souveränität der Ukraine als Ziel formuliert, die indes allen Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand zuwiderläuft.

Dabei braucht es eine Kraft von links, die den Widerstand gegen die Propaganda für den Kriegseintritt organisiert, die sich dem Aufrüstungswahn und den Waffenlieferungen sowie einer tödlichen Doppelmoral konsequent entgegenstellt. Es braucht eine Kraft von links, die sich an Karl Liebknechts Diktum »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« erinnert, um einen direkten Kriegseintritt Deutschlands – und um einen dritten Weltkrieg – zu verhindern.

Sevim Dagdelen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 2017 bis 2020 war sie stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag.

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