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04.01.2023 19:30 Uhr

Forcierte Auspressung

Absoluter und relativer Mehrwert. Der Ausbeutungsgrad der US-amerikanischen Lohnarbeiter hat sich im Zeitalter des Neoliberalismus deutlich erhöht
Von Jack Rasmus
Längere Arbeitszeiten, schlechtere Entlohnung, Verdichtung der Arbeit. Diesem Trend waren in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Lohnabhängige in den USA ausgesetzt (Arbeiter in einer Automobilfabrik in Flat Rock, Michigan)

In den vergangenen vier Jahrzehnten der neoliberalen Ära des Kapitalismus (etwa 1979–2019) hat sich die Ausbeutung im Vergleich zur vorneoliberalen Ära erheblich intensiviert und ausgeweitet. Ein Kennzeichen des Neoliberalismus ist ein stärkerer Einsatz des kapitalistischen Staates, dem Kapital bei seiner Auspressung von mehr (absolutem wie relativem) Mehrwert aus den Arbeitern zu assistieren.

Im Rahmen des neoliberalen Kapitalismus in den »fortgeschrittenen Volkswirtschaften«, insbesondere in den USA, wurde in den vergangenen vier Jahrzehnten die Arbeitszeit (absolute Mehrwertgewinnung) verlängert und die Arbeitsproduktivität (relative Mehrwertgewinnung) hinsichtlich der Intensität wie auch auch des Umfangs der relativen Mehrwertgewinnung erheblich gesteigert.

Arbeitszeitverlängerung

Bestandteil der bürgerlichen Ideologie ist die Behauptung, der Arbeitstag habe sich im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts verkürzt. Diese Verkürzung mag es zur Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben haben, als das Kapital während der Großen Depression in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs auf die Kooperation der Arbeiter angewiesen und zu einigen Zugeständnissen bereit war. 1938 wurde in den USA ein Gesetz über faire Arbeitsnormen verabschiedet, das die Bezahlung von Überstunden und einen Mindestlohn vorschrieb und außerdem Versuche der Kapitalisten, den Arbeitstag zu verlängern, mit Strafen belegte. Den gleichen Effekt hatte die Gesetzgebung, die nach 1936 gewerkschaftliche Organisierung ermöglichte, wonach die mit den Gewerkschaften abgeschlossenen Verträge eine noch stärkere Sanktionierung für Überstunden und Schichtarbeit vorsahen, um die Kapitalisten von ihren Bemühungen einer Verlängerung des Arbeitstages abzuhalten.

Während des Zweiten Weltkriegs vermochten die Kapitalisten in ihrem Streben nach Mehrarbeit, die Produktion auszuweiten – nicht durch Verlängerung des Arbeitstages, sondern indem sie Millionen von Arbeiterinnen, vor allem in der Kriegsgüterproduktion, einstellten, anstatt einen längeren Pflichtarbeitstag einzuführen. In den ersten Kriegsjahren arbeiteten die Arbeiter freiwillig länger, um die Einkommensverluste aus den Jahren der Depression auszugleichen. Aber es war ihre Entscheidung. Und als die Kriegsjahre weitergingen, nahm die Zahl der freiwilligen Überstunden ab.

In der Zeit unmittelbar nach Kriegsende konnten die Gewerkschaften den Arbeitstag weiter verkürzen, indem sie Verträge aushandelten, die bezahlte Urlaubstage und eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle vorsahen. Ende der 1960er Jahre hatte ein durchschnittlicher Gewerkschaftsarbeiter typischerweise Anspruch auf drei Wochen bezahlten Urlaub nach fünf Arbeitsjahren. In der Regel gab es zehn bezahlte Feiertage pro Jahr. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall belief sich auf sechs bis zwölf Tage pro Jahr. Für vielleicht ein Drittel der Beschäftigten auf dem Höhepunkt des gewerkschaftlichen Organisierungsgrades wurde der Arbeitstag durch die in den Tarifverträgen ausgehandelte bezahlte Freistellung noch weiter verkürzt – zusammen mit einem strikten Verbot von verpflichtenden Überstunden.

Kurz gesagt, es stimmt, dass der Arbeitstag in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts verkürzt werden konnte – durch starke Gewerkschaften, Tarifverträge und bis zu einem gewissen Grad durch staatliche Maßnahmen in Gestalt von Lohn- und Arbeitszeitgesetzen. Der Trend zum kürzeren Arbeitstag wurde jedoch Ende der 1970er Jahre gestoppt und umgedreht. Der Arbeitstag hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten unter dem Regime einer neoliberalen Wirtschaft wieder verlängert.

Obligatorische Überstunden – unter Androhung von Entlassungen – wurden in den 1970er Jahren zu einem ständigen Problem für die Arbeiter im verarbeitenden Gewerbe. Als Folge der Politik von Regierung und Kapital begann für die Gewerkschaften Ende der 1970er Jahre eine lange Periode des Niedergangs und der Dezimierung, die sich in den 1980er Jahren beschleunigte und danach weiter anhielt. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder ging von einem Höchststand von 30 bis 35 Prozent der Belegschaft jedes Jahr kontinuierlich auf inzwischen zehn Prozent oder weniger im Jahr 2019 zurück. In den großen Industriezweigen wie der Kraftfahrzeugindustrie, der Stahlindustrie, der Fleischverarbeitung, der Kommunikationsbranche, dem Baugewerbe und dem Bergbau waren zu Höchstzeiten 70 bis 80 Prozent der Gesamtbelegschaft gewerkschaftlich organisiert. Die Vertiefung des Neoliberalismus unter US-Präsident Ronald Reagan, die Verlagerung von Arbeitsplätzen, Deindustrialisierung und Deregulierung ganzer Branchen (Verkehr, Kommunikation usw.) sowie die direkte Offensive gewerkschaftsfeindlicher Anwaltskanzleien, die von Unternehmen beauftragt wurden, sorgten für einen kontinuierlichen Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften. Mit deren Schwächung wurden die in den Tarifverträgen enthaltenen Verbote von obligatorischen Überstunden, »geteiltem Dienst« und Schichtarbeit aufgeweicht oder aufgehoben. Tarifverträge, die Sanktionen (z. B. Halb-, Doppel- oder Dreifachzeitzuschläge) vorsahen gegen Unternehmer, die den Arbeitstag verlängerten, wurden immer seltener oder verschwanden ganz.

Überstunden ohne Zuschläge

Gleichzeitig wurde nach 1980 auch die Wirkungskraft des Fair Labor Standards Act (FLSA) von 1938, der Überstunden regelt, geschwächt. Bundesgerichtshöfe entschieden immer wieder, dass die Unternehmensleitung das Recht habe, nach Belieben Überstunden anzuordnen. Immer weniger gelang es, die Verlängerung des Arbeitstages zu verhindern. Schließlich verloren Millionen von Arbeitern ihren früheren Anspruch auf Überstundenzuschläge. Ab 2005 hatte das Kapital praktisch freie Hand, den Arbeitstag zu verlängern – was es auch häufig tat, da es günstiger ist, die vorhandenen Arbeiter zu etlichen Überstunden zu verpflichten, als neue, zusätzliche Arbeiter einzustellen und einzuarbeiten. Doch dies war nur der Anfang des neoliberalen Trends zur Ausweitung des Arbeitstages und damit zur erhöhten Ausbeutung durch Auspressung von mehr absolutem Mehrwert.

In den 1980er Jahren begann sich die nicht freiwillige Teilzeitbeschäftigung auszudehnen, in den 1990er Jahren dann ebenso die »Zeitarbeit«. Wie bei den Überstunden waren die inzwischen geschwächten Gewerkschaften nicht mehr in der Lage, sich der kapitalistischen Offensive zu widersetzen. Das Anwachsen von Teilzeit- und »Zeitarbeit« fiel mit dem Beginn einer beträchtlichen Auslagerung von Produktionsarbeit aus den USA und dem entsprechenden Anstieg schlecht bezahlter Dienstleistungsjobs zusammen. Da vormals Vollzeitarbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe ins Ausland verlagert wurden, wurde die Lücke durch die Zunahme von schlecht bezahlten Arbeitsplätzen in der Dienstleistungsbranche mit geringeren Sozialleistungen und weniger Wochenarbeitsstunden gefüllt. Im Zuge der Deindustrialisierung der US-amerikanischen Wirtschaft, die sich ab Anfang der 1980er Jahre beschleunigte, mussten die Arbeiter zwei und manchmal drei schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs annehmen, um ihren Lebensstandard zu halten. Diese Verlagerung auf sogenannte Kontingentarbeitsplätze bedeutete für Dutzende Millionen US-amerikanische Lohnabhängige eine erneute Verlängerung des Arbeitstages.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren in den USA bereits 50 Millionen Arbeiter in Teilzeit, »Zeitarbeit« und ähnlichen Beschäftigungsformen angestellt, die zwei oder mehr Jobs erforderten, um über die Runden zu kommen. Dieser Trend beschleunigte sich nach dem Jahr 2000 mit dem Aufkommen der »Gig«-Arbeit, wodurch sich der Arbeitstag für Vollzeitbeschäftigte bei Uber, Lyft und anderen vergleichbaren Transportunternehmen weiter verlängerte. Die traditionelle Festanstellung wich scheinselbständigen Beschäftigungsverhältnissen auf der Grundlage von Werkverträgen.

Immer arbeiten

Seit 1980 wurde Dutzenden Millionen Arbeitern die bezahlte Freizeit – Urlaub, Feiertage und Abwesenheit durch Krankheit – zusammengestrichen. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass in den Tarifverträgen weniger bezahlte Urlaubstage festgeschrieben sind, weil die geschwächten Gewerkschaften größere Zugeständnisse machten. Aber der Trend zu weniger bezahlter Freizeit wurde auch durch die Zunahme von Teilzeitarbeit, »Zeitarbeit« und befristeten Arbeitsverhältnissen im Dienstleistungssektor verschärft. Teilzeitbeschäftigte erhalten keinen bezahlten Urlaub, bekommen beispielsweise nur vier von fünf nationalen Feiertagen bezahlt und ihnen wird nur selten eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gewährt. Die Einführung des bezahlten Urlaubs hat den Arbeitstag von den 1930er bis zu den 1970er Jahren verkürzt. Seine Rücknahme bedeutet mithin eine Verlängerung der Arbeitszeit.

Da die Zahl der Fachkräfte in der Wirtschaft prozentual zur Erwerbsbevölkerung gestiegen ist, sind auch die Arbeitszeiten der Fachkräfte gestiegen. In der Technologiebranche wird von Software- und anderen Ingenieuren erwartet, dass sie auch nach 17 Uhr noch lange arbeiten, vor allem, wenn ein Projekt in vollem Gange ist. Es ist kein Zufall, dass Unternehmen im Silicon Valley wie Apple ihren Mitarbeitern subventionierte Kantinen zur Verfügung stellen. Einige haben sogar Einrichtungen, in denen die Mitarbeiter ein kurzes Nickerchen machen können. Es gibt kostenlose Sporteinrichtungen und alle Arten von Fastfood und Snacks, um sie wach zu halten. Es ist allgemein bekannt, dass von vielen kreativen Mitarbeitern, nicht nur von denen bei Apple oder in der Technologiebranche, erwartet wird, dass sie abends und am Wochenende an Projekten arbeiten. Und natürlich werden sie von ihren Unternehmen als »fest angestellt« eingestuft, so dass sie trotz der langen Arbeitszeiten keinen Anspruch auf Überstundenzuschläge haben.

Die wichtigste Entwicklung ist der Trend zur Heimarbeit, der von der Covid-19-Pandemie beschleunigt wurde. Millionen von Menschen arbeiten von zu Hause aus, was die typische Arbeitszeit »from nine to five« aufgelöst und zu längeren, zusehends undefinierten Arbeitszeiten geführt hat. Teammitglieder können über Zeitzonen und sogar Kontinente hinweg verstreut sein. Besprechungen finden daher rund um die Uhr statt. Im Rahmen von Covid wurden Dutzende von Millionen Menschen für die Telearbeit eingesetzt. Viele von ihnen werden dies auch weiterhin tun. Ihre längeren Arbeitstage tragen zur Gesamtheit verlängerter Arbeitszeiten der Arbeiterklasse im Allgemeinen bei.

Der Arbeitstag sollte dabei nicht bloß als ein »Tag« und als die Summe seiner Stunden verstanden werden. Angenommen, der »normale« durchschnittliche Arbeitstag eines einzelnen Arbeiters betrug zuvor acht Stunden und nun neun, sollte diese zusätzliche Stunde mit allen Arbeitern multipliziert werden, die einen ähnlich verlängerten Arbeitstag haben. Dieses Ergebnis wird wiederum mit den etwa 180 bis 200 tatsächlichen Arbeitstagen eines Jahres verrechnet. Mit anderen Worten: Das Maß für den längeren Arbeitstag sollte auf Jahresbasis für die gesamte Erwerbsbevölkerung aggregiert werden. Wenn man dies tut, ergibt sich das Bild eines steigenden durchschnittlichen Arbeitstages aus allen oben genannten Gründen.

Die Regierungsstatistiken enthalten keine Schätzung des durchschnittlichen Arbeitstages für die meisten der oben genannten Beispiele. Es gibt keine gesamtgesellschaftliche durchschnittliche Schätzung des Arbeitstages. Die Daten des US-Arbeitsministeriums über die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beziehen sich nur auf Vollzeitbeschäftigte, so dass die rund 50 Millionen Teilzeit-, »Zeitarbeits-« und »Gig«-Arbeitsstunden nicht berücksichtigt werden. Studien, in denen die schnell wachsende Kategorie der »Gig«-Arbeit geschätzt wird, beschränken sich auf diejenigen, die »Gig«-Arbeit nur als ihren ersten Job ausüben, und lassen somit die vielen, die »Gig«-Arbeit als zweiten und dritten Job ausüben, außer acht. Die Überstunden der abhängig Beschäftigten werden nicht berechnet. Kurzum, offizielle statistische Berechnungen über die Länge des Arbeitstages gibt es einfach nicht.

Dennoch verbreiten Regierungen und Medien weiterhin das Märchen, dass der Arbeitstag im 20. Jahrhundert kürzer geworden und auch in den vergangenen Jahrzehnten unter dem neoliberalen Regime des Kapitalismus des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nicht wieder angestiegen sei. Dementgegen erhöhte die Verlängerung des Arbeitstags seit den späten 1970er Jahren die Ausbeutungsrate durch Schaffung von mehr absolutem Mehrwert.

Steigende Produktivität

Steigende Produktivität ist ein wichtiger Indikator für die verstärkte Ausbeutung der Arbeitskraft und die Gewinnung von relativem Mehrwert. Einfach definiert liegt Produktivität vor, wenn die Produktion von Waren oder Dienstleistungen steigt, während die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden konstant oder die Produktion nach einer Verringerung der Arbeitsstunden unverändert bleibt. Oder wenn beide Bedingungen zusammen vorliegen, das heißt wenn die Zahl der Beschäftigten und die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden verringert werden, die Gesamtproduktion aber dennoch steigt.

In den ersten Jahrhunderten der kapitalistischen Produktionsweise stieg die Produktivität vor allem durch eine effizientere Reorganisation der Arbeit – in der Regel durch eine stärkere Spezialisierung und Arbeitsteilung im Produktionsprozess. In einer Planwagenmanufaktur des 18. Jahrhunderts, in der sechs Arbeiter beschäftigt waren, konnte jeder von ihnen alle Aufgaben erledigen, die für die Herstellung eines Planwagens pro Woche erforderlich waren, so dass insgesamt sechs Planwagen von sechs Arbeitern hergestellt werden konnten. Durch die Spezialisierung auf bestimmte Aufgaben – ein Arbeiter stellt die Räder her, ein anderer den Wagenkasten, ein anderer das Joch für die Pferde usw. – produziert die Planwagenfabrik in der Woche sieben statt sechs Wagen. Der eine zusätzliche Wagen bedeutet eine Produktivitätssteigerung von einem Sechstel oder etwa 16 Prozent allein durch die Neuorganisation des Arbeitsablaufs. Wenn die Arbeiter für ihre nun spezialisierte, noch qualifiziertere Arbeit keinen höheren Lohn erhalten, dann hat der Kapitalist seinen Mehrwert um etwa den Gegenwert jener 16 Prozent erhöht.

Für Marx steigt der relative Mehrwert für den Kapitalisten sowohl durch erhöhte Produktivität als auch durch den relativen Rückgang der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit innerhalb eines durchschnittlichen Arbeitstages. Marx erkannte, dass es die Maschinerie war, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts zum mächtigsten Mittel wurde, um diese beiden Entwicklungen voranzutreiben: steigende Produktivität und Senkung der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für die Reproduktion der Arbeit.

Doch die Produktivität ist ein zweischneidiges Schwert. Maschinen intensivieren die Arbeit und erhöhen ihren Wertbeitrag zum Produkt. Dem Arbeiter wird »strengste Disziplin« auferlegt, er arbeitet nun mehr im Rhythmus der Maschine. Die Maschinen erhöhen den Umfang der Warenproduktion, während sie gleichzeitig die Zahl der Arbeiter (und damit die Gesamtarbeitszeit) verringern, die für die Herstellung dieser größeren Warenproduktion erforderlich sind. Beides trägt zur Produktivität bei. Und wenn die noch beschäftigten Arbeiter keinen Anteil an diesem größeren Gesamtwert aus der Produktivität in Form höherer Löhne erhalten, dann fällt dem Kapitalisten praktisch der gesamte relative Mehrwert aus dem Produktivitätszuwachs zu.

Mit anderen Worten: Das wichtigste Kennzeichen für die durch Maschinen ermöglichte Produktivitätssteigerung ist der damit verbundene Rückgang von Arbeitsplätzen und Arbeitszeiten im Allgemeinen. Damit zusammenhängende Veränderungen können den Produktivitätsanstieg noch verstärken, zum Beispiel Veränderungen in der Form der Unternehmensorganisation, intensivere kapitalistische »Motivations«-Programme für Arbeiter, eine verstärkte Ausbildung der Arbeitskräfte zur Steigerung der produktivitätssteigernden Fähigkeiten, Größenvorteile usw. Aber es ist die Einführung von Maschinen, die primär und am stärksten zur Produktivität beiträgt.

Die Produktivitätsdaten für die US-Wirtschaft der vergangenen vier Jahrzehnte der neoliberalen Ära zeigen, dass genau das passiert ist: Wo die Produktivität stieg, wurden Arbeitsplätze und Arbeitsstunden abgebaut, während die Löhne stagnierten oder sanken. Dieses Muster war zwischen 2000 und 2020 besonders im verarbeitenden Gewerbe zu beobachten – eine Entwicklung, die nicht überraschend auf den großen Aufschwung der neuen Technologien und den »Dot.com«-Boom von 1995 bis 2000 folgte.

Die Produktivität in der US-Wirtschaft stieg während des neoliberalen Regimes von 1979 bis 2019 um etwa 75 Prozent, was in etwa der gleichen Rate entspricht wie in den vorangegangenen 30 Jahren ab 1948, als erstmals Daten erhoben wurden. Im gleichen Zeitraum stieg jedoch das Arbeiterentgelt (Löhne und Sozialleistungen) für alle Arbeiter im produktiven Sektor und für nicht-leitende Angestellte – die während des neoliberalen Zeitraums im Durchschnitt etwa 80 Prozent der US-Arbeitskräfte ausmachten – nur um 17,5 Prozent, wie das Economic Policy Institute (EPI) in seiner Analyse von Regierungsdaten feststellte. Da der Anteil der Sozialleistungen an der Gesamtvergütung in der Regel etwa ein Viertel beträgt, lag der geschätzte Lohnanteil an diesen 17,5 Prozent bei etwa 13 Prozent. Die Löhne stiegen also um etwa ein Sechstel des Produktivitätszuwachses. Doch während die Hälfte dieses 13prozentigen Anstiegs der realen Stundenlöhne an die obersten fünf Prozent der Beschäftigten in der Produktion und in anderen Bereichen ging, gab es für den Median der dortigen Beschäftigten in den vierzig Jahren seit 1979 nur einen geringen oder gar keinen Anstieg der Reallöhne; und die untersten, am schlechtesten bezahlten Beschäftigten in dieser Gruppe erlebten zwischen 1979 und 2019 wahrscheinlich einen tatsächlichen Rückgang der realen Stundenlöhne. Für den Median der Produktionsarbeiter lag der Lohnanteil am Produktivitätszuwachs wahrscheinlich bei zehn Prozent oder weniger.

Arbeitsplätze halbiert

Nach Angaben des US-Arbeitsministeriums gab es Ende 2019 106 Millionen Beschäftigte in der Produktion – von den insgesamt rund 150 Millionen Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft. Unterstellt, sie sind zwischen 1982 und 1984 Teil der Erwerbsbevölkerung geworden, hätte es für sie in den vier Jahrzehnten keinen Reallohnanstieg gegeben.

Im warenproduzierenden Sektor der US-Wirtschaft – insbesondere im verarbeitenden Gewerbe – ist der Rückgang der Beschäftigung und der Gesamtarbeitszeit besonders stark ausgefallen. Allein zwischen 2000 und 2020 ist der Anteil der USA an der weltweiten Güterproduktion bei etwa 25 Prozent stabil geblieben, während die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe von etwa 18,3 Millionen auf etwa 12,7 Millionen zurückging.

Bei diesem Verlust von fast sechs Millionen Arbeitsplätzen muss zudem berücksichtigt werden, dass die Erwerbsbevölkerung der USA außerhalb der Landwirtschaft in jenen beiden Jahrzehnten von 110 Millionen auf 150 Millionen Menschen oder um etwa 36 Prozent gestiegen ist. Wäre die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in den USA seit dem Jahr 2000 ebenfalls um durchschnittlich 36 Prozent gestiegen, hätte sich ihre Gesamtzahl auf 24 Millionen erhöht. So lässt sich argumentieren, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe relativ um fast die Hälfte zurückgegangen ist.

Dieser Prozess ist in erster Linie auf Produktivitätssteigerungen zurückzuführen, da die Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe durch Maschinen ersetzt wurden, die vor allem die in den späten 1990er Jahren eingeführte Technologie ermöglichte. Wenn die Warenproduktion im verarbeitenden Gewerbe in diesem Zeitraum nicht zurückgegangen ist, was nicht der Fall war, dann lässt sich schließen, dass alle Produktivitätsgewinne der letzten 20 Jahre dem Kapital zugute gekommen sind. Dieser »Output«, der jetzt mit einem Drittel bis zur Hälfte weniger Arbeitern produziert wird, bedeutet einen auf die Spitze getriebenen Gewinn von relativem Mehrwert.

Der Verlust von etwa sechs Millionen Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe bedeutet zudem 12,4 Milliarden Stunden weniger pro Jahr, um den gleichen »Output« zu produzieren. Multipliziert man diese Zahl mit 20 Jahren und den erreichten Produktwert wiederum mit einem geschätzten durchschnittlichen Stundenlohn von 20 US-Dollar pro Stunde, so erhält man eine beträchtliche Kosteneinsparung für die Kapitalisten im verarbeitenden Gewerbe der USA, die durch die Verdrängung von sechs Millionen Arbeitern durch neue Maschinen und andere damit verbundene Änderungen der Arbeitsorganisation erreicht wurde.

Zugeständnisse aus Schwäche

Gleichzeitig mit diesem Produktivitätsanstieg und dem Verlust von Arbeitsstunden für die Arbeiter in der verarbeitenden Industrie konnten die Kapitalisten noch mehr Lohn- und Sozialleistungskosten von denjenigen Arbeitern wieder hereinholen, die beschäftigt blieben. Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren durch gewerkschaftliche Zugeständnisse gekennzeichnet, bei denen die Gewerkschaften im verarbeitenden Gewerbe (insbesondere in der Automobil- und Stahlindustrie) angesichts eines solchen Großangriffs auf die Arbeitsplatzsicherheit auf die zuvor ausgehandelten Löhne und Sozialleistungen verzichteten. Im Zuge solcher Zugeständnisse haben die Unternehmen auch die Kosten für die Krankenversicherungsprämien auf die Beschäftigten abgewälzt und ihre Kosten für die Rentenleistungen gesenkt. Mit anderen Worten: Die Lohn- und Leistungskürzungen waren in der gesamten verarbeitenden Industrie in der Zeit nach 2000 tiefgreifend und ausufernd.

Die erheblichen Produktivitätszuwächse – die hauptsächlich dem Kapital zugute kamen – erfolgten während der gesamten neoliberalen Ära 1979–2019 und insbesondere in deren letzter Hälfte 2000–2019, als die Reallöhne der Produktionsarbeiter in historischem Ausmaß sanken.

Dieser doppelte Trend der steigenden Produktivitätserfassung durch das Kapital und der stagnierenden bzw. sinkenden Reallöhne führte zu einem Anstieg der Arbeitsausbeutung (also einem Anstieg des relativen Mehrwerts) in einer Größenordnung, wie sie seit den 1930er Jahren und der Großen Depression nicht mehr zu beobachten war.

Der vorliegende Text ist ein übersetzter Auszug eines deutlich umfangreicheren Essays, den der Autor unter dem Titel »The Changing Character of Late Capitalist Exploitation in Production and Exchange« verfasst hat.

Jack Rasmus unterrichtet US-amerikanische Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsgeschichte der USA und Geschichte des ökonomischen Denkens am St. Marys College in Moraga, Kalifornien. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Weltwirtschaft, zuletzt erschien von ihm 2019 der Band »Alexander Hamilton and the Origins of the Fed«. Zudem veröffentlicht er regelmäßig Artikel etwa bei Telesur und Counterpunch und betreibt einen Blog auf jackrasmus.com. Jack Rasmus wird auf der XXVIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz zum Thema »Deglobalisierung und der Zwang zum Krieg« referieren.

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