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20.10.2022 10:39 Uhr

Der repressive Spitzelstaat

Von Daniel Bratanovic
Zu Attacken des bundesdeutschen Staates auf Andersdenkende: Arnold Schölzel, Irmgard Cipa, Moderator Sebastian Carlens und Lore Nareyek (v.l.n.r.) auf der #RLK22
»Es geht darum, generell kritische Stimmen mundtot zu machen«: Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer des Verlags 8. Mai (r.)

Der Staat des Kapitals bespitzelt seine Kritiker, prangert sie an, macht ihnen das Leben schwer, und schlägt je nach Lage und Opportunitätserwägung zu: Repression, Verbote und gesellschaftlicher Ausschluss sind die Mittel der Wahl. Das gilt in diesem Land für Vergangenheit wie Gegenwart. 50 Jahre »Radikalenerlass« und der Prozess der jungen Welt gegen den Verfassungsschutz wurden auf der XXVII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin eingehend beleuchtet.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt die Tageszeitung junge Welt seit langer Zeit Jahr für Jahr in seinen Berichten als das wichtigste »Printmedium im Linksextremismus«. Dagegen ist der Herausgeber der Zeitung, der Verlag 8. Mai, nun gerichtlich vorgegangen. Das angerufene Gericht wollte von der Bundesregierung nun wissen, warum die junge Welt als verfassungsfeindlich einzustufen sei. Deren Begründung lässt, wie Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer des Verlags, auf der Konferenz erläuterte, tief blicken: Der zentrale Vorwurf laute, die Zeitung sei marxistisch orientiert. Marxismus gilt dem Inlandsgeheimdienst demnach als per se verfassungsfeindlich, Begriffe wie Klassenkampf seien Hinweise auf ein falsches Denken. Mehr noch: Bereits marxistisches Denken an sich sei verfassungsfeindlich. »Das ist eine neue Qualität«, sagte Koschmieder. Ferner gelten die strenge antifaschistische Ausrichtung, die angebliche Glorifizierung sozialistischer Länder und die unterstellte Unterstützung terroristischer Organisationen den »Verfassungsschützern« als verdächtig. Kurios kommt allerdings der Vorwurf daher, die junge Welt betreibe einen revolutionären Aktivismus. Der Beweis: sie unterhalte ein »Aktionsbüro«. Koschmieder betonte, dass die Angriffe auf die junge Welt ein Angriff auf die gesamte Linke dieses Landes sei: »Es geht darum, generell kritische Stimmen mundtot zu machen.« Deshalb müsse dieser Angriff auch von der gesamten Linken zurückgeschlagen werden.

Dass die Attacken des bundesdeutschen Staates auf Andersdenkende keineswegs eine Angelegenheit nur der Gegenwart ist, wussten in der Folge drei Konferenzteilnehmer zu berichten. Vor 50 Jahren erließ die sozial-liberale Bundesregierung unter Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlass, der sich gegen etliche tausend Menschen richtete, die auf dem Sprung in den Staatsdienst standen. Der Erlass schuf ein Klima des Misstrauens und der Denunziation, zerstörte Tausende Karrieren und richtete sich zu 95 Prozent gegen links. Irmgard Cipa vom Bundesarbeitsausschuss »Initiative 50 Jahre Radikalenerlass« erinnerte zwar daran, dass der Protest gegen die staatliche Repression erfolgreich war, so dass die Verfolgungspraxis in den 1980er Jahre nicht mehr angewandt wurde, allerdings sei der Erlass nie aufgehoben worden. Und das wirke bis heute nach. »Die Betroffenen werden vom Verfassungsschutz weiter bespitzelt. Das dient der Einschüchterung. Und die Maßnahmen können jederzeit wieder scharf gestellt werden.«

Lore Nareyek von der Arbeitsgruppe Berufsverbote in der GEW Berlin wiederum schilderte das spezifische Klima in der Frontstadt West-Berlin während des Kalten Kriegs. Eine Notgemeinschaft für eine Freie Universität, zusammengesetzt vor allem aus antikommunistischen Professoren, fertigte Listen mit verdächtigen Kollegen und Studenten an, die sie in einer Auflage von 11.000 Exemplaren an alle politischen Instanzen, Behörden des Öffentlichen Dienstes, an Wirtschaftsverbände und die Presse verschickt hat, eine weitere Organisation forderte Schüler per Flugblatt zur Denunziation linker Lehrer auf. »Das war ein extremer Antikommunismus in der Frontstadt«, erklärte die Gewerkschafterin Nareyek.

Einen anderen Fall von Berufsverboten – und zwar massenhaft – benannte Arnold Schölzel, Vorsitzender des Rotfuchs-Fördervereins. »In Bonn und in den Vorstandsetagen etwa bei Allianz ging nach 1989/90 ein Gespenst um: das des selbstbewussten DDR-Bürgers, der den Sozialismus erlebt hatte.« Deshalb habe der westdeutsche mit der Übernahme der DDR radikal aufgeräumt, was sich am deutlichsten im Wissenschaftsbetrieb ablesen lasse. 1992 gab die Bundesregierung an, dass von den rund 200.000 Beschäftigten an den Hochschulen der DDR nur noch zwölf Prozent in einem Vollzeitverhältnis übriggeblieben waren. »Alle anderen hat man rausgeworfen. Es ging um die Zerstörung gesellschaftlicher Netzwerke«, so Schölzel.

Zum Livestream: jungewelt.de

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