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Aus: Ausgabe vom 27.03.2006, Seite 13 / Feuilleton

Was tun, wenn’s brennt? In Berlin wird der Pariser Banlieue-Aufstand diskutiert

In Frankreich brennen jede Nacht Autos in den Vororten der Großstädte. Beim gegenwärtigen Fast-Studentenaufstand werden es wieder mehr, letzten Herbst waren es in den Pariser Banlieues sogar soviele, daß die konservativen Regierung den Ausnahmezustand verhängte. Vorausgegangen war der Tod von Zyed Benna (17 Jahre) und Bouna Traoré (15 Jahre), die sich von der Polizei gehetzt in einer Transformatorenstation versteckten und durch Stromschläge tödlich getroffen wurden. Innerhalb weniger Tage gingen frankreichweit Jugendliche mit vorwiegend migrantischem Hintergrund zum Aufstand über. Sie erhoben sich gegen rassistische Ausgrenzung, Gettoisierung und Kriminalisierung. Die Revolte hielt über Wochen an. Innenminister Sarkozy bestätigte mit seinem berüchtigten Statement die alltägliche Lebensrealität der Jugendlichen in den Banlieues: für die französische Gesellschaft sind sie »racaille«, der Abschaum. Als Mitte November die Unruhen abflauten, waren über 2 800 Jugendliche festgenommen worden. Bislang blieb dies die einzige Antwort der französischen Regierung.

Unter deutschen Linken herrschte überwiegend Ratlosigkeit. Waren die Revolten als radikaler Ausdruck der Forderungen nach sozialer und gesellschaftlicher Partizipation, einer einigermaßen ökonomisch gesicherten Lebensperspektive, sprich nach Würde zu lesen und zu verstehen? Lassen sie sich in die europaweiten Kämpfe gegen soziale und rassistische Auslese, als grundlegender Bestandteil einer globalisierten Verwertungsideologie, einreihen? Steht die Revolte in der Tradition der migrantischen Bewegungen, wie dem »marche des beurs« (1981) und den Kämpfen der Sans-papiers (90er Jahre), die für die radikale Linke uneingeschränkt politische Bündnispartner und Hoffnungsträger darstellten und fortan ein Feld linksradikaler Politik bestimmten? Obwohl Nachbarland, redeten sich viele darauf raus, über Frankreich halt viel zu wenig zu wissen. Das kann man heute Abend zumindest in Berlin ändern. Im »Kato« findet um 19.30 Uhr die Diskussionsveranstaltung »Nach dem Aufstand der ›racaille‹ – Banlieues im Ausnahmezustand« statt. Veranstalter ist die jour fixe initiative berlin, eingeladen sind Fachleute und Militante aus dem Land, in dem sowohl die bürgerliche Revolution als auch die Commune erfunden wurden. Aus Paris kommen Mogniss Abdallah, Filmemacher und Aktivist von MIB (mouvement de l'immigration et de banlieues) und Mitbegründer der Agence IM'media (L'agence de l'immigration et des cultures urbaines), Joëlle Bordet, Sozialpsychologin am Centre Scientifique et Technique du Bâtiment (CSTB), die Forschungsarbeiten zu marginalisierten Jugendlichen in Pariser Vorstädten durchführte, und Daniel Bensaïd, trotzkistischer Philosoph an der Universität Paris VIII, Mitbegründer der JCR (Jeunesse communiste révolutionnaire). Es moderiert die Krimiexpertin Elfi Müller, die Beiträge werden übersetzt. (jW)

heute, 19.30 Uhr im Kato, U-Bahnhof Schlesisches Tor, Berlin

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