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Aus: Ausgabe vom 02.12.2009, Seite 3 / Schwerpunkt

»Auf ein langfristiges Engagement kommt es an«

Aus dem von Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) verbreiteten Appell afghanischer Frauen »an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages«:

Sehr geehrte Abgeordnete, wir sind eine Gruppe afghanischer Aktivistinnen aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft Afghanistans. Wie wir wissen, werden Sie in diesen Tagen darüber diskutieren, ob und wie die Stationierung deutscher Truppen im Rahmen des ISAF-Mandats in Afghanistan fortgesetzt wird. Dies ist, wie wir annehmen, eine wichtige und schwierige Entscheidung, insbesondere da viele von Ihnen sicher nicht die Gelegenheit hatten, die Entwicklungen in Afghanistan mit eigenen Augen zu sehen. Aus diesem Grund haben wir uns im Afghanistan-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) in Kabul zusammengefunden, um die aktuelle Situation in Afghanistan zu bewerten – speziell die Lage der Frauen – sowie die Rolle, die eine Fortsetzung des Engagements der internationalen Staatengemeinschaft spielt, insbesondere die Fortsetzung des Mandats der deutschen Truppen. (…)

Nach Betrachtung der derzeitigen Lage in unserem Land und des Engagements der internationalen Staatengemeinschaft möchten wir vorschlagen, die folgenden Punkte im Hinblick auf künftige Afghanistan betreffende politische Maßnahmen mit zu berücksichtigen:

– Eines der größten Probleme Afghanistans ist die Armut, die weitere Probleme zur Folge hat. Frauen sind von Armut innerhalb wie außerhalb ihres Zuhauses besonders stark betroffen. (…)

– Die Erfolge im Bereich Frauenrechte haben sowohl mit den Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft als auch mit den Anstrengungen der mutigen afghanischen Frauen zu tun. Die internationale Staatengemeinschaft hat Möglichkeiten zur Stärkung der Position der Frauen in der Gesellschaft geschaffen. Die afghanischen Frauen selbst haben dann diese Möglichkeiten genutzt und sich aktiv für die Stärkung ihrer Position eingesetzt. Frauen haben die Redefreiheit erlangt, und die Gleichberechtigung wurde gefördert. Afghanische Frauen waren an Parlaments-, Provinz- und Präsidentschaftswahlen beteiligt, Mädchen gehen zur Schule, und Mädchen wie Frauen können sich immer stärker am gesellschaftlichen Leben beteiligen – zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans. (…)

– Angesichts der langjährigen Freundschaft mit Deutschland waren die Deutschen den Afghanen immer willkommen – viel mehr als die US-amerikanischen Soldaten, die bei den Menschen ein größtenteils negatives Image haben. Deutschland ist nie wegen irgendeiner seiner Handlungen kritisiert worden. Das deutsche Militär hat einen guten Ruf im Hinblick auf die Bewahrung der Sicherheit im nördlichen Teil Afghanistans. (…)

– Der Abzug der deutschen Truppen würde einen herben Rückschlag in bezug auf sämtliche Entwicklungen bedeuten, die stattgefunden haben. Es wird dann sehr schwer sein, die auf Entwicklung abzielenden Aktivitäten Deutschlands erfolgreich umzusetzen. In jedem Teil Afghanistans würden durch einen Rückzug der internationalen Staatengemeinschaft Lücken entstehen, die umgehend von den Taliban gefüllt würden. Die Nachrichten und die öffentliche Diskussion über einen schnellen Rückzug der internationalen Gemeinschaft wirken sich negativ in Afghanistan aus, weil sie Zweifel daran aufkommen lassen, daß die internationale Gemeinschaft der Freiheit und der Demokratie in Afghanistan wirklich verpflichtet ist. Denn ein sofortiger Rückzug ist für das Land keine Lösung: Im Falle eines Rückzugs ohne angemessene Machtübergabe an neue, verläßliche Strukturen in Afghanistan könnte das Land zu einer Bedrohung für die Region und in der Folge für die ganze Welt werden.

Wir, die afghanischen Frauen, haben viele Male erlebt, daß Rechte verletzt wurden. Wir wollen auf keinen Fall, daß die kommende Generation unter denselben Mißständen leiden muß– unter Gewalt, Unsicherheit, Unterdrückung oder Exil. Deshalb möchten wir die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ermuntern und um ein langfristiges Engagement in unserem Land bitten. Auf Ihren Beitrag – militärisch wie zivil – kommt es an, damit wir die Chance auf eine friedliche, demokratische Zukunft erhalten.

Wir verbleiben mit den besten Grüßen und den besten Wünschen für alle Deutschen und für Sie als deren Vertreter. Wir, die gesamten Mitglieder der genannten Gruppe, bekräftigen mit unserer Unterschrift die obigen Ausführungen:

1. Shah Gul Rezai, Abgeordnete im Parlament der Islamischen Republik Afghanistan

2. Sediqa Nawrozian, Gender-Training-Beauftragte der »Afghan Civil Society Forum« (ACSF)

3. Fahima Kakar, Leiterin der »Women Assistance Association« (WAA)

4. Jamila Mujahed, Leiterin des Radiosenders »Voice of Afghan Women«

5. Neelofar Qadiri, Programmleiterin der Stiftung »Women and Children Legal Research Foundation« (WCLRF)

6. Jamila Omar, Leiterin des »Human Rights Research and Advocacy Consortium« (HRRAC)

7. Gulalai Habib, Chefredakteurin von Dunya-E-Zan

8. Shafiqa Habibi, Leiterin der »New Afghanistan Women Association«

9. Suraya Parlika, Leiterin der »All Afghan Women Union« (AAWU)

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