Aus dem von Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen)
verbreiteten Appell afghanischer Frauen »an die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages«:
Sehr geehrte Abgeordnete, wir sind eine Gruppe afghanischer
Aktivistinnen aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft
Afghanistans. Wie wir wissen, werden Sie in diesen Tagen
darüber diskutieren, ob und wie die Stationierung deutscher
Truppen im Rahmen des ISAF-Mandats in Afghanistan fortgesetzt wird.
Dies ist, wie wir annehmen, eine wichtige und schwierige
Entscheidung, insbesondere da viele von Ihnen sicher nicht die
Gelegenheit hatten, die Entwicklungen in Afghanistan mit eigenen
Augen zu sehen. Aus diesem Grund haben wir uns im
Afghanistan-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) in
Kabul zusammengefunden, um die aktuelle Situation in Afghanistan zu
bewerten – speziell die Lage der Frauen – sowie die
Rolle, die eine Fortsetzung des Engagements der internationalen
Staatengemeinschaft spielt, insbesondere die Fortsetzung des
Mandats der deutschen Truppen. (…)
Nach Betrachtung der derzeitigen Lage in unserem Land und des
Engagements der internationalen Staatengemeinschaft möchten
wir vorschlagen, die folgenden Punkte im Hinblick auf künftige
Afghanistan betreffende politische Maßnahmen mit zu
berücksichtigen:
– Eines der größten Probleme Afghanistans ist die
Armut, die weitere Probleme zur Folge hat. Frauen sind von Armut
innerhalb wie außerhalb ihres Zuhauses besonders stark
betroffen. (…)
– Die Erfolge im Bereich Frauenrechte haben sowohl mit den
Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft als auch
mit den Anstrengungen der mutigen afghanischen Frauen zu tun. Die
internationale Staatengemeinschaft hat Möglichkeiten zur
Stärkung der Position der Frauen in der Gesellschaft
geschaffen. Die afghanischen Frauen selbst haben dann diese
Möglichkeiten genutzt und sich aktiv für die
Stärkung ihrer Position eingesetzt. Frauen haben die
Redefreiheit erlangt, und die Gleichberechtigung wurde
gefördert. Afghanische Frauen waren an Parlaments-, Provinz-
und Präsidentschaftswahlen beteiligt, Mädchen gehen zur
Schule, und Mädchen wie Frauen können sich immer
stärker am gesellschaftlichen Leben beteiligen – zum
ersten Mal in der Geschichte Afghanistans. (…)
– Angesichts der langjährigen Freundschaft mit
Deutschland waren die Deutschen den Afghanen immer willkommen
– viel mehr als die US-amerikanischen Soldaten, die bei den
Menschen ein größtenteils negatives Image haben.
Deutschland ist nie wegen irgendeiner seiner Handlungen kritisiert
worden. Das deutsche Militär hat einen guten Ruf im Hinblick
auf die Bewahrung der Sicherheit im nördlichen Teil
Afghanistans. (…)
– Der Abzug der deutschen Truppen würde einen herben
Rückschlag in bezug auf sämtliche Entwicklungen bedeuten,
die stattgefunden haben. Es wird dann sehr schwer sein, die auf
Entwicklung abzielenden Aktivitäten Deutschlands erfolgreich
umzusetzen. In jedem Teil Afghanistans würden durch einen
Rückzug der internationalen Staatengemeinschaft Lücken
entstehen, die umgehend von den Taliban gefüllt würden.
Die Nachrichten und die öffentliche Diskussion über einen
schnellen Rückzug der internationalen Gemeinschaft wirken sich
negativ in Afghanistan aus, weil sie Zweifel daran aufkommen
lassen, daß die internationale Gemeinschaft der Freiheit und
der Demokratie in Afghanistan wirklich verpflichtet ist. Denn ein
sofortiger Rückzug ist für das Land keine Lösung: Im
Falle eines Rückzugs ohne angemessene Machtübergabe an
neue, verläßliche Strukturen in Afghanistan könnte
das Land zu einer Bedrohung für die Region und in der Folge
für die ganze Welt werden.
Wir, die afghanischen Frauen, haben viele Male erlebt, daß
Rechte verletzt wurden. Wir wollen auf keinen Fall, daß die
kommende Generation unter denselben Mißständen leiden
muß– unter Gewalt, Unsicherheit, Unterdrückung
oder Exil. Deshalb möchten wir die internationale Gemeinschaft
und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ermuntern und um
ein langfristiges Engagement in unserem Land bitten. Auf Ihren
Beitrag – militärisch wie zivil – kommt es an,
damit wir die Chance auf eine friedliche, demokratische Zukunft
erhalten.
Wir verbleiben mit den besten Grüßen und den besten
Wünschen für alle Deutschen und für Sie als deren
Vertreter. Wir, die gesamten Mitglieder der genannten Gruppe,
bekräftigen mit unserer Unterschrift die obigen
Ausführungen:
1. Shah Gul Rezai, Abgeordnete im Parlament der Islamischen
Republik Afghanistan
2. Sediqa Nawrozian, Gender-Training-Beauftragte der »Afghan
Civil Society Forum« (ACSF)
3. Fahima Kakar, Leiterin der »Women Assistance
Association« (WAA)
4. Jamila Mujahed, Leiterin des Radiosenders »Voice of Afghan
Women«
5. Neelofar Qadiri, Programmleiterin der Stiftung »Women and
Children Legal Research Foundation« (WCLRF)
6. Jamila Omar, Leiterin des »Human Rights Research and
Advocacy Consortium« (HRRAC)
7. Gulalai Habib, Chefredakteurin von Dunya-E-Zan
8. Shafiqa Habibi, Leiterin der »New Afghanistan Women
Association«
9. Suraya Parlika, Leiterin der »All Afghan Women
Union« (AAWU)