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Blog

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Neokoloniale Handelspraktiken

    Vom Kakao- und Kaffeeverkauf profitiert Europa mehr als Afrika
    Fabian Wagner
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    Ein Arbeiter der Export Firma SAF CACAO in San Pedro, Côte d'Ivoire, hält Kakaobohnen in seiner Hand (29. Januar 2016)

    Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten geben viel Geld dafür aus, jungen Menschen in Afrika zu erzählen, wie schön ihr eigenes Land ist. Gleichzeitig tragen ihre Handelspraktiken entscheidend dazu bei, dass der Kontinent der Bevölkerung nicht viel zu bieten hat.

    Ein Beispiel: Das Hauptexportprodukt der Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) ist Kakao. Mit einem jährlichen Wert von 3,75 Milliarden US-Dollar macht der Rohstoff rund ein Drittel aller Exporte des Landes aus. Die EU hingegen exportiert jedes Jahr Schokolade im Wert von 18 Milliarden US-Dollar. Das sind 75 Prozent der globalen jährlichen Schokoladenexporte. Der gesamte afrikanische Kontinent, wo die Kakaobäume ja unter anderem bekanntlich wachsen, bleibt mit weniger als 200 Millionen US-Dollar weit dahinter zurück. Wie kann es sein, dass Europa, wo ein Kakaobaum außerhalb eines Tropenhauses nicht überleben würde, 90mal soviel Geld mit Schokolade macht als Afrika, wo die Hauptzutat wächst?

    Die Antwort ist einfach: Handelsbeziehungen, die sich seit der Kolonialzeit kaum verändert haben. Die Zollpolitik gegenüber den afrikanischen Staaten erlaubt den freien Import von Kakaobohnen nach Europa. Verarbeitete Produkte, zum Beispiel Schokolade, werden jedoch mit Einfuhrzöllen belegt, die eine Verarbeitung des Kakaos vor Ort unrentabel machen. Die großen Profite werden dort generiert, wo die Bohnen verarbeitet werden.

    Wollte Europa ernsthaft etwas gegen Fluchtursachen unternehmen, beispielsweise durch die Schaffung von Jobs, wäre eine entsprechende Anpassung der Handelspolitik ein guter Ausgangspunkt. Würde der Kakao in Westafrika zu Schokolade verarbeitet, würden dazu mit einem Mal Tausende, wenn nicht sogar Millionen Jobs geschaffen. Ganze Produktionsketten könnten entstehen, die mit Blick auf die wachsende Bevölkerung Afrikas auch dringend benötigt werden. EU und Afrikanische Union kennen diese Fakten und geben vor, daran zu arbeiten. Die europäische Handelspolitik aber »pro-poor« zu gestalten, also im Rahmen der vielzitierten Harmonisierung aller Politikbereiche im Sinne der Armen, hat für Europa scheinbar keine Priorität.

    Das trifft nicht nur Côte d’Ivoire. Ein anderes Beispiel ist Äthiopien, das Heimatland des Kaffeebaums. Deutschland alleine aber macht mehr Geld mit dem Kaffeehandel als ganz Afrika zusammen. Von den Steuern, die der deutsche Staat unter anderem durch den Handel von äthiopischem Kaffee und ivorischem Kakao kassiert, wird dann ein winziger Teil durch die deutsche staatliche Entwicklungsorganisation GIZ für Konferenzen in Afrika ausgegeben, auf denen »afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme« diskutiert werden.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Konferenzgast: Clotilde Ohouochi

    Die ehemalige Kolonialmacht entschied den Machtkampf: Am 11. April 2011 rückten in Côte d’Ivoire französische Kampfhubschrauber und Panzer auf die Residenz des Präsidenten Laurent Gbagbo vor. Damit endeten monatelange Auseinandersetzungen zwischen dem Staatschef und dessen vom »Westen« unterstützten Widersacher Alassane Ouattara. Im Dezember 2010 hatten sich beide zum Sieger der Präsidentschaftswahlen erklärt. Eine von Gbagbo und dessen Ivorischer Volksfront (FPI) daraufhin vorgeschlagene Neuauszählung der Stimmen wurde von Ouattara und seinen Hintermännern in Paris, Washington und bei den Vereinten Nationen abgelehnt. »In der Folge kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Lagern, wobei Ouattara vom Westen unterstützt wurde«, berichtete die frühere Sozialministerin des westafrikanischen Landes, Clotilde Ohouochi, im vergangenen Sommer im Gespräch mit junge Welt.

    Ohouochi arbeitete zwischen 2000 und 2011 als Ministerin für Solidarität, Gesundheit und soziale Sicherheit. Nach dem Sturz Gbagbos und der einsetzenden Repression gegen dessen Gefolgsleute und gegen Mitglieder der FPI floh sie über Belgien nach Frankreich, wo sie Asyl beantragte und heute lebt. »Als Ministerin habe ich an der Einführung einer obligatorischen Gesundheitsversicherung mit nach Einkommen gestaffelten Beiträgen gearbeitet. Das war dringend notwendig, denn die Lebenserwartung lag bei lediglich 50 Jahren. Viele Menschen sind gestorben, weil sie einfach nicht das Geld hatten, um zum Arzt zu gehen. Das hat Ouattara gestoppt. Er hat ein Gesetz verabschiedet, nach dem jeder dieselbe Prämie entrichten muss. Während Gbagbo die Armutsquote auf etwa 30 Prozent senkte, liegt sie nun wieder bei 50 Prozent«, so Ohouochi gegenüber jW.

    Bei einer Ende Juni 2017 von der Hamburger Linksfraktion im Umfeld des G-20-Gipfels organisierten Veranstaltung betonte Ohouochi, dass es den westlichen Mächten nach wie vor um die Ausplünderung Afrikas gehe. Es sei ein Paradox, dass ein an sich reicher Kontinent mit riesigen Rohstoffvorkommen und fruchtbaren Böden ökonomisch so arm sei. Ursache dafür sei, dass westliche Konzerne diese Ressourcen ausbeuteten und ihre Profite abschöpften, statt sie zu investieren – und weil Afrikas Regierungen das zuließen.

    Bei der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am Sonnabend in Berlin spricht Clotilde Ohouochi über das Thema »Die imperialistischen Einmischungen in Afrika, vor allem des französischen Imperialismus, am Beispiel der Elfenbeinküste«. (scha)

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Den Aufruhr fördern

    Über Voraussetzungen und Ziele linker Politik. Anmerkungen zur Debatte über die notwendigen Reaktionen auf den gesellschaftlichen Rechtsruck
    Lorenz Gösta Beutin
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    Die Offensive von rechts hat auch das linke Lager erschüttert und progressive Positionen aufgeweicht. (Anti-Merkel-Demonstration am 7. Mai 2016 in Berlin)

    Die AfD hat die Koordinaten der Republik nach rechts verschoben: Die immer neuen Asylrechtsverschärfungen sind ein Ausdruck davon. Die Grünen waren bereit, für die Regierungsbeteiligung sogar eine Obergrenze, genannt »atmender Rahmen«, zu akzeptieren. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von Bündnis 90/Die Grünen bedient rassistische Stimmungen, indem er angebliche Flüchtlinge beim Schwarzfahren fotografiert. Außenminister Sigmar Gabriel fabuliert, Klimaschutz, Gleichstellung oder Datensicherheit seien Themen der »Postmoderne«. Die Sozialdemokratie müsse sich jetzt auch solchen wie »Leitkultur« oder »Heimat« zuwenden.

    Diese Debatte macht vor der Partei Die Linke nicht halt: Oskar Lafontaine, ihr früherer Vorsitzender, meint, die Forderung aus dem Parteiprogramm nach »offenen Grenzen« sei eine des Neoliberalismus. Seine Partei betreibe damit einen »Nationalhumanismus«, weil sie die Flüchtlinge außerhalb der deutschen Grenzen nicht beachte. Ihre Flüchtlingspolitik sei »genauso falsch wie die der anderen Parteien«, sagte er Ende Dezember im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

    Grenzenlose Solidarität

    Zwar ist die Ideologie des Neoliberalismus die der »Freiheit«. Diese gilt aber nur für die, die sich das leisten können. Sie gilt für den Warenverkehr, der für die Staaten des globalen Südens nicht viel mehr als die alte kolonialistische Ausbeutung bedeutet. Kurz: Die Freiheit gilt für das Kapital. Für die Nichtbesitzenden, die »Working poor« der Welt, sind dieser Freiheit Schranken gesetzt – durch den Mangel an Kapital oder brutal durch das Grenzregime an den Rändern der kapitalistischen Zentren. Das Gerede »Wir können ja nicht alle aufnehmen« zeugt von einem etatistischen Politikverständnis. Die Linke ist eben nicht in der Situation, entscheiden zu müssen, wer rein darf und wer draußen zu bleiben hat. Linkssein heißt heute, sich dieser inhumanen Logik zu entziehen, sich auf die Seite all derer zu stellen, die Beherrschte eines sich weiter brutalisierenden Systems sind. Deswegen ist die grenzenlose Solidarität die Stärke und nicht die Schwäche linker Bewegungen, zumal in einer Zeit, in der das Kapital längst global agiert.

    Was also wäre den Erzählungen von rechts, dem gesellschaftlichen Rollback entgegenzusetzen? Es wäre eine linke Erzählung von Solidarität, von einer Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit miteinander verbindet. Das klingt theoretisch, ist aber letztlich sehr konkret: Zwar ist der rechte Diskurs in der modernen Aufmerksamkeitsökonomie der Medien enorm präsent. Doch sind es Millionen Menschen, die in den sozialen Netzwerken, in den Vereinen und Verbänden, in Bündnissen und Gewerkschaften und nicht zuletzt in der Linkspartei der Rechtsentwicklung etwas entgegensetzen.

    Wenn von einer »Sammlungsbewegung« die Rede ist, sollte darunter nicht das Phantasma einer »linken Volkspartei« verstanden werden. Das hieße, dem Irrglauben aufsitzen, Bewegungen wären etwas, was von oben in Gang gesetzt werden könnte. Im Zweifelsfall wäre das Ergebnis nicht mehr als ein autoritärer Wahlverein. Für die Linkspartei müsste eine Sammlungsbewegung vielmehr bedeuten, sich noch stärker zu öffnen, offensiver die eigenen Zukunftsvorstellungen in die Öffentlichkeit zu tragen, mit dem Mut zu sagen, dass es in letzter Konsequenz eben um eine ganz andere Gesellschaft geht, jenseits des Kapitalismus. Die Partei müsste sich als organisierendes Zentrum innerhalb der gesamten Linken betrachten, die gesellschaftliche Gegenmacht bündelt und in die Parlamente trägt. In der aktuellen Debatte sind dazu zwei Fragen zu klären: In den Wahlauswertungen des letzten Jahres war die Rede davon, die Milieus der Wählerinnen und Wähler der Linkspartei hätten sich verändert. Weniger Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern mehr Menschen aus urbanen, modernen Milieus hätten sie gewählt. Wer so interpretiert, fällt auf die Verfechter des Neoliberalismus herein, der die Parzellierung der Gesellschaft perfektioniert hat. Sicher nimmt sich die selbständige »Crowdworkerin«, die 60 Stunden in der Woche auf sich gestellt am Laptop arbeitet, nicht unbedingt als Teil der »Arbeiterklasse« wahr. Auch Pflegekräfte sehen sich, nach ihrem Status befragt, eher als »Angestellte«, nicht als »Arbeiter«. Auch darin manifestiert sich die Spaltung der Gesellschaft.

    Das Verbindende aufzeigen

    Aufgabe linker Politik müsste sein, das Verbindende der Milieus aufzuzeigen, ohne deren Verschiedenheiten zu negieren. Das Gemeinsame: Keiner gehört zur Seite des Kapitals, keiner verfügt über die Produktionsmittel, alle sind in der ein oder anderen Weise von Lohnzahlungen oder Sozialleistungen abhängig, kurz: Sie befinden sich nicht auf der Seite der Herrschaft im Kapitalismus. Damit haben sie etwas gemeinsam mit der großen Mehrheit der Menschheit, ob in den kapitalistischen Zentren oder in der Peripherie. Sich dieses Bewusstsein wieder zu erarbeiten und es öffentlich zu vertreten, ist sicher nicht einfach angesichts der jahrzehntelang eingetrichterten neoliberalen Ideologie. Es sollte aber Ausgangspunkt jeder Frage nach politischer Organisierung sein.

    Die zweite Frage ist die nach den Politikfeldern. Rechte agitieren gegen Geschlechtergerechtigkeit, den Kampf gegen den Klimawandel, Antirassismus und Solidarität mit den Flüchtlingen. Eine linke Politik, die in Haupt- und Nebenwiderspruch denkt, ist in gewisser Weise empfänglich für deren reaktionäre Argumentationen, wie sich an Gabriel und Lafontaine zeigt: Zentral seien allein Lohnpolitik und die klassische »Industriearbeiterschaft«, die anderen Themen seien im besten Fall Beiwerk, im schlimmsten Ausdruck von »Postmoderne« oder Neoliberalismus.

    Dem entgegen müsste linke Politik bedeuten, jeden emanzipatorischen Aufruhr gegen Herrschaft, jede subversive Aktion zu unterstützen, die der Erkenntnis dient, dass diese Gesellschaft zum Besseren zu verändern ist, dass ein Leben jenseits kapitalistischer Wertvergesellschaftung erstrebenswert ist: Die Kämpfe um Klimagerechtigkeit, ob sie in Peru oder Indonesien oder im Hambacher Forst bei Köln ausgetragen werden, tragen in sich den Kern der Systemveränderung: Dass es so nicht weitergeht mit dem ungebremsten Wachstum, mit der absoluten Dominanz der Profitlogik, dass nur internationale Solidarität und entschiedenes Handeln dazu führen, dass diese Menschheitsfrage positiv entschieden werden kann; dass längst mehr Menschen vor den Folgen des Klimawandels fliehen – das alles erweitert in notwendiger Weise den Diskurs zur Flüchtlingspolitik. Hier ist längst deutlich, dass Menschen nicht allein vor individueller Verfolgung flüchten, sie verlassen ihre Heimat aufgrund von Hunger in Folge der globalen Erwärmung und einer Exportpolitik, an denen auch deutsche Konzerne und der deutsche Staat einen erheblichen Anteil haben, sie fliehen vor Bürgerkriegen und vor unhaltbaren Zuständen. Solidarität mit den Flüchtlingen bedeutet, sich gegen all diese Fluchtursachen zu wenden. Deutsche Wirtschaftsinteressen werden global abgesichert durch Auslandseinsätze, durch Waffenlieferungen in die Kriege dieser Welt. Wenn sich in Deutschland die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet, so geschieht das global in unermesslicher, nie dagewesener Form. Dabei besitzen acht Männer soviel Geld wie 3,6 Milliarden Menschen. Frauen erledigen zwar laut UNO zwei Drittel der weltweiten Arbeit, beziehen aber nur zehn Prozent des globalen Einkommens und verfügen nur über ein Prozent des gesamten Eigentums. Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zeigt sich global noch brutaler als auf nationaler Ebene, auch von den Folgen des Klimawandels sind Frauen und Mädchen stärker betroffen als Männer.

    Deutlich wird: Die Fixierung allein auf eines dieser Themen hieße, auf eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für linke Politik zu verzichten. Dagegen muss eine emanzipatorische Klassenpolitik in der Lage sein, all diese Ansätze für widerständige Theorie und Praxis miteinander zu verbinden: Antifaschistische und antirassistische Politik gehören genauso dazu wie Antimilitarismus und Friedenspolitik, wie der Kampf gegen die Kohleverstromung und für Klimagerechtigkeit, wie die Kämpfe um gute Arbeit und gute Löhne, gegen das Sanktionsregime von Hartz IV und für die Achtung der Menschenwürde sowie für eine queer-feministische Politik. Linke Praxis bedeutet, das Gemeinsame dieser Bewegungen gegen die Herrschaft herauszuarbeiten, ohne die Notwendigkeit des Handelns in diesen Bereichen in Frage zu stellen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass diese Kämpfe nicht allein im nationalen Rahmen ausgefochten werden, sondern ebenso auf europäischer Ebene und in allen Teilen der Welt. Deshalb ist, nein, muss internationale Solidarität Ausgangs- und Endpunkt jeder linken Politik sein.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    »Er hat uns die Geschichte geschenkt«

    Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz wird an den Liedermacher Daniel Viglietti erinnert. Ein Gespräch mit Rolf Becker
    Christof Meueler
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    Gegenseitige Impulse aufgreifen: Rolf Becker im Gespräch mit Daniel Viglietti (r.) bei der Gala zum 70. Geburtstag der jW im Februar 2017 in Berlin

    Bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz treten Sie zusammen mit den Musikern Tobias Thiele und Nicolás Miquea auf. Was werden Sie da machen?

    Ein Gedenken für Daniel Viglietti, den im Oktober verstorbenen Liedermacher aus Uruguay. Ich werde einige Worte über ihn sagen und die Texte seiner Lieder rezitieren, bevor sie von Tobias und Nicolás gespielt werden.

    Mit Daniel Viglietti sind Sie im Februar 2017 auf der Gala zum 70. Geburtstag der jungen Welt in Berlin aufgetreten, dieses Konzert wurde mitgeschnitten und ist auf der CD »Otra Voz Canta« zu hören. Vorher gab es ein Treffen von Viglietti mit Berliner Liedermachern, die nun Ende Februar in der Berliner Wabe ein Gedenkkonzert für ihn spielen werden. Waren Sie bei diesem Treffen dabei?

    Ja, in der Wohnung von Tobias Thiele. Wir haben viel geredet, gesungen, sind anschließend essen gegangen. Tobias und Nicolás sangen ja auch zum Schluss beim jW-Konzert mit, als Daniel sein »A Desalambrar« anstimmte. Das heißt »Entzäunen«, dieses Wort gibt es im Deutschen nicht, bezeichnenderweise. Es meint nicht nur: reißt die Zäune nieder, sondern alle abgrenzenden Vorurteile.

    Konnte Daniel Viglietti Deutsch?

    Wenig. Seit den Siebzigern, als ich ihn in Köln kennenlernte, hatte er viel verlernt.

    Er war noch vor dem Militärputsch in Uruguay 1973 nach Europa emigriert.

    Das wird oft vergessen: Noch vor dem Putsch von Pinochet, September 1973 in Chile, hatte es im Juni einen Militärputsch in Uruguay gegeben. Daniel war aber bereits 1972 von der bürgerlichen Regierung in Uruguay verhaftet worden, weil er mit den Tupamaros, der Stadtguerilla, zusammenarbeitete. Wenige Tage vor dem Putsch kam er frei, weil sich eine internationale Solidaritätskampagne mit dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, Pablo Neruda, Jean-Paul Sartre und anderen für ihn eingesetzt hatte. Sein Glück, wenige Tage später wäre er wie viele seinesgleichen umgebracht worden. So gelang ihm die Flucht über Argentinien nach Frankreich, wo er bis Mitte der 80er Jahre lebte und auch seine Frau Lourdes kennenlernte.

    Wie kam er nach Köln zum WDR, für den er Musik machte?

    Durch César und Graciela Salsamendi – er bildender Künstler, sie Schriftstellerin. Beide arbeiteten im Exil für die Deutsche Welle und den WDR, die damals politisch kritische Sendungen über Lateinamerika produzierten. Graciela hat mit Hein Brühl, Regisseur und Redakteur im Hörfunk, Texte von Daniel ins Deutsche übertragen. Sie ist kurz vor Daniels Konzert für die jW gestorben, das hat ihn tief getroffen.

    Was für Sendungen haben Sie mit Viglietti produziert?

    Etliche – im Archiv des WDR erhalten: »Wir werden nicht schweigen«, 1975, Kommentar in Form eines Hörspiels zum Putsch in Chile. Oder wir haben, angeregt von Heinz von Cramer, Regisseur, Autor und Dirigent, der zum Freundeskreis um die Sasamendis gehörte, stundenlang im Studio improvisiert: ich Geschichten lateinamerikanischer Autoren vorlesend, Daniel, der die Autoren kannte, spontan dazu spielend und singend. Das wurde dann zusammengeschnitten und gesendet.

    Welche Erinnerung haben Sie an den Viglietti von damals?

    Besonders wie ihm die Frauen nachschauten, wenn wir durch die Stadt gingen. Er mit seinem indianisch-schwarzen Haar bis zur Taille und der Gitarre – was für ein Blickfang. Mich hat keiner beachtet (lacht).

    Er hatte auch eine sehr schöne Stimme.

    Ja – und er hat etwas gemacht, was die anderen lateinamerikanischen Musiker so nicht gemacht haben: wie Pablo Neruda mit seinen Gedichten die Geschichte des amerikanischen Kontinents – von Pol zu Pol, vom Atlantik über die Anden bis zum Pazifik – erzählt hat, hat Daniel uns mit seinen Liedern die Geschichte Lateinamerikas geschenkt.

    In einer sehr poetischen Sprache, die er auch benutzte, wenn es um harte politische Inhalte ging.

    Ja, er hat nicht gesungen, dass die Menschen arm sind, weil sie ausgebeutet werden, sondern über die »Negrita Martina«, ein kleines schwarzes Mädchen, und auf diese Weise die historischen und aktuellen Probleme des Kontinents thematisiert.

    Was hören Sie selbst für Musik?

    Eine Musik, die ich geerdet nenne, sozial und politisch bezogen.

    Kein L’art pour l’art.

    So würden wir im Theater sagen. Ich denke, dass auch Beethoven oder Mozart politisch rückgekoppelt waren, obwohl sie heute enthistorisiert werden, als wäre das eine Musik an sich, völlig wertfrei. Unsinn. Der Komponist Anton Webern hat mal gefragt: »Sind Töne Töne oder sind Töne Webern?« Sind sie abstrakt, oder haben sie etwas mit mir und dir zu tun?

    Daniel Viglietti war ein geerdeter Musiker.

    Wie alle lateinamerikanischen Musiker. Er gehörte zu den Top fünf der Liedermacher dieses Kontinents: Víctor Jara, Violeta Parra, die Godoy-Brüder aus Nicaragua und dann er, Daniel.

    Er hatte ein sehr freundliches Wesen.

    Ja, auf eine ganz verhaltene Weise. Er wurde selten laut, blieb zurückhaltend, auch wenn er politische Akzente gesetzt hat. Nach dem Konzert für die junge Welt hat er mich gefragt: »Hast du gemerkt, wie ich deine Impulse aufgegriffen habe?« Ich war bei einzelnen Texten relativ heftig und emotional geworden, und er hat darauf härter in die Saiten gegriffen, hörbarer Stellung bezogen. Wir haben zusammen gespielt: Er hat mich vor zu großer Aggressivität bewahrt und ich ihn vor manchmal zu großer Nachsichtigkeit.

    Wie hat er die politische Entwicklung im heutigen Uruguay eingeschätzt?

    Positiv. José Mujica, ein früherer Tupamaro, ist Präsident geworden – für unsere Verhältnisse undenkbar. In Montevideo, unten am Río de la Plata, ist eine große Gedenkstätte für die Opfer der Militärdiktatur. Daniel hat sie mir gezeigt, obwohl ihm der Weg dahin schwerfiel. In große Glaswände eingeritzt Hunderte von Namen. Freunde von ihm, die gefoltert und ermordet wurden. Daniel sagte nur: »Mein Name fehlt.«

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Fenster in die Zukunft

    Der Philosoph und Historiker Achille Mbembe ist am Sonnabend Gast der Rosa-Luxemburg-Konferenz
    Arnold Schölzel
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    Neuvermessung des Kapitalismus: Am Samstag wird Achille Mbembe bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin sprechen

    Afrika, sagte der Philosoph und Historiker Achille Mbembe 2014 der Zeit, »ist der Name des Kontinents, von dem man immer meinte, nichts Universelles könne dort entstehen. Afrikaner waren törichte Kinder. Aber Afrika ist nicht die Vergangenheit der Welt, sondern es ist wie ein Fenster: Von dort sieht man die Zukunft.«

    Die Thesen des 1957 in Kamerun Geborenen, heute in Johannesburg als Professor Lehrenden über die Geschichte des Kapitalismus sind scharf, aber nicht einseitig, weil seine Aufmerksamkeit der ganzen heutigen Welt gilt. Kolonialismus und »Krieg gegen den Terror«, Sklaverei und heutige »selbständig« bei sogenannten Dienstleistern beschäftigte »Arbeitsnomaden« sind sein Gegenstand. In der Bundesrepublik hat der Suhrkamp-Verlag drei seiner Bücher herausgebracht, »Kritik der schwarzen Vernunft« 2014, »Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonialisiertes Afrika« 2016 und im Oktober 2017 »Politik der Feindschaft«. 2015 erhielt Mbembe in München den Geschwister-Scholl-Preis, seit 2017 ist er Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Am Sonnabend ist er Gast der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin.

    Die »Kritik der schwarzen Vernunft« heißt im französischen Original »Critique de la raison nègre«, was präziser ist als das harmlose »schwarz«. Denn »Neger«, zeigt Mbembe, ist nicht einfach ein rassistischer Begriff, er steht stellvertretend für alle, die im Kapitalismus lediglich als Instrumente betrachtet und behandelt werden. Der damit verbundene Herrschaftsmechanismus, die »Politik der Feindschaft«, wirkt auf der heutigen technischen Basis erstmals tatsächlich global. Rassismus und Gewalt sind in Mbembes Analyse Ausgangspunkt und Bestandteil des historischen wie des gegenwärtigen Kapitalismus. Auf dieser Grundlage leben Nationalismus, religiöser Fundamentalismus und Faschismus immer wieder auf und werden dominierend. Mbembe hat Vorläufer: Karl Marx und Friedrich Engels, die schilderten, wie irische Arbeiterinnen und Arbeiter in der britischen Industrie des 19. Jahrhunderts als »weiße Neger« behandelt wurden. Längst haben Historiker im Anschluss an den Theoretiker des antikolonialen Befreiungskampfes, Frantz Fanon, nachgewiesen, wie das Plantagenwesen moderne Lager- und Zwangssysteme vorbereitete. Rosa Luxemburg konstatierte: ohne Zerstörung und Enteignung der Gesellschaften in den kolonisierten Ländern, ohne Verelendung und Ausrottung kein Kapitalismus.

    Mbembes Sicht auf dessen Geschichte besagt erstens in groben Zügen: Ohne den transatlantischen Sklavenhandel seit etwa 1500, ohne rechtlose Arbeitskräfte für die Plantagenwirtschaft Amerikas auch keine ursprüngliche Akkumulation.

    Zweitens: Der Beginn der Sklavenrevolution in Haiti 1791 gegen das bürgerlich-revolutionäre Frankreich war der Anfang eines Kampfes um Anerkennung als Menschen, der mit dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika in den 1990er Jahren noch nicht abgeschlossen ist.

    Drittens: Im Zeichen eines neuen Imperialismus, des sogenannten Neoliberalismus und der Kriege zur Rekolonisierung, werden Erdbewohner unabhängig von ihrer Hautfarbe in Arbeitsverhältnisse gezwungen, in denen sie faktisch rechtlos sind. Wer prekär beschäftigt ist, als moderner Tagelöhner vom Anruf auf seinem Handy abhängig ist, kennt kein Arbeitsrecht, wird zum »Neger«.

    Mbembes Thema ist das globale soziale Verhängnis, das sich hinter seiner These, die Welt werde »schwarz«, verbirgt. Die Jury des Geschwister-Scholl-Preises schrieb zu Recht, er habe »nicht weniger vorgelegt als eine Neuvermessung der Geschichte der Globalisierung«.

  • 20.09.2021 12:40 Uhr

    Kämpfer für Mensch und Umwelt

    Nnimmo Bassey setzt sich für die Rechte der Gemeinden im Nigerdelta ein
    Christian Selz, Kapstadt
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    2010 erhielt Nnimmo Bassey (rechts) den »Alternativen Nobelpreis«

    Zumindest international war das Ereignis noch eine Meldung wert. Am Abend des 2. Januar, so berichtete die Nachrichtenagentur Reuters tags darauf unter Berufung auf das dortige Energieministerium, brach in Nigeria das öffentliche Stromnetz zusammen, wieder einmal, landesweit. Ein Feuer an einer Gaspipeline habe den Stromausfall ausgelöst, hieß es. In weiten Teilen der auf dem Papier größten Volkswirtschaft Afrikas sei der Zusammenbruch des Netzes allerdings kaum bemerkt worden, schrieb die britische Agentur weiter, denn wegen der häufigen Unterbrechungen nutzten Geschäfte und Reiche eigene Generatoren, während »die weniger Wohlhabenden« schlicht »gar keine Elektrizität« hätten.

    Die fast zum Normalzustand gewordene Stromkrise verdeutlicht zwei der Hauptprobleme Nigerias, gegen die Nnimmo Bassey seit nunmehr gut drei Jahrzehnten unermüdlich ankämpft: die Abhängigkeit des Landes von Öl und Gas und die extreme Ungleichverteilung von Reichtum. Bassey, ein studierter Architekt, ist heute Vorsitzender der Umweltschutzorganisation »Health of Mother Earth Foundation«. Der Schutz der Natur ging für ihn jedoch immer einher mit dem Kampf für Menschenrechte. Schon in den 80er Jahren setzte sich Bassey im Vorstand der »Civil Liberties Organization« für die Belange der von Ölkonzernen ihrer Lebensgrundlagen beraubten Gemeinden im Nigerdelta ein.

    Der nigerianische Staat als Erfüllungsgehilfe der Ölkonzerne reagierte stets mit Repression auf seine Arbeit. In den 90er Jahren wurde er mehrmals ohne Prozess inhaftiert. 2010, und damit ein Jahr nachdem ihm trotz Akkreditierung der Zutritt zur UN-Weltklimakonferenz in Kopenhagen verwehrt worden war, wurde Bassey für sein Engagement mit dem als »Alternativer Nobelpreis« bekannten »Right Livelihood Award« ausgezeichnet.

    Die Ehrung mag inzwischen bald acht Jahre zurückliegen, doch Bas­seys Arbeit bleibt, wie die Probleme im Nigerdelta, aktuell. Denn während sich internationale Konzerne und korrupte Eliten dort an der Ölförderung bereichern, lebt die Mehrheit der Nigerianer nicht nur »weniger wohlhabend«, wie Reuters es so nett umschrieb, sondern in bitterster Armut. Für die Menschen im Delta kommt hinzu, dass sie ihrer traditionellen Lebensgrundlagen infolge der mit der Ölförderung einhergehenden Umweltzerstörung beraubt wurden. Boden und Wasser sind verseucht, Fischerei und Landwirtschaft vermögen die Einwohner der einst an natürlichen Ressourcen reichen Region kaum noch zu ernähren. Statt dessen führt die Verschmutzung durch das Abfackeln des bei der Erdölförderung anfallenden Gases zu Atemwegserkrankungen, Krebs, Leukämie und anderen Leiden.

    Als die Probleme nicht mehr zu leugnen waren, begannen die Ölkonzerne Gaspipelines zu bauen. Sie priesen dies als Maßnahme zum Schutz von Umwelt und Klima an, die Weltbank überwies Fördermittel. Doch Bassey wies schon 2006 in einem bei Pambazuka veröffentlichten Papier darauf hin, dass damit nur eine zusätzliche Gasförderung subventioniert wurde, während das weniger rentable, bei der Ölförderung als Nebenprodukt anfallende Gas größtenteils weiter abgefackelt wurde. Minutiös listete er zudem auf, wie der nigerianische Staat die friedlichen Proteste von lokalen Gemeinden, die unter der Ölförderung litten, immer wieder mit Massakern niederschlug.

    Nutzlos waren die Kämpfe trotzdem nicht. Mächtige Giganten wie Shell und Chevron mussten Vergehen eingestehen und sich in Gerichtsprozessen verantworten. Doch an der generellen Lage der Menschen in Nigeria und insbesondere im Nigerdelta hat sich noch immer wenig geändert. Das, darauf hat Bassey immer wieder hingewiesen, kann erst passieren, wenn die Bodenschätze unter der Kontrolle der lokalen Bevölkerung sind.

    Lesen Sie dazu auch Nnimmo Basseys Artikel »Die Kunst einer vergangenen Idylle. Wie Kulturschaffende den Ökozid im Nigerdelta verarbeiten« in vollständiger Länge in Melodie & Rhythmus

  • 20.09.2021 12:40 Uhr

    »Afrika am Scheideweg«

    Die Kunstausstellung auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
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    Kämpferische Kunst auf der kommenden Rosa-Luxemburg-Konferenz: Aus der Porträtserie »Die mächtigen historischen afrikanischen Frauen, gewidmet Queen Nanny von den Maroons« von Idona Asamoah

    Kennen Sie Queen Nanny? Sie wurde im 18. Jahrhundert als Kind aus Ghana, Westafrika nach Jamaika entführt, wo sie in die Sklaverei gezwungen wurde. Doch sie lief weg, versteckte sich in den Bergen und wurde zu einer Anführerin der Maroons, wie die von den jamaikanischen Plantagen geflohenen Sklaven genannt wurden. In über 30 Jahren befreite sie mehr als 800 Sklaven. Um an sie zu erinnern, hat Idona Asamoah eine Porträtserie produziert: »Die mächtigen historischen afrikanischen Frauen, gewidmet Queen Nanny von den Maroons« (Foto). Sie wird am nächsten Samstag auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz gezeigt – in der Kunstausstellung »Afrika am Scheideweg – Aufbau oder Migration«, die die Gruppe Tendenzen organisiert hat und bei der 19 Künstler und Künstlerinnen mitwirken.

    Für den Hamburger Asamoah, der in Ghana geboren wurde, werden kämpfende oder anführende Frauen viel zu wenig thematisiert. Oft gibt es Bilder von Müttern mit ihren Kindern. Doch das Motto der Rosa-Luxemburg-Konferenz ist »Amandla! Awethu! Die Machtfrage stellen!«. Auch die Berliner Künstlergruppe Tendenzen hat das Ziel, realistisch-naturalistische Bilder zu verbreiten, damit man die Dinge klarer sieht: gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Militarismus.

    Im Rahmen von »Afrika am Scheideweg«, präsentiert Marion Lange eine Serie im Wandzeitungsstil mit Bleistift-Kohle-Zeichnungen und erklärenden Texten wie nachrichtliche Bildmeldungen aus Zeitungen, in denen politische Proteste in Marokko, Polio-Schutzimpfungen der UNESCO und Knebelverträge der deutschen Entwicklungshilfe zusammengedacht werden – eben als Aufruf, »die Machtfrage zu stellen«. Cora Glees-Creutzfeldt zeigt ihr Ölbild »Menge – Warten und Hoffen« und Porträts der südafrikanischen Freiheitskämpfer Steve Biko und Winnie Mandela (letzteres von filmplakatartiger Schönheit).

    Inga Okan hat »Das Mädchen im gelben Kleid« gezeichnet, es hockt in einem Zelt in einem Kriegsgebiet zwischen Ruinen und Panzern. Alles ist schwarzweiß gehalten, nur das Mädchen hat ein ganz matt schimmerndes gelbes Kleid an, ein V-Effekt, der das wohlfeile Brot-für-die-Welt-Klischee aufhebt und die Zeichnung intensiviert. Clementine Klein zeigt ältere Radierungen und Zeichnungen, die den Biafra-Krieg und den Bürgerkrieg in Sierra Leone thematisierten, digital bearbeitet. Passend dazu ihre Graphik »Brandblase«, auf der planetengleich eine Harzkugel mit Banknoten zu sehen ist, um die Münzen schwirren, als wären sie Weltraumschrott in der Erdumlaufbahn. Eindrücklich ist auch Marco Schaubs (Bleistift-)»Skizze vom Marxismus zur Kleptokratie«, die auf das Abwürgen der afrikanischen Befreiungsbewegungen (in erster Linie durch den Westen) anspielt. Diese Skizze enthält drei Rubriken: »Ausbeutung – Revolution – Ausbeutung«. 2017 hieß die Ausstellung der Gruppe Tendenzen auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz »No pasaran! – Die Reaktionäre werden nicht durchkommen!« (jW)

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Wer, wenn nicht wir?

    Die Rosa-Luxemburg-Konferenz steht ganz im Zeichen der internationalen Solidarität
    Dietmar Koschmieder
    20. Internationale Rosa Luxemburg Konferenz; 2015
    20. Internationale Rosa Luxemburg Konferenz; 2015

    Es ist unsere 23. Konferenz – und jede war eine besondere. Aber in diesem Jahr findet die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz unter veränderten politischen Vorzeichen statt: Noch nie waren linke Bewegungen, Parteien, Strukturen so in der Defensive, schon lange nicht mehr waren rechte bis offen faschistische Positionen in der Gesellschaft so akzeptiert wie in diesen Tagen. Die Konferenz wird zeigen, ob es eine Linke im Land überhaupt noch gibt. Und sie wird zeigen, ob sich diese nur noch mit sich selbst beschäftigt oder ob noch immer gilt, dass die internationale Solidarität ihr unverzichtbares Kennzeichen ist.

    Regionaler Schwerpunkt 2018 ist Afrika, für dessen Klassenkämpfe sich leider viele europäische Linke kaum interessieren. Obwohl auch ihr relativer Wohlstand Ergebnis kolonialer Ausbeutungsverhältnisse ist. Menschen aus Afrika, die von imperialistischen Ländern in Armut gezwungen und mit Kriegen gequält werden und deshalb nur noch in der Flucht eine Überlebensperspektive sehen, werden in Europa oft als Gefahr für den eigenen, noch verbliebenen Wohlstand gesehen. Wir wollen mit der Konferenz ein Zeichen setzen: Namhafte Wissenschaftler, Kulturschaffende, Philosophen und Politiker des Kontinents werden nicht nur über ihre Arbeit und Kämpfe berichten – sondern den aufmerksamen Zuhörern auch viele wichtige Erkenntnisse für die eigene Arbeit mit auf den Weg geben. Weitere Gäste aus Afrika haben sich angekündigt und stehen den Konferenzbesuchern für Gespräche zur Verfügung, so der Generalsekretär der südafrikanischen Gewerkschaft NUMSA und Kollegen von der Zeitschrift Pan Africa Today.

    Aber nicht nur aus Afrika kommen interessante Gäste zur Konferenz. Entsprechend dem Schwerpunkt »Internationale Solidarität« wird es eine spezielle Solidaritätskundgebung der Konferenzteilnehmer mit der Bolivarischen Republik Venezuela geben. In einer Gesprächsrunde stehen der Stellvertretende Außenminister Venezuelas, William Castillo, der Internationale Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas, Carolus Wimmer, sowie der Publizist Luis Britto García und der Historiker Vladimir Acosta dem jW-Auslandschef André Scheer Rede und Antwort – anschließend soll eine Berliner Erklärung zur Solidarität mit der Bolivarischen Revolution verabschiedet werden, mit der sich die Konferenzteilnehmer verpflichten, den venezolanischen Freunden und Genossen in ihrem Kampf für Unabhängigkeit, Fortschritt und gegen die in Europa übliche Desinformation auch in den kommenden Monaten aktiv beizustehen.

    Solidarität mit den Genossinnen und Genossen in Palästina und Israel spielen in der europäischen Linken eine besondere Rolle – auf der Konferenz werden wir Adel Amer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Israels, begrüßen können, und die palästinensische Spoken-Word-Künstlerin und Autorin Faten-El-Dabbas wird eine Kostprobe ihres künstlerischen Schaffens geben. Traditionell nehmen auch befreundete Zeitungen teil, etwa der Morning Star aus Großbritannien und Arbejderen aus Dänemark. Alle zusammen beenden wir die Konferenz am kommenden Samstag mit dem gemeinsamen Singen der Internationale um genau 20 Uhr.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Wir sind es

    Die neue Melodie & Rhythmus hat das Schwerpunktthema »Afrika«
    Christof Meueler
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    Die ökonomischen Bedingungen bleiben terroristisch: Wussten Sie, dass bei einer Großwildsafari der Abschuss der »Big Five« (Elefant, Löwe, Büffel, ­Leopard und Nashorn) bis zu 175.000 Euro Dollar kostet? (Schreibt Matthias Rude in seinem Text über »Herrenmenschenkultur«)

    Ein Klassiker des Comic und des Rassismus: »Tim im Kongo«, aus der berühmten Reihe Tim und Struppi. Die Kongolesen erscheinen als faul und dumm, haben wulstige Lippen und radebrechen dummes Zeug: »Massa! (…) Dingsbums Gefangener futsch!« Der Reporter Tim geht auf Großwildjagd und muss aufpassen, dass er nicht selbst getötet wird – natürlich von einem weißen Bösewicht, weil die Schwarzen nicht ernst zu nehmen sind. Der Tim-Schöpfer, der belgische Zeichner Hervé, entschuldigte sich später dafür, dass er die Kongolesen als »große Kinder« präsentiert habe, doch gegen ein kritisches Vorwort, mit dem der Comic in den USA und in Großbritannien erschien, wehrte sich in Deutschland der Verlag, angeblich hätten die Hergé-Erben etwas dagegen. »Tim im Kongo« erschien erstmals 1930 als Fortsetzungsgeschichte, damals gab es noch die Kolonie Belgisch-Kongo. Es war die zweite Tim-Geschichte überhaupt, die erste stammt von 1929: »Tim im Lande der Sowjets«, die in ihrem plakativen, primitiven Antikommunismus fast schon surreal wirkt.

    Gegen »Tim im Kongo« gab es in Belgien zwei Klagen wegen Rassismus, die Geschichte wurde dreimal nachbearbeitet, aber noch immer verbreitet sie »reaktionäre Projektionen«, schreibt Andreas Eikenroth in der neuen Ausgabe der Melodie & Rhythmus, die – wie die Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung am 13. Januar – den Schwerpunkt »Afrika« hat.

    Darin gibt es einen bemerkenswerten Text von Arnold Schölzel über den senegalesischen Historiker und Chemiker Cheikh Anta Diob, dessen Buch »Nations nègres et culture« (Schwarze Nationen und Kultur) 1955 in Frankreich großes Aufsehen erregte, weil er darin die ägyptische Kultur als Vorläufer der Antike schilderte – als eine Kultur von schwarzen Menschen. Gegen diese These läuft hierzulande die Ägyptologie, für Schölzel »seit ihrem Entstehen mit der Entzifferung der Hieroglyphen 1822 bis heute ein Quell ›wissenschaftlich‹ begründeten Rassismus«, konstant Sturm, weil sie »die Ägypter zu Weißen« machen möchte. Für den Kameruner Philosophen Achille Mbembe, der auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz einen Vortrag halten wird, wollte Diop »die universalistischen Ansprüche des westlichen Humanismus entmystifizieren und die Grundlagen für ein Wissen legen, das seine Kategorien und Konzepte aus der Geschichte Afrikas schöpft«, schreibt Mbembe in seinem Buch »Politik der Feindschaft«.

    Solche verleugneten Transferbeziehungen betreffen auch die geraubte afri­kanische Kunst, die bekanntlich Max Ernst, Pablo Picasso oder Paul Klee stark beeinflusste und die noch immer in den zu Kolonialzeiten angelegten europäischen Museen ausgestellt wird. In seinen »Randbemerkungen« zum geplanten Umzug der »Ethnologischen Sammlung« von Dahlem nach Berlin-Mitte in das neugebaute Humboldt-Forum, schreibt Thomas Koppenhagen: »Die Kolonialmächte haben nicht nur die Kulturen Afrikas auf dem Gewissen. Wie die klassische Moderne zeigt, ging die Ausbeutung tiefer: Wir haben sie uns einverleibt. Das Fremde, das Andere, von dem wir uns distanzieren wollen, in dem wir es in Ethnologischen Museen abstellen, ist längst schon wir selbst. Wir sind es.«

    Die ökonomischen Bedingungen hierfür bleiben terroristisch. Für den nigerianischen Dichter und Umweltaktivisten Nnimmo Bassey hat das Nigerdelta mit seinen Ölvorkommen »wie keine andere Region des Landes eine so lange und unmenschliche Aggression erleiden müssen«. Der südafrikanische Soziologe Faisal Garba bilanziert allgemein: »Überall auf dem Kontinent hält das imperialistische Kapital die Löhne niedrig (…). Es betrachtet Afrika vielmehr als ein Reservoir, aus dem man unbegrenzt Superprofite schlagen kann«. Gleichzeitig sieht Garba, aber den »antiimperialistischen Panafrikanismus (…) wieder auf dem Vormarsch.« Der senegalesische Germanist Maguèye Kassé erinnert an den linken Schriftsteller und Filmemacher Ousmane Sembène aus Dakar, weil dessen Werk – »universal im Goetheschen Sinne« – nicht »nationale Autarkie« propagiere, sondern einen »Brückenschlag« der Stile und Kulturen. In einem schönen Text erklärt Gerd Schumann, wie der Reggae von Jamaika nach Simbabwe gekommen ist: Die Guerilla hörte im Untergrund Bob Marley genauso wie den Befreiungsrock von Thomas Mapfumo. Beide sangen im April 1980 gemeinsam im Stadion von Harare, das damals noch Salisbury hieß. Draußen stand die Guerilla. Hinten im Heft von Melodie & Rhythmus schreibt der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister zum Thema: »Revolution! Gern, aber welche und wie?«

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Neue Führungsfiguren, alte Systeme

    Jahresrückblick 2017. Heute: Südliches Afrika. Personelle Erneuerung in Simbabwe und Südafrika
    Christian Selz, Kapstadt
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    Erst geschasst, dann Partei- und Staatschef: Ein Bild von Emmerson Mnangagwa wird vor dessen Vereidigung in Harara aufgehängt (4.12.2017)

    Am Tag, nachdem in Simbabwe das Militär ausgerückt war, um Staatschef Robert Mugabe zu stürzen, schrieb Derek Hanekom in Südafrika eine kurze Nachricht auf Twitter. »Vielleicht gibt es eine Botschaft aus Simbabwe – Präsidenten sollten ihr Glück nicht überstrapazieren«, textete der Veteran des Anti-Apartheid-Kampfes und derzeitige Vorsitzende des Disziplinarkomitees der südafrikanischen Regierungspartei African National Congress (ANC) am 15. November.

    An wen sich Hanekoms Botschaft richtete, war offensichtlich: Südafrikas Staatschef und damals noch ANC-Präsident Jacob Zuma versuchte zu dieser Zeit mit aller Kraft, seine ehemalige Ehefrau Nkosazana Dlamini-Zuma an der Parteispitze zu installieren. Das Vorhaben misslang, auf dem ANC-Wahlparteitag übernahm Zumas Gegenspieler Cyril Ramaphosa die Führung der einstigen Befreiungsbewegung, er wird damit bei den Präsidentschaftswahlen 2019 auch Spitzenkandidat der Partei werden. Der Personalwechsel an der Staatsspitze, der in Simbabwe vollzogen wurde, ist also auch in Südafrika bereits programmiert. Politisch waren das die wichtigsten Ereignisse im südlichen Afrika 2017. Einen radikalen Wandel bedeuteten sie indes in keinem der beiden Länder.

    Natürlich sind Simbabwe und Südafrika nicht wirklich vergleichbar. Der Binnenstaat nördlich des Limpopo-Flusses liegt gebeutelt von internationalen Sanktionen, hausgemachter Vetternwirtschaft und Korruption sowie einer daraus resultierenden Hyperinflation seit 2008 wirtschaftlich am Boden, der große Nachbar an der Südspitze des Kontinents ist noch immer ein regionales Zugpferd. Ebenso entscheidend sind die Unterschiede in der Staatsstruktur: Während in Südafrika starke demokratische Institutionen die Regierung kontrollieren und die Gerichte sich nicht scheuen, regelmäßig gegen den Präsidenten zu urteilen, steht in Simbabwe das Militär über allem. Besonders deutlich wurde das beim Putsch im November. In dem Moment, als Staatschef Mugabe auf Drängen seiner Ehefrau Grace den Vizepräsidenten Emmerson Mnangagwa entlassen hatte, griffen die Generäle durch.

    Unter Kontrolle der Armee

    Mnangagwa war der Mann des Militärs in der Regierung, ihn kaltzustellen hätte bedeutet, das System auszuschalten. Die Armee kontrolliert weite Teile der simbabwischen Wirtschaft, vor allem im Bergbau. Und in letzter Konsequenz lenkt sie auch die Regierungspartei Zimbabwe African National Union – Patriotic Front (ZANU-PF), was in deren Aktionen im November klar zu erkennen war. Nur wenige Wochen, nachdem die ZANU-PF den Rauswurf Mnangagwas eifrig beklatscht und diesem in einer öffentlichen Erklärung »Züge von Untreue, Missachtung, Hinterlist und Unzuverlässigkeit« attestiert hatte, hob sie den Mann mit dem Beinamen »Krokodil« auf die Posten des Partei- und Staatschefs. Grace Mugabe, die schon wie die Siegerin im Rennen um die Nachfolge ihres 41 Jahre älteren Gatten ausgesehen hatte, wurde auf Lebenszeit aus der Partei ausgeschlossen. Der Putsch war damit kein Umbruch, sondern lediglich die Entfernung der Führungsfigur Mugabe, der entscheidende Schlag gegen die nach der Macht greifende jüngere Fraktion um dessen Ehefrau und letztlich die Restauration des alten Regimes.

    In Südafrika ist die Rolle des Militärs nicht annähernd so stark, in der Wirtschaft spielt es praktisch keine Rolle. Der Konflikt, der den ANC insbesondere in diesem Jahr so tief wie nie zuvor gespalten hat, beruht dagegen auf einem Kampf zweier Kapitalflügel. Hintergrund ist der Versuch geschäftlich mit dem Lager von Präsident Zuma verbundener Unternehmer, ihren politischen Einfluss in monetäre Gewinne umzuwandeln. Weil sie dazu vor allem bei der Vergabe staatlicher Aufträge zugreifen oder zumindest in eine Vermittlerrolle zwischen Regierung und internationalen Konzernen schlüpfen – die Grenze zwischen »Berater« und »Schmiergeldempfänger« ist hier fließend –, beschreibt nicht nur die South African Communist Party (SACP) dieses Vorgehen als »parasitäre Unterwanderung des Staates«.

    Diese steht jedoch nicht nur der von den Kommunisten angestrebten demokratischen Kontrolle der Wirtschaft im Wege, sondern schmälert auch die Gewinnmargen des etablierten Kapitalflügels, also der internationalen Konzerne nebst lokaler Partner. Letztere Fraktion hatte nach dem Ende der Apartheid versucht, die neue politische Elite mit Unternehmensbeteiligungen einzubinden. Der Mitte Dezember zum neuen ANC-Präsidenten gewählte Exgewerkschafter und bisherige Parteivizepräsident Cyril Ramaphosa ist dafür ein ideales Beispiel: Mit zahlreichen Konzernengagements, darunter beim Platinriesen Lonmin, an dessen Marikana-Mine im Jahr 2012 während eines Streiks 44 Menschen getötet worden waren, wurde er zum Milliardär. Sein Aufstieg an die Parteispitze untermauert den Einfluss des prowestlichen Kapitals, da aber auch das Zuma-Lager mindestens die Hälfte des neugewählten Personals der Parteispitze stellt, ist der Ausgang des ANC-Wahlparteitags eher als Kompromiss zwischen den Fraktionen zu werten. Auch wenn die Vorzeichen und Verhältnisse andere sind, findet in Südafrika ähnlich wie in Simbabwe eher eine Festigung des alten Systems als ein Umbruch statt.

    Kleines Übel

    Sowohl Mnangagwa als auch Ramaphosa stehen dabei für eine unternehmensfreundliche, neoliberale Politik und werben offen um internationale Investoren. Der Einfluss linker Kräfte ist dabei in Simbabwe kaum noch wahrnehmbar und auch in Südafrika ist er stark geschwächt. Die SACP, bisher stets im Bündnis mit dem ANC, beschloss dort infolge einer nicht abgesprochenen Kabinettsumbildung durch Zuma in der ersten Jahreshälfte, künftig eigenständig zu Wahlen anzutreten, und hat diese Ankündigung bei ersten kommunalen Nachwahlen bereits umgesetzt. Sie bleibt jedoch wie auch der Gewerkschaftsbund COSATU Teil der Regierungsallianz. Deren Zerbrechen wurde nun auch mit der Wahl Ramaphosas verhindert, den sowohl SACP als auch COSATU gegen die Kandidatur von Zumas Exfrau unterstützt hatten – wenn auch eher als geringeres Übel denn aus programmatischen Gründen.

    Ruhe dürfte damit dennoch nicht einkehren. Denn die Allianzpartner, die bisher offen und deutlich Zumas Rücktritt gefordert haben, werden dies auch künftig tun. Noch am 24. Dezember kritisierte die SACP, dass der Präsident Einspruch gegen eine Gerichtsentscheidung eingelegt hatte, mit der die Einberufung einer Untersuchungskommission zur Unterwanderung des Staates durch politisch vernetzte Unternehmer durchgesetzt worden war. Zuma, so argumentieren die Kommunisten, wolle den Prozess verschleppen, weil er selbst in den Skandal verwickelt sei. Der Druck der Justiz und der Allianzpartner allein hat bisher freilich nicht ausgereicht, um den Staatschef aus dem Amt zu drängen. Da der ANC mit seinem Skandalpräsidenten allerdings Gefahr läuft, bei den Wahlen 2019 seine absolute Mehrheit zu verlieren, könnten künftig auch bisherige Zuma-Loyalisten zur Wahrung ihrer eigenen Machtinteressen umschwenken. Wie schnell das gehen kann, hat sich in der ZANU-PF gezeigt. Nicht ausgeschlossen also, dass Derek Hanekom, der Anfang des Jahres übrigens als Tourismusminister entlassen worden war, nachdem er Zumas Rücktritt gefordert hatte, am Ende doch recht behält mit seiner »Botschaft aus Simbabwe«.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Gesprengte Ketten

    Tansania ist ein Land der Gegensätze, doch die Ideale der Gleichheit leben an der »Wiege der Menschheit« fort
    Jenny Farrell
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    Auch in Daressalams Stadtbezirk Kisutu gehören ambulante Verkäufer zum Straßenbild. Hier leben viele Menschen indischer Abstammung. Bei den beiden Frauen in der Bildmitte ist das an der Kleidung erkennbar

    Die meisten Europäer reisen gewiss vor allem hierher, um auf einer Safari mit der Kamera Jagd auf Elefanten, Giraffen oder Löwen zu machen. Solche Exkursionen habe auch ich eingeplant, in erster Linie aber möchte ich in das ostafrikanische Land am Kilimandscharo, um seinen Menschen zu begegnen. Schon als die aus Los Angeles kommende Maschine vom irischen Dublin abhebt, sind die Weißen unter den Passagieren bereits klar in Unterzahl. Nach dem Umstieg in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba liegt ihr Anteil an Bord endgültig etwa auf dem an der Weltbevölkerung. Die Proportionen des Nordens, des reichen Europas, haben wir hinter uns gelassen.

    Für mich ist es auch ein Wiedersehen nach Jahrzehnten mit Orten aus meiner Kindheit. Zwei Jahre lang, von 1969 bis 1971, habe ich in Tansanias größter Stadt, der am Indischen Ozean gelegenen Metropole Daressalam, gelebt. Seit 1974 ist das in der Landesmitte gelegene Dodoma die offizielle Hauptstadt, doch die Regierung hat bis heute hier ihren Sitz. Dass es mich nach Tansania verschlug, lag an meinem Vater Jack Mitchell, einem Schotten. Er war einem Ruf an die Universität von Daressalam gefolgt, um dort Literatur zu unterrichten. Mein Vater übernahm die Stelle von Professor Arnold Kettle (1916-1986), einem legendären marxistischen Literaturkritiker aus England. Dessen Arbeit setzte er unter anderem dadurch fort, dass er den Studenten Bertolt Brecht nahe und mit ihnen sogar dessen »Tage der Commune« an der Hochschule zur Aufführung brachte. Zu seinen Kollegen zählte auch der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach (geb. 1934) von der Humboldt-Universität in Berlin, der in Daressalam als Gastprofessor wirkte.

    Meine Mutter Renate war DDR-Bürgerin und meine beiden jüngeren Brüder Robin und Colin und ich selbst konnten daher die Schule besuchen, die zur Botschaft des sozialistischen deutschen Staates gehörte. Im Schnitt nur etwa drei Dutzend Kinder lernten dort von der ersten bis zur sechsten Klasse nach DDR-Lehrplan und absolvierten das Pionierleben mit allem Drum und Dran. Sie gehörten zu Diplomatenfamilien oder denen von Lehrern und Ausbildern, vor allem in technischen Bereichen und aus dem Gesundheitswesen, die nach Tansania entsandt worden waren. Auch die Kinder des damaligen tansanischen Außenministers Stephen Mhando, der mit einer Leipzigerin verheiratet war, und ein Mädchen aus Mosambik waren unter meinen Mitschülern. Meine Mutter gab während unseres Afrikaaufenthaltes Englischkurse für die Angehörigen der DDR-Diplomaten.

    Ganz reibungslos verlief meine schulische Reintegration nach unserer Rückkehr nach Berlin dennoch nicht. Ich, damals 14, hinterfragte im Biologieunterricht die Beschreibung der Ethnien. Warum hatten andere dicke Lippen statt wir Europäer dünne? Waren wir denn nicht alle im Grunde Afrikaner, und wären diese nicht eher berechtigt, als Prototyp zu gelten? Meine Lehrerin war davon nicht so angetan.

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    Hofpause am Mittag: Drei Grundschulen teilen sich einen Hof in der Nähe von Arusha im Norden Tansanias. Jede hat ihre eigene Uniform. Der Besuch der Volksschule für alle Kinder bildete das Fundament einer neuen Bildungspolitik

    Neue Wege

    Es war eine Zeit des Aufbruchs für die Völker Afrikas. Erst wenige Jahre zuvor, 1961 und 1962, hatte die britische Kolonie Tanganjika schrittweise ihre Unabhängigkeit erlangt. Drei Jahre später vereinigte sich das Land, das bis 1918 zum sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika gehört hatte, mit der Insel Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania. Bis zu seinem Rücktritt 1985 stand mit Julius Nyerere (1922-1999) ein sozialistisch orientierter Lehrer und Katholik an der Spitze des jungen Staates. Er war eine wichtige Symbolfigur für den antikolonialen Kampf in ganz Afrika. Die aus einer Vereinigung der von ihm 1954 gegründeten Tanganyika African National Union (TANU) und ihrer Schwesterpartei auf der autonomen Insel Sansibar ASP 1977 hervorgegangene CCM (»Revolutionäre Staatspartei«) ist bis heute, mittlerweile deutlich pragmatischer orientiert, die bestimmende politische Kraft im Land. Seit 1992 gibt es ein Mehrparteiensystem.

    Dass Nyerere noch immer als »Lehrer (auf Suaheli: Mwalimu) der Nation« in Ehren gehalten wird, ist nicht zuletzt seinen Verdiensten um das Bildungswesen zuzuschreiben. Die Daressalamer Hochschule, 1961 als Ableger der Universität von London entstanden, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Nach Aufspaltung der Ostafrikanischen Universität erfolgte 1970 die Gründung der University of Dar es Salaam. Die Bildungsstätte sollte die angestrebte auch akademische Unabhängigkeit des Landes voranbringen.

    Gut an jene Zeit erinnern kann sich Dennis Shio. Vor dem Nationalmuseum nahe des Botanischen Gartens kommen wir zufällig ins Gespräch. Der etwa 70jährige frühere Ökonom erlebte die Universität noch als ein intellektuelles Zentrum der afrikanischen Revolution. Dozenten aus der Sowjetunion, der DDR und Westdeutschland, aus Großbritannien, Irland und Kanada sind ihm im Gedächtnis geblieben. Vor allem linke Wissenschaftler aus aller Welt hätten an der Hochschule gewirkt, berichtet er. Der Lehrkörper hätte damals noch fast ausschließlich aus Weißen bestanden.

    Wie sehr sich das geändert hat, kann ich in diesen Sommertagen des Jahres 2017 bei einem Besuch der Universität beobachten. Der riesige Hauptcampus liegt etwas außerhalb der Stadt. Mittendrin auf einem Hügel liegen Wohnhäuser für die Angestellten. Hier haben auch wir gewohnt. Alles sieht noch so aus, wie ich es in Erinnerung behalten habe. Bei dem einzigen Weißen, der mir auf dem Gelände der Uni begegnet, scheint es sich um einen Studenten zu handeln. Vor der Unabhängigkeit gab es so gut wie keine im Land selbst ausgebildeten Hochschulabsolventen mit einheimischen Wurzeln. Ärzte waren so gut wie nicht vorhanden. Erst unter Nyerere wurde mit internationaler Beteiligung die erste tansanische Akademikergeneration herangebildet.

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    Die Hölle auf Erden: Sansibar war einer der wichtigsten Umschlagplätze im Sklavenhandel. Ein Denkmal erinnert dort an die grausamen Schicksale seiner Opfer

    Das Fundament der neuen Bildungspolitik bildete die allgemeine Volksschulpflicht. Die Kinder sollten von Anfang an gemeinsam, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Glaubensgruppe oder Stammesverband, zu gleichberechtigten Bürgern erzogen werden. Das ist Realität geworden, Schulklassen, die uns begegnen, sind bunt gemischt. Einheitliche Schuluniformen machen die sozialen Unterschiede unsichtbar. Muslimische Mädchen tragen dazu ein standardisiertes Kopftuch und ihre Uniformröcke sind länger. Eine Unterweisung in Religion gibt es nicht im staatlichen Rahmen, sondern die vielen verschiedenen Gemeinschaften pflegen diese in eigenen Schulen an den Sonnabenden. Am weitesten verbreitet sind Islam, Hinduismus und das Christentum in vielen Spielarten, daneben existieren diverse Naturreligionen. In allen Volksschulen findet der Unterricht in der alle mehr als 120 Volksgruppen, mit noch mehr eigenen Sprachen, verbindenden Nationalsprache Suaheli statt.

    In der Sekundarstufe, die nicht mehr unter die Schulpflicht fällt, wird ausschließlich auf Englisch unterrichtet. Englisch ist weiter wichtige Umgangssprache in den ehemaligen britischen Kolonien in Afrika und eine gute Voraussetzung, um sich im Rest der Welt zurecht zu finden. Viele hier sprechen neben ihrer Stammessprache und Suaheli auch etwas Englisch. Abgänger der höheren Schulen, die sich um einen Studienplatz bewerben oder in den Staatsdienst aufgenommen werden wollen, müssen zuvor Militärdienst leisten. Ihre Stammeszugehörigkeit soll hingegen keine Rolle spielen. Anders als in vielen afrikanischen Staaten stehen Unruhen und Konflikte zwischen den Ethnien in Tansania seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung.

    Historische Zeugnisse

    Ich unternehme einen Abstecher nach Sansibar. Vor allem die Küsten der Insel mit ihren Traumstränden und Hotels sind ein touristischer Hotspot. Mit dem Flugzeug ist es von Daressalam aus nur ein kurzer Hüpfer, und der Anflug über den Indischen Ozean bietet eine traumhafte Aussicht auf das Eiland. In der Inselhauptstadt, die selbst auch Sansibar heißt und auch sonst wenige besondere Merkmale aufweist, stehen auch einige Plattenbauten. Vor fast einem halben Jahrhundert wurden diese mit Hilfe von Experten aus der DDR errichtet, die hier einheimische Bauleute ausbildeten. Der eine deutsche Staat, der solidarisch auf der Seite der afrikanischen Befreiungsbewegungen stand, hat auch in der Literatur, die den Aufbau des neuen Tansania thematisiert, Spuren hinterlassen. In dem Roman »By the Sea« des bekannten tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) aus dem Jahr 2001 bricht ein junger Sansibari nach Leipzig auf, um sich in der DDR beruflich fortzubilden.

    Sansibar, vor allem als Gewürzinsel bekannt, war früher ein wichtiger Umschlagplatz des muslimischen Sklavenhandels – und der letzte des Kontinents. Wo einmal der größte Markt war, im Stone Town genannten, arabisch geprägten historischen Teil von Sansibar-Stadt, steht seit 1873 die Alte Anglikanische Kirche. Die Sklaven mussten in finsteren Kellern hausen, bis sich die portugiesischen Aufkäufer ihrer bemächtigten. Einige Verliese sind noch zu besichtigen. Auch ein in einer Versenkung installiertes Denkmal erinnert an die unmenschlichen Schicksale. Die Skulpturen von Sklaven darin sind mit originalen Eisenketten aneinander gefesselt. Inoffiziell lief das Geschäft mit der menschlichen Ware trotz Verbots durch die Briten 1873 bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts weiter. Die jahrhundertelange arabische Herrschaft über Sansibar beendete erst 1964 eine Revolution endgültig.

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    Bei den Luguru sind die Frauen die Familienoberhäupter. Mit der Herstellung von Muddy-Cake-Stäben aus mineralstoffreicher roter Erde, als Nahrungsergänzung vor allem bei Schwangeren gefragt, verschaffen sie sich ein eigenes Einkommen

    Die Leitideen für das unabhängige Tansania waren von Beginn an Freiheit (auf Suaheli: uhura) und Einheit (umoja). Beide Begriffe untertiteln auch das Staatswappen. Ein eigener Weg zu einem afrikanischen Sozialismus (ujamaa), wie ihn der damalige Staatspräsident Julius Nyerere 1967 in der Arusha-Deklaration umriss, sollte beschritten werden. Einen wichtigen Ausgangspunkt dafür bildete das gemeinsame Eigentum an den natürlichen Ressourcen und den Produktionsmitteln bei den Stammesverbänden, was auch auf nationaler Ebene verwirklicht werden sollte.

    Tansania unterstützte aktiv andere afrikanische Befreiungsbewegungen und die sogenannten Frontstaaten, die in militärische Auseinandersetzungen mit dem Apartheidstaat Südafrika und dessen Vasallen verwickelt waren. Im Land befanden sich Sitze und Radiosender von Organisationen wie der mosambikanischen Frelimo, von ANC und PAC aus Südafrika oder der namibischen Swapo. 1979 marschierten tansanische Truppen in Kampala, der Hauptstadt des Nachbarstaates Uganda, ein und beendeten die blutrünstige Diktatur des »Schlächters von Afrika« Idi Amin (1928-2003), der sich ins Exil absetzen konnte. An diesen Krieg erinnern an vielen Orten Denkmäler. Tansania ist stolz auf seine fortschrittlichen Traditionen, was auch in vielen Gesprächen mit Einheimischen spürbar wird. Die heutige Politik hat viele Konzessionen an den Westen gemacht, der Privatisierungen als Vorbedingung sogenannter Entwicklungshilfe fordert. Ein neues Gesetz untersagt auch den Saatgutaustausch zwischen den Bauern, eine bewährte, jahrhundertealte Tradition. Nur noch patentierter Samen der Konzerne soll in den Boden gelangen dürfen.

    Verwobene Zeitalter

    Nach der Rückkehr aus Sansibar führt mein Weg von Daressalam landeinwärts. In den Siedlungen herrscht ein reger Handel und Wandel links und rechts der Straße. Verkäufer bieten an, was man so braucht: vor allem Trinkwasser in Flaschen. Fließendes oder wenigstens sauberes Wasser sind rar, vor allem auf dem Land fehlt es an Infrastruktur. Im Angebot sind auch Nüsse, Obst und alles mögliche, bis hin zu Autoreifen und Scheibenwischern. Frauen und Männer transportieren Waren, und das stets auf dem Kopf. Mehr als 200 Kilometer östlich der Metropole liegt die Region Morogoro mit dem Uluguru-Gebirge, an dessen Hängen der Stamm der Luguru siedelt. Hier liegt der Mikumi-Nationalpark, der viertgrößte des Landes. Die meisten weißen Touristen unternehmen ihre Safaris weiter nördlich, sie zieht es vor allem in den Serengeti. Zehntausenden Angehörigen der Masai droht dort die Vertreibung aus ihren angestammten Gebieten, weil diese an reiche Ausländer als Jagdreviere vermarktet werden sollen. Populär sind auch Trips zum höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo, oder an die Ausgrabungsstätten früher Menschheitszeugnisse am Ostafrikanischen Grabenbruch.

    Die Luguru praktizieren noch heute eine matriarchale Lebensweise. Die Frauen sind die Oberhäupter ihrer Familien, Besitz wird über die mütterliche Linie vererbt. Großer Besitz ist hier, wie in ganz Tansania, allerdings selten. Ich besuche das Anwesen eines Familenclans am Rande des Mikumi-Parks. Die Frauen sind beim Kochen. Über Holzkohlefeuern hängen große Töpfe. Zubereitet werden meist Gerichte aus Kassava – Süßkartoffeln –, Kochbananen und Fleisch vom Huhn oder Rind. Schnell kommen wir ins Gespräch. In ihrer dominanten Rolle sehen sie keinen Widerspruch zu dem von ihnen praktizierten Islam. Sie seien eben diejenigen, die die Kinder gebären und aufziehen, alles zusammenhalten würden. Und nähme sich ein Ehemann eine zweite Frau, erfahre ich, habe seine erste das Recht, sich ein heimliches Double zu nehmen. Auch an mich haben sie Fragen. Ob es denn stimme, dass bei uns Männer ihre Schwestern heiraten dürften? Wer hält um die Hand des oder der Zukünftigen an? Wie steht es um eine Mitgift? Die auf dem Hof herumlaufenden Kinder haben immer wieder das Bedürfnis, die helle Haut der europäischen Besucher anzufassen und auf ihre Echtheit zu überprüfen. Einer der Väter erzählt lachend, dass er selbst als Kind Weiße in der Nacht für Gespenster hielt, weil deren Gesichter in der Dunkelheit zu sehen waren.

    Meine letzte Station führt mich an den zerklüfteten Südhang des Kilimandscharo. Unterhalb der Baumgrenze gedeiht auf roter Erde inmitten üppiger Vegetation ein hervorragender Kaffee. Nahe der Stadt Moshi besuche ich eine Kooperative, die der Stamm der Chagga betreibt. Neben der Produktion der Bohnen ist man auch am Projekt Kiliman Cultural Tourism beteiligt. An Touristen werden Unterkünfte vermietet und Führungen angeboten. Das schafft für die lokale Bevölkerung mehrerer Gemeinden wichtige zusätzliche Einnahmen. Traditionen werden fortgeführt und kollektiv neue Wege zum Vorteil aller beschritten. Der »Lehrer der Nation« wäre mit seinen Schülern wohl zufrieden.

  • 20.09.2021 12:42 Uhr

    Kein Konflikt von Interesse

    Sudan und Südsudan: Sezession mit Beifall des Westens. China präsentiert sich als Alternative
    Jörg Kronauer
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    Chinesische Friedensmission: Soldatinnen in Zhengzhou vor ihrer Verabschiedung in den Südsudan (September 2017)

    Die Einsätze im Sudan und im Südsudan gehören inzwischen zum Altbestand der Bundeswehr. Im April 2005 beschloss der Bundestag zum ersten Mal, deutsche Soldaten in einen UN-Einsatz im damals noch nicht geteilten Sudan zu entsenden: Die Blauhelmtruppe UNMIS sollte das am 9. Januar 2005 im kenianischen Naivasha geschlossene »Umfassende Friedensabkommen« zwischen der Regierung des Sudan und dem südsudanesischen Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) überwachen; die Bundeswehr nahm daran teil. Vor dem Abschluss des Friedensabkommens hatte die Bundesregierung jahrelang die südsudanesischen Separatisten unterstützt. Es ging damals im Westen allgemein gegen die arabische Welt, der sich die ohnehin nicht kooperationswillige Regierung des Sudan zuordnete. Zur Strafe förderte der Westen die Abspaltung des Südens. Kritische Beobachter warnten schon früh, im sudanesischen Bürgerkrieg seien mehr Menschen bei Kämpfen zwischen unterschiedlichen Fraktionen im Süden zu Tode gekommen als in Gefechten zwischen Süd- und Nordsudan, was befürchten lasse, dass es nach einer Abspaltung des Südens zu fürchterlichen Gemetzeln kommen könne. Argumente halfen jedoch nicht; Berlin bejubelte die Sezession im Juli 2011 als geostrategischen Erfolg – und entsandte deutsche Militärbeobachter in die umbenannte UNMISS (United Nations Mission in South Sudan).

    Es kam, wie es kommen musste: Mitte Dezember 2013 begannen heftige Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen im Südsudan, die binnen weniger Monate zu einer fünfstelligen Anzahl an Todesopfern führten und mehr als eine Million Menschen in die Flucht trieben. Schätzungen über die Zahl der Menschen, die in dem Bürgerkrieg seit Ende 2013 ihr Leben verloren, belaufen sich inzwischen auf bis zu 300.000. Von den zwölf Millionen Südsudanesen sind weit mehr als drei Millionen auf der Flucht. Die deutschen Militärbeobachter beobachten weiter; weil’s aber keinen Staat mehr von einem arabischen Land abzuspalten gilt und die Weltlage sich ohnehin geändert hat, interessiert der Westen sich nicht für den Konflikt. Obwohl es nicht dabei bleiben muss. China, das bedeutende ökonomische Interessen im Südsudan hat, hat erstmals begonnen, in einem Krieg in Afrika zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, Friedensgespräche zu führen, auch einmal Druck auszuüben, um ein Ende des Krieges herbeizuführen. Ob dies klappt, weiß niemand. Im Sommer beurteilte die International Crisis Group, ein prowestlicher Thinktank, die chinesischen Bemühungen durchaus positiv. Die Frage ist aber, ob das auch so bleibt, sollte Beijing in Juba erfolgreich als Ordnungsmacht auftreten und sich damit – gewollt oder ungewollt – als Alternative zum Westen präsentieren. Denn der duldet bekanntlich freiwillig keine Konkurrenz.

  • 20.09.2021 12:42 Uhr

    Afrika im Visier

    Frankreich und Deutschland eskalieren Krieg in der Sahelzone – nebenbei gewinnen salafistische Reaktionäre aus Saudi-Arabien an Einfluss
    Jörg Kronauer
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    Ein Minusma-Konvoi auf dem Weg von Gao nach Kidal in Mali (Februar 2017)

    Natürlich sind sie verlängert worden, die Mandate für die Bundeswehr-Einsätze in Nordmali, Sudan und Südsudan, als der Bundestag vor den Weihnachtsfeiertagen über sie und vier andere abstimmte. Und natürlich hat es eine breite Mehrheit dafür gegeben, dass deutsche Soldaten in den drei Ländern stationiert bleiben. Über drei weitere Einsätze in Afrika wird im Frühjahr abgestimmt: Die Mandate für die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Mali und Somalia und für die Marineintervention am Horn von Afrika laufen zur Zeit noch. Auch sie werden aller Voraussicht nach verlängert. Die nördliche Hälfte des afrikanischen Kontinents ist zu einem Schwerpunktgebiet deutscher Militäroperationen geworden, und das wird sie wohl bleiben.

    Zentral für die deutsche Afrika-Politik ist derzeit der Einsatz in Mali, der letztlich die gesamte Sahelzone im Visier hat. Begonnen hat er 2013, offiziell mit dem Ziel, die Unruhen im Norden des Landes, die zum Teil dschihadistisch geprägt sind, unter Kontrolle zu bekommen. Das ist – nach immerhin fast fünf Jahren – nicht gelungen. Nicht nur Nord-, auch Zentralmali sei »quasi außer Kontrolle«, hat kürzlich der frühere französische Diplomat Laurent Bigot konstatiert, der sich im Sahel bestens auskennt: »Noch nie gab es ein derartiges Niveau an Gewalt in Mali wie heute.« Der UN-Einsatz in Nordmali (Minusma), an dem die Bundeswehr aktuell mit fast tausend Soldaten beteiligt ist, gilt denn auch als gefährlichste »Blauhelm-Intervention« weltweit: Bis September 2017 waren 133 Todesopfer zu verzeichnen.

    Das bisherige Scheitern des Einsatzes ist der Grund dafür, dass im Sahel größere militärische Umgruppierungen bevorstehen. Sie betreffen den Bestand der beiden Einsätze, in deren Rahmen deutsche Soldaten in Mali stationiert sind, zwar nicht unmittelbar; Minusma wird mit ihren gut 11.000 Soldaten und rund 1.600 Polizisten weitergeführt, und auch EUTM Mali wird mit etwa 600 Soldaten, darunter fast ein Drittel Deutsche, das malische Militär weiterhin trainieren. Frankreich will allerdings langfristig Ersatz für seine »Opération Barkhane« schaffen, die mit rund 3.000 Mann im Prinzip in fast der gesamten Sahelzone operiert – und auf Dauer viel Geld kostet. Paris und Berlin haben deshalb die Gründung einer Eingreiftruppe (Force conjointe) der sogenannten G5 Sahel vorangetrieben, auf die sich die Opération Barkhane erstreckt: Neben Mali sind dies Mauretanien, Burkina Faso, Niger und Tschad.

    Offiziell ist die Aufstellung der »G5 Sahel«-Eingreiftruppe, die langfristig die Kriegführung in der Sahelzone von der Opération Barkhane übernehmen soll, Anfang Juli beschlossen worden. Sie soll letzten Endes 5.000 Soldaten umfassen – 1.000 aus jedem der beteiligten Länder. Aktuell wird die Truppe aufgebaut, und das mit deutscher Hilfe: Im Rahmen von EUTM Mali trainieren auch deutsche Militärs schon seit einiger Zeit immer wieder Soldaten aus den Staaten der »G5 Sahel«. Zuletzt fanden »Beratungsmaßnahmen« und ein zweiwöchiger Ausbildungskurs für »G5 Sahel«-Stabspersonal bei EUTM Mali statt. Berlin hat darüber hinaus versprochen, den Aufbau einer Verteidigungsakademie (»Collège de défense du G5 Sahel«) in Mauretanien zu fördern. Am 8. Dezember hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen, dass in Zukunft Minusma-Einheiten die »G5 Sahel«-Eingreiftruppe punktuell unterstützen sollen, etwa bei der Versorgung mit Treibstoff und Wasser sowie bei der Evakuierung von Verletzten. Auf diese Weise geriete die Bundeswehr ein weiteres Stück in den sich ausweitenden Sahelkrieg hinein.

    Dabei bekommt dieser nun eine neue Dimension. Mitte Dezember ist auf einem Gipfeltreffen in Paris, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel teilgenommen hat, die Finanzierung der Truppe festgeklopft worden. Der Bedarf wird offiziell auf 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, inoffiziell auf weniger als 300 Millionen US-Dollar geschätzt. Die »G5 Sahel«-Staaten haben jeweils zehn Millionen Euro zugesagt, die EU 50 Millionen, Frankreich acht, die USA jüngst 60 Millionen US-Dollar. In Paris haben die Vereinigten Arabischen Emirate 30 Millionen sowie Saudi-Arabien 100 Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt. Die Emirate wollten sich am Aufbau der Verteidigungsakademie in Mauretanien beteiligen, hieß es. Insbesondere Riad, in gewissem Maß aber auch Abu Dhabi sind seit einiger Zeit dabei, außenpolitisch in die Offensive zu gehen und ihre Aktivitäten jenseits der Arabischen Halbinsel zu intensivieren, etwa in Ägypten und in Libyen. Sie nutzen dies auch, um ihre Stellung im regionalen Machtkampf gegen Iran zu stärken. Um Irans Einfluss zurückzudrängen, führen beide zudem einen blutigen Krieg im Jemen, in dem zahlreiche Zivilisten bei Luftschlägen der von Riad geführten Kriegskoalition zu Tode kommen. Zudem hat Saudi-Arabien eine mörderische Hungerblockade gegen den Jemen initiiert.

    Auf dem Pariser Gipfeltreffen hat Saudi-Arabiens Außenminister Adel Al-Dschubeir mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel vereinbart, dass Riad sich auch militärisch an der Kriegführung im Sahel beteiligen wird. Als Instrument dazu soll ein von Saudi-Arabien im Dezember 2015 gegründetes Militärbündnis dienen, das unter dem Namen »Islamic Military Counter Terrorism Coalition« (IMCTC) firmiert und offiziell rund 40 Staaten Afrikas und Asiens umfasst, die sunnitisch geprägt sind oder zumindest einen großen sunnitischen Bevölkerungsanteil aufweisen. Die Gründung des Bündnisses gilt als Teil der saudischen Bestrebungen, die Dominanz über die islamische Welt zu erlangen und Irans Einfluss zu schwächen. Laut Al-Dschubeir wird die IMCTC die »G5 Sahel«-Eingreiftruppe mit Logistik, Aufklärung und Ausbildung unterstützen. Die dazu notwendigen Schritte sollen in Kürze auf einem IMCTC-Treffen in Saudi-Arabien eingeleitet werden. Kann Saudi-Arabien, die Speerspitze der salafistischen Reaktion, tatsächlich seinen Einfluss im Sahel ausweiten, dann wird man daran erinnern dürfen, dass es dies auf wohlwollende Einladung aus Berlin und Paris getan hat.

  • 20.09.2021 12:47 Uhr

    »Alles musste ganz mutig raus«

    Gibt es linkes Weihnachten? Ein Gespräch mit Dr. Seltsam über Jesus, Che, Kartoffelsalat und Handauflegen
    Christof Meueler
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    Dr. Seltsam prüft die Bühne (auf der Rosa Luxemburg Konferenz 2016)

    Dr. Seltsam ist ein Berliner Kabarettist, Historiker, Conferencier und Marxist. Am 13.1.2018 moderiert er zusammen mit Gina Pietsch in Berlin die XXIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung

    Lieber Doktor, mit 66 Jahren sind Sie jetzt als Berliner Godfather of Lesebühne in Rente gegangen.

    Was heißt schon Rente? Ich krieg jetzt 920 Euro vom Amt, Grundsicherung. So viel als Rente zu kriegen, ist für mich unmöglich. Ich war ja mal fünf Jahre lang Lehrer, dafür gibt es 350 Euro Rente. Hätte ich das gewusst, hätte den Job nicht so lange durchgehalten. Die Durchschnittsrente bei Männern in Westdeutschland beträgt übrigens 1.100 Euro. Ich guck’ mir das immer genau an.

    Wenn wir schon beim Nachrechnen sind: Sie stehen auch schon ein halbes Jahrhundert auf der linksradikalen Seite, wie fühlen Sie sich?

    Ich halte es weiterhin mit der Offenbarung aus der Bibel, Kapitel 11, Vers 18 in der Fassung von Martin Luther: »Und die Heiden sind zornig geworden; und es ist gekommen dein Zorn und die Zeit der Toten, zu richten und zu geben den Lohn deinen Knechten (...) und zu verderben, die die Erde verderbt haben«. Das ist mein Ziel, das will ich erleben, egal, von wem, von Jesus oder von der Revolution.

    Von Jesus?

    Ich war vorgestern in der Bolle-Moschee in Kreuzberg, die ihren Namen von dem Supermarkt hat, der da vorher stand. Da geh’ ich gerne zum Friseur, das ist ein syrischer Flüchtling. Da saßen ein paar Moslems, während ich den Bart gemacht bekam. Einer sagte, er verstehe nicht, dass man gläubig sein kann, ohne religiös zu sein. Ich: »Grummel, grummel, grummel«. Mehr ging nicht, weil ich gerade rasiert wurde. Danach sagte ich ihm: »Junger Mann, das geht durchaus, man kann zum Beispiel gläubiger Kommunist sein und überhaupt nicht religiös.« Und der fragte mich daraufhin, ob ich denn Jesus toll finde? Und ich sagte: »Ja, so toll wie Che Guevara«.

    Und deshalb feiern Sie als Marxist auch Weihnachten?

    Natürlich. Letztes Jahr musste ich abends um neun schon wieder alle nach Hause schicken. Die waren stinksauer. Meine Süße hatte angerufen: schlimme Migräne, ich musste unbedingt zu ihr, bin auf dem Weg an der katholischen Matthias-Kirche vorbei gekommen und dachte: Na, guckste mal rein. Die Kirche war knallvoll, alle sangen, ich hab’ mir noch den Segen angehört und bin dann zu meiner Freundin, hab’ ihr die Hand aufgelegt – und die ­Migräne war weg!

    Wie bitte?

    Ich dachte schon, ich kann jetzt eine Karriere als Wunderheiler beginnen, aber die nächsten Male funktionierte es nicht mehr.

    Weil Sie nicht vorher im Gottesdienst waren.

    Ist doch egal, die Gefühle sollen reichen.

    Sie kommen doch auch aus einer sehr christlichen Familie?

    Ja, aus einer Sekte: aus einer katholisch-apostolischen Gemeinde. Da war es besonders an Weihnachten ganz schlimm. Es ging vormittags zur Kirche, nachmittags zur Kirche und zwischendurch auch noch mal. Die haben das alles sehr ernst genommen. Und dann hat mich meine Mutter Weihnachten immer vermöbelt, das war so schlimm, dass ich Weihnachten immer zur evangelischen Bahnhofsmission in Lübeck gegangen bin, statt zu Hause zu bleiben. Da kamen dann die Ostrentner aus Rostock und Parchim, und wir haben denen Kaffee gemacht.

    Allerdings habe ich später, als ich Materialist geworden bin, gemerkt, dass das, was Jesus und die Urchristen praktiziert haben, reiner Kommunismus war, es ging richtig zur Sache beim Abendmahl, das wurde täglich abgehalten. Dafür mussten die Reichen ihre Häuser verkaufen, davon wurde dann das Essen für die Armen gekauft. Doch das hat Paulus, dieser römische Spitzel, alles umgedreht und das Abendmahl auf das rein Geistliche reduziert – man bekommt eine olle Oblate, von der kein Mensch satt wird. Und nur einen Schluck Wein. Das ist doch lächerlich.

    Gibt es ein linkes Weihnachten?

    Ja. Das schönste Weihnachtsfest habe ich 1969 in der Hamburger Uni erlebt: Der AStA hatte ein revolutionäres Weihnachten organisiert. Vor vollem Haus sang Franz Josef Degenhardt seine Lieder und Peter Schütt trug Gedichte vor: »Kiek eens, wat is de Himmel so rot! Dat sünd Marx und Engels, de backt dat Brot! De backt all de lütten lekker Stuten, för all de lütten Meckersnuten«. Da hatte ich Träne in den Augen, das war so wahnsinnig schön, dass ich dachte: So ein Weihnachten will ich wieder haben. Das habe ich aber nie wieder hingekriegt. Als ich später dann selber Shows veranstaltet habe, habe ich regelmäßig versucht, die auch an Heiligabend stattfinden zu lassen. Aber da kommt keiner, denn die Leute sind so knallfest in ihren Familien festgezurrt. Ganz schlimm war es in der Westberliner Hausbesetzerzeit in den 80ern. Da sind wirklich alle Hausbesetzer zu Mami nach Hause gefahren, und ich war ganz allein zurückgeblieben. Ich dachte: Mann, sind die Bullen blöd, die müssen jetzt nur mit vier Leuten rumfahren und können alle 160 besetzten Häuser räumen. Aber wahrscheinlich waren die Polizisten auch unterm Weihnachtsbaum.

    Und was taten Sie dann so einsam?

    Ich hatte depressive Gedanken, aber Freunde luden mich in eine Kneipe in Kreuzberg, in den Bierhimmel ein, wo es eine Weihnachtsgans gab – und sie spielten den ganzen Abend ein Lied: »Hasta Siempre Che Guevara« von Jan Garbarek. Das war natürlich wieder sehr schön und seitdem meine Lebensrettungslieblingsmusik, die haben wir zu Beginn Dr. Seltsams Frühschoppen immer abgespielt.

    Stimmt es, dass Sie in Berlin die erste Lesebühne gegründet haben?

    Ja, das stimmt – zusammen mit anderen. Die wirklichen Gründer sind Wiglaf Droste und sein Freund Cluse Krings. Wiglaf war ja in den 80er Jahren Medienredakteur bei der Taz und hat da immer seine schützende Hand über mich gehalten, weil ich denen zu links schrieb. Schließlich durfte ich aber gar nicht mehr schreiben ...

    Warum?

    Da gab es einen linken Autor, von dem es hieß, er habe eine Frau vergewaltigt. Da haben die Frauen in der Taz Alarm geschlagen, und die männlichen Autoren sollten eine Stellungnahme abgeben. Ich sagte: »Einer Frau, die Karate kann, wird man ihr deutliches Nein niemals missverstehen.« Zwei Wochen später formulierte das Alice Schwarzer ganz ähnlich. Aber mir wurde vorgeworfen, ich würde mit meinen Texten zur Militarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. Und ich sagte: »Danke für das Lob, genau das will ich ja«.

    Obwohl ich zwei linke Hände habe und nicht bei der Bundeswehr war. Da bin ich drum rum gekommen, weil ich bei der Musterung gesagt habe: »Ich will bitte zu den Panzern. – »Wieso das denn?« – »Ja, wenn wir einen erobern, muss den ja auch jemand fahren können.« Das war’s. Danach habe ich von denen nie wieder was gehört. Auch die Taz musste ich deshalb letztlich verlassen. Aber da war ich nicht der einzige, und verschiedene Autoren haben dann im Frühjahr 1989 gesagt: Eine Zeitung zu machen ist uns einfach zu doof, statt dessen lesen wir unsere Texte einfach vor. So entstand die »Höhnende Wochenschau« mit Droste, Krings, Michael Stein und anderen. Sie fand einmal die Woche im Kino Eiszeit statt und war von Anfang an ein unglaublicher Erfolg. Ich habe mir dann gesagt: Das ist ja toll, das mache ich jetzt immer. Michael Stein hatte gefordert: Jeder Text muss einen Angriff enthalten, das halte ich immer noch für eine großartige Maxime eines linken Autors.

    Sie waren von Anfang an Conferencier?

    Nein, zu Beginn war jeder Conferencier und hat den folgenden Autor angesagt. Es gab wunderbare Texte. Cluse Krings ist nach Barcelona gefahren und hat live von den Olympischen Spielen berichtet, nämlich, dass die Stadt im Dreck erstickt, damals war das noch nicht so touristisch. Frank Fabel hat darüber geschrieben, wie er sich bei einem Mercedes Thinktank beworben hat und was die ihm für blöde Fragen gestellt haben. Ich ließ mir live auf der Bühne die Haare schneiden und erzählte dabei, was mir gerade so durch den Kopf gegangen ist – wie beim echten Friseur eben. Ohne Rücksicht auf mein Unbewusstes. Alles musste ganz mutig raus: Dass mich keine Frau mehr angucken wird, wenn ich meine langen Haare abgeschnitten bekomme.

    Sie hatten Ende der 80er Jahre noch lange Haare?!

    Ja, ich fand das schöner. Aber meine heutige Freundin sagt: »Damit sahst du total scheiße aus.«

    Kurzhaarig haben Sie dann »Dr. Seltsams Frühschoppen« begonnen?

    Ja, 1990 lag ich im Krankenhaus und machte eine sechswöchige Abmagerungskur, das bekam ich damals noch von der gesetzlichen Versicherung bezahlt. Und weil ich auch eine Krankenhaustagegeldversicherung hatte, war das meine Spardose. Also ich lag da rum, und dann besuchten mich Hans Duschke und Horst Evers und fragten mich, ob ich nicht mit ihnen so eine Lesebühne machen wollte? Ich hätte doch damit Erfahrung, und sie hätten jetzt auch damit angefangen, an der FU während des Studentenstreiks. Ich sagte: Okay, ich mache mit – unter einer einzigen Bedingung: Wenn die Veranstaltung so heißt wie ich. So kam es zu dem Namen »Dr. Seltsams Frühschoppen«. Damit haben wir viel Geld verdient. 14 Jahre lang, erst im besetzten Haus und dann in der Kalkscheune. Die Leute standen Schlange bis auf die Straße. Die Veranstaltung stand sogar im Baedeker-Reiseführer. Viele, die später was geworden sind, waren bei uns zu Gast, zum Beispiel Eckart von Hirschhausen.

    Nur Weihnachten funktionierte das nicht.

    Nein, nie. Ich habe statt dessen am 24. alle einsamen Herzen zu mir nach Hause eingeladen. Das war oft auch ganz lustig. Einmal hatte ich einen italienischen Verleger zu Gast, der wollte gerne Deutschland kennenlernen, besonders seine Feste. Für Heiligabend hatten sich mehrere Gäste angekündigt. Die einen wollten den Braten mitbringen, die anderen den Wein. Leider sagten alle ab, außer dem Verleger. Und ich saß da mit meiner Notration: Würstchen für 1,90 und Kartoffelsalat für 1,50 und drei Flaschen Bier. Wir teilten alles brüderlich. Als er ging, sagte der Verleger, es sei sehr nett gewesen, und vor allem stimme das ja wirklich, dass die Deutschen zu Weihnachten Wurst, Kartoffelsalat und Bier zu sich nehmen. Das war wirklich ein interkultureller Austausch: alle Vorurteile bestätigt.

    Fast schon ein Brechtsches Lehrstück. Aber »Dr. Seltsams Frühschoppen« scheiterte doch nicht an Weihnachten?

    Nein, an persönlichen Fragen. Und an politischen: Ich war der einzige, der die Politik reingebracht hat. Als 1999 der NATO-Krieg gegen Jugoslawien begann, wurde ich Sonntag morgen von den anderen empfangen: »Du Doktor, wir haben einstimmig beschlossen, dass die Wörter ›Uran‹, ›Joschka Fischer‹ und ›Kriesgsverbrechen‹ auf der Bühne nichts mehr verloren haben.« Die habe ich dann natürlich extra gesagt, und der Eklat war da.

    Es kam letztlich zur Spaltung.

    Irgendwann haben wir schließlich getrennte Veranstaltungen gemacht und dafür den Namen geteilt: Die Spaßmacherfraktion hieß »Frühschoppen« und die politische Fraktion, also ich, hat wieder den Begriff »Wochenschau« benutzt: »Dr. Seltsams Wochenschau« – auch das 13 Jahre lang. Da hab’ ich mir immer Leute eingeladen und mit denen geredet, was ich auch viel besser fand: Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Hans-Christian Ströbele zum Beispiel. Ich habe all die Leute, die keiner richtig persönlich kennt, nach den persönlichen Dingen gefragt, die sie sonst nicht sagen sollten.

    Und die ihnen dann auch geglaubt, obwohl sie von Medienprofis erzählt wurden?

    Lafontaine hatte mir gegenüber behauptet, dass er nach einem halben Jahr aus der Schröder-Regierung ausgetreten sei, weil er gewusst habe, die wollten Krieg führen, und da wollte er nicht mitmachen. Nun weiß man nie, was davon stimmt, aber ich hab’s ihm geglaubt. Auf mich hat er einen offenen Eindruck gemacht. Ich hab’ ihn nämlich gefragt, wie er es als moralisch gefestigter Mensch überhaupt bei diesen Pappnasen im Parlament aushalten könnte? Er hat geantwortet: »Da haben Sie recht, ich würde auch lieber mit meinem Sohn Maurice im Garten Korbball spielen, da hab’ ich immer was zu tun.«

    Übrigens hatte Hans Duschke beim »Frühschoppen« mal eine Nummer gemacht, die fand ich sehr gut. Er stand auf der Bühne und sagte, er könne Gedanken lesen. Dann bat er jemand aus dem Publikum auf die Bühne und sagte ihm: »Ich weiß, was sie jetzt denken: Was ist das für ein Idiot, der da sagt, er könnte Gedanken lesen!«

    Waren Sie eigentlich mal Schauspieler?

    Nur als Schüler, einmal in einem Stück von Pirandello. Da war ich in einen Krug eingemauert und musste auf Kommando lachen. Das habe ich knapp hingekriegt. Und dann im »Autobus S« von Raymond Queneau gespielt, das war wunderschön, aber ich hab’ den Text nicht verstanden. Muss man ja auch nicht als Schauspieler, das ist ja das Irre. Als Moderator muss man auch schauspielern, den Beifall herauslocken, das ist die Hauptaufgabe. Obwohl ich anfangs sehr schüchtern war, habe ich das gelernt über die Jahre.

    Und das Singen haben Sie sich auch noch draufgeschafft.

    Nur ein bisschen, ich dachte immer: Ich kann es nicht, aber jeder kann es, wirklich wahr. In Neukölln hatte ich in den Neunzigern mal den »Amüsiersalon«, wo ich auch singen und tanzen musste, zusammen mit einer alten Tänzerin: »Neukölln, Neukölln, du Blume der Stadt, wo jeder Mensch zwei Arme und vier Räder hat!« In erster Linie aber habe ich die Künstler eingeladen, die das auch perfekt beherrschen und zwar in meinen »Club Existentialiste« in den Nuller Jahren im Keller der Wabe. Da gab es tolle Jazzsessions. Nach meinen Erfahrungen mit den Frühschoppen-Leuten habe ich mir von den Künstlern immer gewünscht, dass die auch was Politisches singen. Und die sagten dann: »Nein, das können wir nicht, wir singen nur schöne Lieder!« Aber die Franzosen konnten zumindest »Le Déserteur« von Boris Vian. Das hatten die alle im Kindergarten gelernt. Aber die kannten nicht die Originalstrophe, die dann verboten war: »Monsieur le Président, Sie können die Gendarmen schicken, doch ich kann gut schießen!« Statt dessen hieß es: »Monsieur Le Président, Sie können Ihre Gendarmen schicken, aber ich werde mich nicht wehren.« Das wusste ich dann wiederum.

    Singen könnten Sie ruhig öfter. Eine wohltönende Stimme haben Sie doch. Und laut ist die außerdem.

    In den 70ern stand ich in dem kleinen Lübeck auf der Durchgangsstraße und rief den Arbeiterkampf aus, die Zeitung des Kommunistischen Bundes, mit einer so kräftigen Stimme, dass es von einem Stadttor zum anderen geschallt ist, wie mir berichtet wurde. Vom Burgtor bis zum Holstentor. Wenn bei der RLK, der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die ich regelmäßig moderiere, das Mikrofon ausfällt, könnte ich die 1.500 Leute im Saal auch so unterhalten. Überhaupt kein Problem. Das habe ich gelernt.

    Was ist Ihr Trick bei der RLK? Wie bleiben Sie den ganzen Tag als Moderator fit?

    Kaffee, Unmengen von Kaffee. Hinter der Bühne ist es überhaupt nicht langweilig, weil du nie weißt, was einer auf der Bühne tun wird. Und wenn er fertig ist, musst du sofort da sein und etwas sagen oder jemand interviewen.

    Aus der Lamäng?

    Ich bin da unheimlich wach.

    Wann war Ihre erste RLK?

    2005, da habe ich Alfred Hrdlicka interviewen müssen ...

    weil ich im Stau steckte. Ich sollte das ja ursprünglich machen, aber schaffte es nicht mehr rechtzeitig.

    Tja, Planung ist alles. Als 2005 einer vom ZK der KP Kubas sprach, sagte Mag Wompel von Labournet zu mir: »Komm, wir gehen raus, eine Zigarette rauchen.« Ich meinte: »Das geht leider nicht, ich muss hier als Moderator auf dem Sprung sein.« Doch sie beruhigte mich: »Keine Sorge, der Mann kommt aus Kuba, der fängt bestimmt bei Adam und Eva an.« Wir gingen raus, rauchten zwei Zigaretten, und als wir wiederkamen, war der tatsächlich erst bei Batista! Und ich machte auf der Bühne dann den Witz: »Das ist die alte Fidel-Schule, keine Rede unter sechs Stunden.«

    Die Kubaner sprechen regelmäßig auf der RLK, und immer ließ ich Grüße an Fidel ausrichten. Da war ich sehr stolz, das tun zu können. Das Schöne an der Konferenz ist ja: Das sind Linke, die verstehen das, was ich sagen will. Das war sonst oft ein Problem: für meine Schüler, als ich noch Lehrer war, für die Taz-Redakteure, als ich Fernsehkritiken schrieb, und für meine Frühschoppen-Kollegen, die nur Spaß machen wollten.

    Und Sie sind sogar so politisch, dass Sie auch aus politischen Gruppen rausgeflogen sind, oder?

    Ich bin aus der IG Druck rausgeflogen, weil ich in Lübeck am 1. Mai eine Rede für den KB gegen den DGB gehalten habe. Wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der Gewerkschaft mit den Maoisten. Später bin ich in Westberlin aus der GEW rausgeflogen, mit dem ganzen Landesverband, weil man sich genau gegen diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse wandte. Aus dem KB bin ich dann aber auch zweimal rausgeflogen: einmal, weil ich es mehrmals versäumte bei einem Werftarbeiterstreik ganz früh morgens Flugblätter zu verteilen – da kam ich einfach nicht aus dem Bett raus. Und später noch einmal, weil ich gegen eine andere maoistische Gruppe, die KPD/AO kämpfen wollte, als die die Sowjetunion zum Hauptfeind erklärt hatten, also auf CDU-Linie eingeschwenkt waren. Dagegen wollte ich eine Aktionseinheit gründen, was mir vom KB als »Provokation« ausgelegt wurde. Es wurden Stellungnahmen eingeholt, alle durften was sagen, und als ich dran war, hieß es: »So, danke, wir haben alles vernommen«. Es gab dann ein Umgangsverbot – meine damalige Freundin musste sich von mir trennen. Wir haben uns natürlich heimlich weiter getroffen. Aus dem KB ist nichts geworden, kein Wunder, wenn man so miteinander umgeht. Das war noch nicht mal richtig stalinistisch, nur blöd.

    Oft waren die K-Gruppen, die kommunistischen Kleinparteien der 70er, so streng wie kurios.

    Ich kann da nur mit Mao sagen: Ohne die Massen sind wir bis zur Schonungslosigkeit lächerlich. Na gut, die Massen feiern eben Weihnachten.

  • 21.09.2021 14:10 Uhr

    Wettlauf um Afrika

    Bis auf wenige Ausnahmen ist die deutsche Wirtschaft auf dem Kontinent kaum präsent. Die Investitionen sind gering – das könnte sich zukünftig ändern
    Jörg Kronauer
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    Ein »Migrationszentrum« ist schon da und für die Investitionen deutscher Firmen in Ghana soll es bald vorwärts gehen – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 12.12.2017 in der Hauptstadt Accra

    »Bleibt zu Hause!« So fasste die Deutsche Welle durchaus zutreffend den Tenor der öffentlichen Stellungnahmen zusammen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am ersten Tag seines Besuchs vor zwei Wochen in Ghana abgab. Zunächst hatte er in einem Interview mit der ghanaischen Tageszeitung Daily Graphic mit Blick auf die zahlreichen in die EU strebenden Menschen aus Westafrika erklärt, die Reise durch die Wüste und über das Mittelmeer sei viel zu gefährlich: »Sie kann mit Gefangenschaft, Misshandlung oder sogar Tod enden.« Das wolle er eindrücklich »den Leuten bewusst machen und sie warnen«. Anschließend eröffnete der Bundespräsident in Accra ein »Migrationszentrum«. Dessen Zweck: Es soll Menschen, die auf dem Weg nach Europa aufgegriffen werden, mit der Aussicht auf Hilfe bei der Jobsuche zur Rückkehr bewegen – und ausreisewillige Ghanaer über Möglichkeiten zur Auswanderung nach Deutschland informieren, die freilich fast nicht existieren. Bei so viel Migrationsabwehr wäre der Hauptanlass für Steinmeiers Westafrikareise fast untergegangen: die Unterzeichnung einer Vereinbarung für die »Reformpartnerschaft«, die es deutschen Unternehmen künftig erleichtern soll, in Ghana zu investieren und damit ihre Stellung in Afrika punktuell wieder zu stärken.

    Sinkende Absatzzahlen

    Ein Blick auf die wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Firmen auf dem afrikanischen Kontinent zeigt rasch: An dem alten kolonialen Verhältnis – die Bundesrepublik bezieht Bodenschätze und setzt dort weiterverarbeitete Waren ab – hat sich im Kern nichts geändert. »Industrieprodukte für Rohstoffe«: So überschrieb das Statistische Bundesamt im Jahr 2015 eine trockene Analyse dieser Handelsströme. In der Tat bestanden die deutschen Afrika-Exporte damals zu mehr als 90 Prozent aus Industrieprodukten, während gut die Hälfte der Importe auf Erdgas und vor allem Erdöl entfiel, weitere fünf Prozent auf Bergbauprodukte. Elf Prozent setzten sich aus unterschiedlichen Agrargütern zusammen, ein Drittel davon Kakao, ein Sechstel Tee und Kaffee. Dabei ist es bis heute – abgesehen von geringeren Verschiebungen, die sich aus Schwankungen der Rohstoffpreise und gelegentlichen Wechseln bei den Erdöllieferanten ergeben – geblieben. Im Süden nichts Neues, könnte man meinen.

    Allerdings muss man, um die Bedeutung etwas genauer einzuschätzen, die Afrika heute für die deutsche Industrie besitzt – als Rohstofflieferant und als Absatzmarkt –, ein paar weitere Aspekte hinzufügen. Nummer eins: Der Kontinent hat für hiesige Firmen relativ an Gewicht verloren. Es gab eine Zeit – das war 1954 –, als Afrika sechs Prozent der BRD-Exporte kaufte. 1970 waren es immerhin noch 4,3 Prozent; 1990 war der Anteil auf 2,4 Prozent gesunken, um bis 2000 weiter auf 1,8 Prozent zu schrumpfen. Seitdem hat er sich bei zwei Prozent konsolidiert. Damit habe der Kontinent »für die deutsche Exportwirtschaft nur eine marginale (…) Bedeutung«, konstatierte das Münchener Ifo-Institut im Dezember 2015 kühl in einer Studie, die es im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) angefertigt hat. Gegenüber der internationalen Konkurrenz hat die deutsche Wirtschaft in Afrika dabei nicht nur stagniert, sie ist sogar zurückgefallen: Hielt sie mit ihren Ausfuhren 1992 noch einen Anteil von 14 Prozent am dortigen Absatzmarkt, so kam sie 2013 nur mehr auf fünf Prozent.

    Aspekt Nummer zwei: Die Bedeutung afrikanischer Bodenschätze für die Rohstoffversorgung der Bundesrepublik darf man im großen und ganzen nicht überbewerten. Die Öl- und Gaslieferungen, die vor allem aus Nigeria, Algerien und Ägypten kommen, inzwischen auch aus Angola und, sofern die Milizen vor Ort es zulassen, noch aus Libyen – machen nur ein Zehntel der entsprechenden deutschen Einfuhren aus. Der größte Teil kommt aus Russland (40 Prozent des Öls, 31 Prozent des Gases), aus Europa (Norwegen, Niederlande, Großbritannien), aus Kasachstan und aus Aserbaidschan. Nicht viel anders sieht es etwa bei den Metallerzen aus. Von den deutschen Einfuhren des Jahres 2014, die sich auf 7,3 Milliarden Euro beliefen, stammten nur 14,7 Prozent (1,1 Milliarden Euro) aus Afrika. Die größten Mengen kommen aus anderen Weltregionen, weshalb die Bundesregierung beispielsweise sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit der Mongolei, mit Kasachstan und mit Peru abgeschlossen hat, aber mit keinem afrikanischen Land. Und als der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kürzlich Alarm schlug, die Ressourcen, die man für Zukunftstechnologien benötige, würden knapp, da ging es zum großen Teil um Bodenschätze, die vor allem außerhalb Afrikas zu holen sind: Um Lithium für Elektroautobatterien, das zu rund 75 Prozent in Australien und Chile gefördert wird und in großen Mengen in Bolivien zu finden ist; daneben um Graphit, bei dem ein einziges Land 70 Prozent des Weltmarkts beherrscht – China.

    Freilich sind die Bodenschätze einiger afrikanischer Länder aus unterschiedlichen Gründen immer noch extrem begehrt. Südafrika beispielsweise spielt eine Sonderrolle. Von dort stammten im Jahr 2014 fast 70 Prozent der gesamten deutschen Erzeinfuhren von dem Kontinent; sie hatten einen Wert von 740 Millionen Euro. Hinzu kamen Metallimporte im Wert von einer weiteren dreiviertel Milliarde Euro. Südafrika besitzt unter anderem 42 Prozent der globalen Chrom- und mehr als 90 Prozent der weltweiten Platinreserven; entsprechend bezieht die Bundesrepublik gut zwei Fünftel ihres Platins und zwei Drittel ihres Chroms von dort. Zu den Platinkäufern gehört unter anderem der BASF-Konzern, der einen Teil des erworbenen Rohstoffs direkt in Südafrika weiterverarbeitet. BASF ist Hauptkunde von Lonmin, einem Platinminenbetreiber, dessen Arbeiter vor fünf Jahren in Marikana gegen miserable Arbeits- und Lebensbedingungen protestierten – bis 34 von ihnen am 16. August 2012 erschossen wurden. Eine Untersuchungskommission gab Lonmin eine Mitschuld daran. Eine Entschädigung haben die Familien der Opfer bis heute nicht erhalten – auch nicht von BASF; das schmälerte schließlich den Profit.

    Auch das Bauxit aus Guinea ist in Deutschland sehr begehrt. Das westafrikanische Land, das mit seinen mehr als zwölf Millionen Einwohnern auf Platz 183 von 188 des Human Development Index (eines »Wohlstandsindikators«) liegt, verfügt über die größten Reserven der Welt. Auch in Guineas Bergbauregionen herrschen miserable Verhältnisse: Bergarbeiter klagen über niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und dadurch verursachte Gesundheitsschäden; Anwohner leiden unter drastischer Verschmutzung von Luft und Wasser. Häufig kommt es zu Protesten, zuletzt im April und im September dieses Jahres; beide Male wurde mindestens ein Demonstrant erschossen. Deutsche Unternehmen beziehen mehr als 95 Prozent des Rohstoffs, den sie zur Herstellung von Aluminium benötigen, von dort. Kobalt wiederum, das zur Produktion von Handys oder Autobatterien benutzt wird, kommt zu einem erheblichen Teil aus der Demokratischen Republik Kongo, die über fast die Hälfte der weltweiten Reserven verfügt. Die Arbeitsbedingungen in den kongolesischen Abbaugebieten sind ebenfalls katastrophal. Laut Angaben von Amnesty International schufteten dort im vergangenen Jahr 40.000 Kinder unter miserabelsten Umständen. Laut Amnesty zählen Volkswagen und Daimler zu den Konzernen, die bislang nur völlig unzureichende Bemühungen unternommen haben, wenigstens Kinderarbeit aus ihren Lieferketten fernzuhalten.

    Sonderrolle Südafrika

    Zurück zu Südafrika. Das Land hat für die Bundesrepublik nicht nur mit seinen Rohstoffen eine Sonderrolle inne. Es ist ihr mit Abstand größter Handelspartner auf dem gesamten Kontinent und ihr wichtigster dortiger Investitionsstandort. Rund ein Drittel des deutschen Afrika-Handels wird mit dem Land abgewickelt, das zudem laut Angaben der Bundesbank zwei Drittel der unmittelbaren und mittelbaren deutschen Direktinvestitionen in Afrika absorbiert hat. Zu den Investoren zählen die großen Autokonzerne VW, Daimler und BMW, die alle schon zu Zeiten der Apartheid beste Geschäfte mit dem Land machten, Daimler übrigens auch mit der Lieferung von mindestens 2.500 Unimogs an die südafrikanische Armee – trotz des UN-Waffenembargos. Damals wurden in den deutschen Werken nicht nur die rassistischen Apartheidpraktiken penibel befolgt; schwarze Gewerkschafter mussten auch damit rechnen, bei Streiks festgenommen und auf den Polizeiwachen gefoltert zu werden. Rheinmetall lieferte neben Munition gleich auch noch eine ganze Munitionsabfüllanlage. Entschädigung für Apartheidopfer haben die deutschen Konzerne natürlich nie gezahlt. Dafür hat Rheinmetall im Jahr 2008 die Mehrheit an der südafrikanischen Rüstungsfirma Denel übernommen. Seitdem beliefert »Rheinmetall Denel Munition« (mit Sitz in Cape Town) Staaten, bei denen die deutschen Rüstungsexportvorschriften zu Komplikationen führen könnten. So hat der südafrikanische Rheinmetall-Ableger den Bau einer Munitionsfabrik im saudischen Al-Khardsch organisiert; er betreut das Werk weiterhin.

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    Neben dem Export setzt die deutsche Wirtschaft in Afrika vor allem auf maximale Ausbeutung – Protestveranstaltung im südafrikanischen Marikana, wo 2012 während eines Streiks bei dem vor allem an BASF liefernden Platinminenbetreiber Lomnin 34 Arbeiter erschossen wurden (Aufnahme vom 16.4.2014)

    Deutsche Unternehmen produzieren in Südafrika, dem am stärksten industrialisierten Land des Kontinents, das sich zudem im Rahmen des BRICS-Staatenbundes an einer eigenständigen Politik versucht, zum einen unmittelbar für den dortigen Markt, zum anderen für den Export in weitere afrikanische Länder. Das bringt viel Geld: Im Jahr 2012 konnten die über 350 deutschen Firmen in Südafrika einen Umsatz von knapp 18 Milliarden Euro erzielen. Ableger deutscher Firmen gibt es in nennenswerter Anzahl sonst nur in Nordafrika – in Ägypten sowie im Maghreb. Dort haben die Investitionen allerdings zumeist einen anderen Charakter: Es geht darum, die niedrigen Löhne zur Produktion für den europäischen Markt auszunutzen. Klassisches Beispiel dafür ist Tunesien. Dort beträgt der Mindestlohn aktuell mit 140 Euro im Monat weniger als die Hälfte desjenigen in Rumänien (320 Euro); zugleich ist der Warentransport per Schiff über das Mittelmeer genauso problemlos möglich wie der Landtransport aus Südosteuropa. In Tunesien gehören – so beschreibt es das Auswärtige Amt unverändert bereits seit vielen Jahren – »Textilien (Vorerzeugnisse)« zu den Hauptimporten aus Deutschland; »Textilien (Enderzeugnisse)« zählen zu den wichtigsten tunesischen Exporten in die Bundesrepublik. Der deutsche Kabelhersteller Leoni, der Kfz-Konzernen zuliefert, ist nach eigenen Angaben größter Arbeitgeber in Tunesien, produziert inzwischen aber auch in Marokko und Ägypten, ebenfalls zu niedrigsten Löhnen. Rund 250 deutsche Firmen lassen zur Zeit etwa 55.000 Menschen in Tunesien schuften. Die bekannteste von ihnen ist Steiff, die in Sidi Bouzid Kuscheltiere produziert. Nur einige hundert Meter vom Firmengelände entfernt steckte sich am 17. Dezember 2010 aus Protest gegen die unerträglichen Lebensbedingungen im Land der 26jährige Gemüsehändler Mohammed Bouazizi in Brand – und löste damit die Revolten zunächst in Tunesien, dann auch in weiteren Staaten aus, die als »Arabischer Frühling« bezeichnet werden.

    Waren die Lebensverhältnisse in den Ländern Afrikas, die Rohstoffe liefern und billige Arbeitskraft stellen, ansonsten höchstens noch deutsche Autos und Maschinen kaufen sollen, dem deutschen Establishment eigentlich immer herzlich egal, so hat sich das in den letzten Jahren etwas verändert: Die Massenflucht nicht nur aus dem Maghreb, sondern vor allem auch aus den Staaten südlich der Sahara macht der Bundesregierung zunehmend Sorgen. Die Zeiten, in denen man Reichtum anhäufen konnte, ohne damit rechnen zu müssen, dass die Opfer der neokolonialen Verhältnisse nicht nur für den deutschen Wohlstand schuften, sondern sich auch über Grenzen hinwegsetzen, um in bescheidenstem Maß an ihm teilzuhaben, sind vorbei. Entsprechend hat die deutsche Migrationsabwehr Hochkonjunktur. Nicht nur das Mittelmeer wird abgeriegelt. Schon seit Jahren werden die Polizeien insbesondere der Sahelstaaten hochgerüstet und trainiert – unter anderem mit einem »Polizeiprogramm Afrika« der bundeseigenen Entwicklungsorganisation GIZ –, werden Länder wie Äthiopien, Eritrea und Sudan über die EU mit Grenztechnologie und mit Mitteln zum Bau von Lagern versorgt, um Flüchtlinge schon möglichst weit im Süden zu stoppen. Doch wird das ausreichen, um Europa abzuschotten? Laut aktuellen Schätzungen wird sich die Bevölkerung Afrikas von derzeit 1,2 Milliarden Einwohnern bis zum Jahr 2050 auf 2,5 Milliarden mehr als verdoppelt haben. »Weit über eine Milliarde Menschen werden künftig einen rationalen Migrationsgrund haben«, erklärte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, am 13. November auf einer Veranstaltung der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU): »Der Migrationsdruck auf Europa wird zunehmen.« Reicht nun aber bloße Repression auf Dauer wirklich zur gewünschten Abwehr aus?

    Zukunftsstrategien

    Hier kommen Überlegungen ins Spiel, die im Dezember 2015 das Münchener Ifo-Institut geäußert hat. Sie müssen vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums südlich der Sahara sowie der geringen Präsenz deutscher Unternehmen in den Ländern zwischen den nordafrikanischen Küstenstaaten und Südafrika verstanden werden. Der Anteil West- und Ostafrikas am deutschen Export ist seit 1990 recht deutlich geschrumpft, derjenige Zentralafrikas ist genauso vernachlässigbar geblieben, wie er es bereits damals war. Der Grund: Die Mittel- und Oberschichten in den dortigen Ländern, die das Geld haben, um teure deutsche Waren zu kaufen, sind zu schmal, als dass sich der Ausbau breiterer Handelsbeziehungen lohnen würde. Doch wenn die Gesamtbevölkerung sich vergrößert, dann wachsen voraussichtlich auch die Mittelschichten; um künftig von ihren Käufen zu profitieren, sollten die deutschen Exporte »von heute circa zwei Prozent des Gesamtvolumens auf drei Prozent im Jahr 2025 und auf fünf Prozent im Jahr 2050« erhöht werden, rät das ifo Institut. Hinzu komme noch ein weiterer Faktor: Mit dem Bevölkerungswachstum nehme auch die Zahl der Erwerbsfähigen zu; bis 2050 könne sie von heute mehr als 400 Millionen Menschen auf gut eine Milliarde steigen. Gleichzeitig sei damit zu rechnen, dass die Lohnkosten »in allen anderen Weltregionen« deutlich stärker stiegen als südlich der Sahara: »Daher ist mit einer deutlichen Zunahme der relativen preislichen Wettbewerbsfähigkeit Afrikas zu rechnen.« Soll heißen: Wer in den 2020er, vor allem aber in den 2030er und den 2040er Jahren weiterhin Niedriglohnproduktion betreiben will, muss sich rechtzeitig in den zuletzt von der deutschen Wirtschaft vernachlässigten Gebieten des Kontinents festsetzen.

    Dazu sollte zuletzt die Reise von Bundespräsident Steinmeier nach Ghana beitragen. Die »Reformpartnerschaft«, die die Bundesrepublik – in Umsetzung der Beschlüsse des G-20-Afrika-Gipfels vom Juli 2017 in Berlin – mit dem Land eingegangen ist, soll vor allem Investitionen erleichtern und damit deutschen Unternehmen den Weg bahnen. Ghana ist keines der wirtschaftlichen Schwergewichte, von denen es südlich der Sahara nur zwei gibt – Südafrika und Nigeria. Es wird allerdings in Wirtschaftskreisen neben etwa der Côte d'Ivoire, Kenia, Äthiopien und Angola zur »zweiten Reihe« afrikanischer Staaten gezählt, in denen sich trotz begrenzter Märkte immer noch attraktive Geschäfte machen lassen. Aber auf der Rangliste der deutschen Handelspartner taucht es erst auf Platz 89 auf – nach Jordanien und knapp vor Honduras, mit Ein- und Ausfuhren in Höhe von jeweils dürftigen 300 Millionen Euro. Das zeigt, wie sehr hiesige Unternehmen afrikanische Staaten südlich der Sahara in ihren Planungen vernachlässigt haben. Dabei hat Ghana – abgesehen von einer kurzen, heftigen Finanzkrise in den Jahren 2014 und 2015 – seit 2006 ein erstaunliches Wachstum erzielt und wird zu den »African Lions« gezählt, einer Gruppe von Staaten wie Äthiopien und Ruanda, deren Wirtschaft rasch wächst. Ghana böte dem deutschen Kapital neben dem viel größeren, aber als eher schwierig geltenden Nigeria wohl gute Chancen.

    Konkurrenten: Frankreich und China

    Ghana ist nicht das einzige Land, in dem Berlin sich bemüht, die deutsche Wirtschaftspräsenz mit Blick auf den künftig wohl wachsenden Markt zu stärken. Einen Vertrag über eine »Reformpartnerschaft« hat die Bundesrepublik nicht nur mit ihm und mit ihrem traditionellen Niedriglohnstandort Tunesien, sondern auch mit der Côte d’Ivoire geschlossen. Das Land, im Westen an Ghana grenzend, gilt als Wirtschaftszentrum des frankophonen Westafrika. Deutschland bezieht zwar Produkte in einem Wert von fast einer Milliarde Euro aus dem Land – überwiegend Rohkakao –, kann aber nur wenig exportieren, so dass die Côte d’Ivoire in der deutschen Außenhandelsstatistik nicht über Platz 75 hinauskommt, ganz knapp vor Liechtenstein. Der Grund? Frankreich verfügt in der Françafrique, seinen ehemaligen Kolonien, trotz aller PR-Behauptungen von Präsident Emmanuel Macron noch immer über enormen Einfluss (siehe junge Welt vom 18.12.2017, S. 12 f.). Berlin kämpft dagegen an, hat den erhofften Durchbruch aber noch nicht erzielt. Das soll nun mit Hilfe der »Reformpartnerschaft« gelingen. Steht das anglophone Ghana im meist französischsprachigen Westafrika ein wenig isoliert für sich, ist – so formuliert es die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest – die ivorische Hauptstadt Abidjan mit ihrem wichtigen Hafen »gerade dabei, ihre alte Rolle als industrieller Hub für das frankophone Westafrika wiederzuerlangen«: »Von Abidjan aus lassen sich die Länder Burkina Faso, Mali, Niger, Togo und Benin versorgen«. Das passt – in Mali und Niger ist Berlin ja auch anderweitig präsent: mit der Bundeswehr.

    Ob es der Bundesrepublik gelingt, in die Franç­afrique einzubrechen, wird man sehen. Viel Zeit lassen kann sie sich wohl nicht. Im vergangenen Jahrzehnt, in dem die deutsche Wirtschaft allen Appellen zum Trotz nicht so recht in die Gänge kam, ist China zur Nummer eins auf dem Kontinent aufgestiegen. Es ist heute der mit Abstand bedeutendste Handelspartner Afrikas und sein aktuell wichtigster Investor – und es intensiviert seinen Handel und seine Kapitalanlagen weiter. So liefert die Volksrepublik inzwischen etwa 17,3 Prozent der ghanaischen Importe; Deutschland liegt bei 3,9 Prozent. Chinas Investitionen in Ghana wurden zuletzt mit 1,3 Milliarden US-Dollar beziffert, während die deutschen laut Angaben der Bundesbank im mittleren zweistelligen Millionenbereich verharrten. Beijing will im nächsten Schritt den Bau einer 1.400 Kilometer langen Eisenbahnstrecke quer durch Ghana finanzieren, die erstens gewaltige Bauxitvorkommen infrastrukturell erschließen und zweitens das nördliche Nachbarland Burkina Faso anbinden soll. Geplant ist zudem die Errichtung von Wasser- und Solarkraftwerken. Tut China sich mit gewaltigen Infrastrukturprojekten hervor, so haben deutsche Unternehmen in Ghana zuletzt von sich reden gemacht, als sie – eine vom IWF erzwungene Schutzzollsenkung ausnutzend – in großem Stil Hühnerfleisch zu Dumpingpreisen nach Ghana verkauften. Viele einheimische Geflügelzüchter konnten mit den deutschen Fleischkonzernen nicht mithalten und mussten letztlich ihre Betriebe schließen. Dem deutschen Export hat’s genutzt.

  • 21.09.2021 14:10 Uhr

    Welthandelsmacht

    Chinas milliardenschweres Megaprojekt einer »maritimen Seidenstraße« zwischen Ostasien und Europa ist weit vorangeschritten. Diesem Netzwerk von Schiffahrtslinien und Häfen hat die EU wenig entgegenzusetzen
    Burkhard Ilschner
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    Chinesische Waren, chinesische Schiffe, chinesische Häfen. Der Welthandel ist ohne Beteiligung der Volksrepublik undenkbar geworden (Riesenfrachter am Hafen von Qingdao, am Gelben Meer im Nordosten Chinas)

    Die Volksrepublik investiert viele Milliarden, die Bundesrepublik ist in Sorge. Die chinesische »Belt and Road«-Initiative (BRI) veranlasst den deutschen Chefdiplomaten in Beijing, Michael Clauss, zu scharfen Tönen: Das Konzept sei »sinozentrisch«, kritisierte der Botschafter und verlangte im Namen Deutschlands und Europas mehr Mitsprache. Das wirft die Frage auf: Mit welchem Recht?

    Mit der Initiative strebt die Volksrepublik China seit 2013 die Schaffung eines wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerks von der eigenen Pazifikküste über Zentralasien, Arabien, Ostafrika und Nahost bis Westeuropa an, dessen Namensgebung eine bewusste Referenz an die alte »Seidenstraße« darstellt: Auch damals schon waren chinesische Waren – darunter eben auch die in Europa begehrte Seide – nicht nur über Land (auf der eigentlichen »Seidenstraße«) durch die Mongolei und Iran bis nach Syrien, sondern auch auf verschiedenen Seewegsrouten über den Indischen Ozean gen Westen bis nach Arabien und Ägypten gelangt. Einzig die bis 1869, dem Jahr der Eröffnung des Suezkanals, ja noch nicht durchgängig bestehende Verbindung zwischen dem Roten und dem Mittelmeer verhinderte eine durchgehenden Transport der Waren per Schiff.

    Im Sommer dieses Jahres hat das »Internationale Maritime Museum Hamburg« in einer eindrucksvollen Sonderausstellung an die kommerziellen und kulturellen Beziehungen zwischen China und Europa entlang der »Maritimen Seidenstraße« zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert erinnert. Die Schau ist eine Leihgabe des chinesischen Guangdong-Museums aus Guangzhou, der Metropole am Perlflussdelta: Es heißt, die vorangegangene Forschungsarbeit habe maßgeblich zur Entwicklung der BRI und zur Wiederbelebung der frühneuzeitlichen Idee eines überseeischen Netzwerks beigetragen.

    In der Volksrepublik erwuchs daraus 2015 ein offizielles Konzept der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission. Es trägt den Titel »Vision und Aktionen zum gemeinsamen Aufbau des Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtels und der Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts« und prägt damit auch die aktuellen Begriffe: Der »Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtel« soll das neue Netzwerk transkontinentaler Landverbindungen sein, der Begriff »Maritime Seidenstraße« meint ein Netzwerk von Schiffahrtslinien und Häfen, an denen chinesische Unternehmen beteiligt sind. Hinter diesem Terminus steht auch, wie es in dem von der Kommission erarbeiteten Papier heißt, die Absicht, »strategische Triebkräfte für die Hinterlandentwicklung« zu fördern, also Kooperationen mit anderen Ländern zum Aufbau einer an den Anforderungen der Hafenwirtschaft orientierten Infrastruktur anzustreben.

    Beide Netze zusammen bilden die besagte »Belt an Road«-Initiative, die in den aktuellen Fünfjahresplan der Volksrepublik integriert wurde. Folgerichtig gilt sie damit als strategische Zielsetzung eigenen politischen Handelns, auch in der Absicht, andere Staaten in ein solches Netzwerk zu integrieren. Sie beschwört den »Geist der Seidenstraße« als historisches und kulturelles Erbe: »Frieden und Zusammenarbeit, Offenheit und Inklusivität, gegenseitiges Lernen und gegenseitiger Nutzen.« Daran wird sich China messen lassen müssen.

    Von der Realität eingeholt

    Der Umstand, dass Züge Container aus China bis nach Duisburg, Hamburg und Rotterdam transportieren, überrascht schon lange niemanden mehr. »China kommt schneller, als manch einer es wahrhaben will« – das formulierte ein Bremerhavener Logistikexperte in den späten 1980er Jahren: An der dortigen Hochschule wurde damals – die Sowjetunion befand sich in der Ära Gorbatschow im Umbruch – aus der Sicht westeuropäischer Hafenbetreiber über die Wiederbelebung der »Transsib«-Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok diskutiert. Dabei wurden auch die Möglichkeiten einer Verlängerung der Schienentrasse bis nach China oder eine Beschleunigung der Transporte über den Seeweg geprüft: von Fernost per Großschiff bis ins Mittelmeer und von dort entweder via »Short Sea Shipping« über Gibraltar oder über transalpine Trassen auf dem Landweg nach Nordwesteuropa.

    Etliche dieser 30 Jahre alten Ideen sind heute – zu Lande wie zu Wasser – längst verwirklicht, andere von der Realität längst überholt worden, und das nicht immer zum gesellschaftlichen Nutzen: Erinnert sei hier beispielhaft an den oft beschriebenen, steuerlich hoch subventionierten Gigantismus westeuropäischer und nicht zuletzt deutscher Reeder, den China- bzw. Fernosthandel mit immer größeren Schiffen bis Nordwesteuropa zu organisieren und dabei hiesige Hafenstädte unter Druck zu setzen, ihre Terminals und Wasserwege diesem Vorhaben anzupassen. »Short Sea Shipping« zwischen mediterranen und hiesigen Häfen dagegen ist heute inzwischen meist dem intrakontinentalen Warenaustausch vorbehalten.

    Im Frühjahr dieses Jahres prophezeite der Chef des halbstaatlichen norddeutschen Hafenlogistikers Eurogate, Thomas Eckelmann, der interkontinentale Warenverkehr von Ostasien nach Europa werde sich zunehmend auf den Mittelmeerraum konzentrieren. Daraus sprachen sehr wohl eigene Interessen. Denn für das »Transshipment« genannte Umladen vom Riesenfrachter mit 22.000 Standardcontainern (TEU) auf kleinere »Feeder« im Zuge von »Short Sea Shipping«-Konzepten – verfügt Eurogate über sieben ideale mediterrane Standorte zwischen Zypern und Gibraltar.

    Schon während des Suezkanal-Ausbaus wurden Ausweichoptionen um die Südspitze Afrikas geprüft. Heute, im Zuge des Klimawandels, wird über Routen durch die nicht mehr ganzjährig vereiste Arktis geredet. Nur eines fand nicht statt: eine breite Debatte über neue Konzepte zur Vernetzung einzelner Abschnitte der Ostasien-Europa-Verbindung – zur gegenseitigen Entlastung, zum gegenseitigen Nutzen. Dafür mussten erst die Chinesen ihre Initiative präsentieren.

    Seither wird über die neue »Maritime Seidenstraße« zwar gesprochen, aber noch immer wird das Projekt der Volksrepublik überwiegend nur partikular, aus dem Blickwinkel der eigenen Interessen wahrgenommen, statt es als das zu sehen, was es ist: der Entwurf eines globalen Netzwerks. Und längst geht es dabei nicht mehr nur um Visionen. Das Konzept befindet sich bereits in Umsetzung. »Sinozentrik«-Kritik ist da ebenso fehl am Platze wie der Ruf nach »Mitsprache«. China begreift das Netzwerk der »Maritimen Seidenstraße« als ein Angebot zur Partizipation. Nur die Praxis kann daher zeigen, wie ernst Beijing seinen Hinweis auf die vermeintlichen historischen Werte friedlicher Zusammenarbeit meint.

    Zaudern bei EU und BRD

    Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hatte bereits 1998 die (historische) Seidenstraße ein Beispiel für die gelungene Verbindung »grenzüberschreitender Verkehrssysteme mit kultureller Eigenständigkeit und regionalem Selbstbewusstsein« genannt. Daraufhin ging kein Ruck durch die Unternehmer, erfolgte keine eigenständige Initiative von deutscher (oder europäischer) Seite. Die musste erst 15 Jahre später von China ergriffen werden, um die Europäer zu einer Reaktion zu veranlassen.

    Im Juni 2015 beschlossen die EU und China auf ihrem Gipfel in Brüssel, die Kooperation mit der Gründung einer »Konnektivitätsplattform« zu festigen. Damit sollten die »Investitionsoffensive der EU« und die chinesische Seidenstraßen-Initiative verbunden werden. Während allerdings die Volksrepublik die Infrastruktur Zentralasiens und jene für die Schiffahrtslinien auf dem Indischen Ozean für Transporte bis nach Europa im Blick hat, und diese Investitionen in Asien, Mittel- und Osteuropa begehrt sind, beschränkt die EU ihre »Offensive« auf den eigenen Wirtschaftsraum. Offen bleibe, heißt es in einem Papier des in Hamburg ansässigen Deutschen Asien-Instituts vom Dezember 2015, »wie divergierende Interessen zusammengeführt werden können«.

    Brüssel hat sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass China bereits vor Ausrufung der BRI mit der sogenannten 16-plus-1-Initiative einen regionalen Kooperationsansatz gestartet hat, der elf EU-Mitgliedsländer und fünf Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa einschließt. Ein Problem wird darin offiziell nicht gesehen.

    Die EU hat zwar den Charakter der BRI als »Entwicklungsstrategie und Rahmenaufgabe«, die auf Zusammenarbeit fokussiert sei, erkannt – aber über die erwähnte »Konnektivitätsplattform« hinaus bleibt es bislang bei floskelhaften Appellen, eine »blaue Partnerschaft« zwischen China und der Europäischen Union zu etablieren. Aktive Partizipation am längst wachsenden Netzwerk ist nicht wahrnehmbar.

    Auch die Bundesrepublik übt sich in Zurückhaltung. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping am 5. Juli in Berlin führte Bundeskanzlerin Angela Merkel lediglich aus, Deutschland habe »positiv die Anstrengungen zu der sogenannten Seidenstraßen-Initiative begleitet«, und äußerte die vage Hoffnung, dass bei einer Beteiligung eine »transparente Ausschreibung« gewährleistet sei. Auf der vom Bundeswirtschaftsministerium ausgerichteten 10. Nationalen Maritimen Konferenz im April dieses Jahres in Hamburg war von Chinas Plan keine Rede, und das, obwohl dort die maritime Wirtschaft versammelt war, um sich über globale Aktivitäten ihrer Branche zu verständigen.

    Derweil pumpt China längst Geld entlang der »Maritimen Seidenstraße« in Häfen, Infrastruktur und punktuell auch in die militärische Absicherung in den Küstenstaaten. Es gibt unterschiedliche Schätzungen über die finanziellen Größenordnungen, letztlich dürfte der Betrag deutlich über der Marke von umgerechnet einer Billion US-Dollar liegen. Finanziert wird dies unter anderem über die 2015 gegründete »Asian Infrastructure Investment Bank« (AIIB), die ihren Sitz in Beijing hat. Der chinesische Staat hält an der Entwicklungsbank, die in Konkurrenz zu den von den USA dominierten Institutionen Weltbank, IWF und Asiatische Entwicklungsbank gegründet wurde, einen Anteil von 26,1 Prozent und besitzt damit ein Vetorecht. Auch die Bundesrepublik und andere EU-Staaten sind daran beteiligt.

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    Die Hauptroute für Frachter auf der »maritimen Seidenstraße«

    China investiert nicht nur über die AIIB, sondern stellt Mittel für ausländische Infrastrukturprojekte auch auf direktem Wege bereit. So hat Beijing etwa den staatlichen »Seidenstraßen-Fonds« mit umgerechnet 20 Milliarden US-Dollar ausgestattet, staatliche Banken sagten weitere 55 Milliarden US-Dollar zu. Im Zentrum von Hongkong, im »China Overseas Building«, residiert mit der »Maritime Silk Road Society« eine Art PR-Agentur mit Vereinsstruktur, in der im Prinzip jeder Mitglied werden kann. Deren besonderes Augenmerk gilt vor allem jungen Berufstätigen und Studenten aus den ASEAN-Staaten, die ermutigt werden sollen, die entwicklungspolitischen Chancen der BRI zu unterstützen. Bislang scheint Beijing sehr genau darauf zu achten, die Kontrolle zu behalten – nicht nur in der AIIB.

    Große Fortschritte

    So oder so, das Projekt der »Maritimen Seidenstraße« zwischen Ostasien und Europa ist inzwischen weit gediehen, wie ein Blick auf die bisherigen Aktivitäten entlang der Route verrät.

    Die Straße von Malakka, eine Meerenge zwischen Sumatra und Malaysia, ist nautisch und wirtschaftlich eine unverzichtbare Verbindung zwischen Südchinesischem Meer und Indischem Ozean, aber auch ein Nadelöhr, das es strategisch abzusichern gilt. Rund um Singapur – der Stadtstaat an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel verfügt über den zweitgrößten Hafen der Welt, an dem Chinas Staatsreederei Cosco bereits Anteile besitzt – bauen chinesische Investoren im südostmalaysischen Johor Baru eine riesige Trabantenstadt für wohlhabende Chinesen, Dienstleister und Händler einschließlich einer Bahnverbindung bis Beijing.

    Weil zu einer effektiven Absicherung auch Alternativen gehören, hat China einerseits Indonesien vorgeschlagen, den Bau von knapp 30 modernen Häfen entlang seiner diversen Küsten zu finanzieren. Andererseits soll in Kuantan im Osten Malaysias sowie in Malakka im Westen des Landes und zusätzlich in Kyaukpyu, an der Küste von Myanmar, in weitere Häfen investiert werden. Im benachbarten Bangladesch baut die Volksrepublik den Hafen von Chittagong aus sowie einen neuen Tiefwasserhafen in Sonadia.

    Im Süden Sri Lankas hat China im Juli 2017 den Hafen von Hambantota zu 70 Prozent übernommen, er soll zum Knotenpunkt des künftigen Warenverkehrs zwischen Südostasien und Afrika werden. Indien verfolgt die Aktivitäten mit Skepsis – wegen Sicherheitsbedenken und aus Sorge, ein Aufschwung in Hambantota könne eigene Häfen ins Abseits drängen. Prompt war Indiens Regierungschef Narendra Modi dem erwähnten BRI-Gipfel im Mai ferngeblieben.

    Im Südwesten Pakistans hat die Volksrepu­blik in Gwadar einen Tiefwasserhafen errichtet, der zwar abseits der »Maritimen Seidenstraße«, aber nahe der strategisch wichtigen Zufahrt zum Persischen Golf liegt. Er wird über eine Eisenbahnlinie an Chinas Südwestprovinz Xinjiang angebunden – Gesamtkosten beider Projekte umgerechnet 54 Milliarden US-Dollar – und soll Drehkreuz zwischen Ostasien, Arabien, Afrika und Europa werden. Via Bahnlinie können zudem chinesische Ölimporte transportiert werden, die derzeit noch per Schiff durch die Straße von Malakka müssen. Zur Deckung des eigenen Energiebedarfs investiert China übrigens in Pakistan in die Kohleverstromung.

    Einen kleinen Brückenkopf leistet sich Beijing auf den Malediven, obwohl die Inselgruppe in der globalen Schiffahrtspolitik eher keine Rolle spielt: Der Ausbau des Flughafens und seine Anbindung an die Hauptstadtinsel Malé mittels einer riesigen Brücke wird von China sowohl finanziert als auch technisch realisiert.

    Im tansanischen Bagamoyo, dem die Insel Sansibar vorgelagert ist, entstehen ein supermoderner Tiefwasserhafen, eine Satellitenstadt, ein Flugplatz und ein Industriegebiet. Das Zehn-Milliarden-Dollar-Projekt wird von China und Oman finanziert. Bagamoyo, etwa 60 Kilometer nördlich von Dar-essalam gelegen, soll nach Fertigstellung dieser Projekte mit dem Landesinneren vernetzt sein, von Mosambik bis Kenia sowie bis zur DR Kongo.

    Mit chinesischem Kapital wurde auch ein Schienen- und Straßennetz vom Hafen im kenianischen Mombasa ins Binnenland und zur Hauptstadt Nairobi finanziert. China hat sich im Gegenzug das Recht einräumen lassen, für geschätzte 25,5 Milliarden Dollar nordöstlich von Mombasa den sogenannten Lamu-Komplex zu bauen – einen Megaport mit 32 Liegeplätzen samt angrenzender Industrieareale und neuen Verkehrskorridoren bis in den Südsudan und nach Äthiopien. Auch hier wird die Energieversorgung durch ein Zwei-Milliarden-Dollar-Kohlekraftwerk gesichert.

    Auf dem Weg zum Mittelmeer hat China seit Sommer 2017 auch einen militärischen Stützpunkt – in Dschibuti am Golf von Aden, direkt neben den Marinehäfen anderer Großmächte. Offiziell soll die Militärbasis nur der Pirateriebekämpfung sowie der Unterstützung von UN-Missionen in Afrika dienen.

    Im Mittelmeer selbst hatte China vor einiger Zeit vergeblich versucht, auf Kreta Fuß zu fassen und in Timbaki einen großen Containerhafen zu bauen. Das dürfte sich erledigt haben, seit die Troika die Griechen unter Alexis Tsipras gezwungen hatte, der chinesischen Reederei Cosco den Hafen von Piräus zu überlassen, sozusagen als Brückenkopf im Mittelmeer. Die Chinesen investieren, der Umschlag nimmt zu – aber die Hafenarbeiter sehen sich gezwungen, »grundlegende Rechte« sowie »Arbeitsrechte und Tarifverträge gegen den Investor« zu verteidigen, wie es im Juni dieses Jahres auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hamburg organisierten Diskussionsveranstaltung unter Hafenarbeitern hieß.

    Anfang November hat Portugals Ministerin für Meeresangelegenheiten, Ana Paula Vitorino, in Begleitung von drei Dutzend ­Schiffahrtsmanagern in China über eine Beteiligung Portugals an der »Maritimen Seidenstraße« verhandelt. Umgerechnet etwa 2,5 Milliarden US-Dollar soll Beijing unter anderem in den Ausbau der Containerhäfen von Sines, Lissabon und Leixoes investieren: Portugal wolle sich »als globales logistisches Drehkreuz im Atlantik« aufstellen, sagt Vitorino – für China wäre das ein weiterer Brückenkopf auf der Route nach Nordwesteuropa.

    Dort haben chinesische Firmen heute bereits etliche Beteiligungen, so etwa Cosco neben der in Piräus auch in Rotterdam, die SIPG als Hafenbetreiber von Shanghai im belgischen Zeebrügge; und CK Hutchison – ein privater in Hongkong ansässiger Konzern mit engen Bindungen an die KP-Führung in Beijing – sitzt in Rotterdam, Venlo, Duisburg, Felixstowe, Gdynia und Barcelona. Der Versuch eines chinesischen Konsortiums, in Hamburg Fuß zu fassen und einen fünften Containerterminal zu bauen und zu betreiben, ist zwar spontan auf breite Ablehnung gestoßen – erledigt ist die Sache damit aber längst nicht.

    Laut einer Studie der Londoner Investmentbank Grisons Peak stellt China aktuell vier der zehn größten Hafenbetreiber der Welt sowie vier der 20 größten Schiffahrtslinien. Zudem sind fast zwei Drittel der 50 größten Häfen der Welt entweder in chinesischem Besitz oder abhängig von chinesischen Investitionen; 2010 habe das nur für ein Fünftel von ihnen gegolten.

    »China kommt schneller, als manch einer es wahrhaben will.« Wer heute die chinesische BRI als Bedrohung thematisiert, hat eine Entwicklung verschlafen und frühzeitige Prognosen hiesiger Experten nicht ernst genommen. Wenn gegenwärtig über den chinesischen Plan einer »Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts« geredet werden muss, dann nur, weil Beijing die Chancen einer derartigen Strategie schneller und klarer erkannt und angepackt hat als hiesige Politiker und Logistiker.

  • 20.09.2021 12:42 Uhr

    Der gewohnte Terror

    Nigeria: Der Krieg zwischen der Islamistenmiliz Boko Haram und dem von den USA unterstützten Militär fordert Zehntausende Tote
    Christian Selz, Kapstadt
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    Der endlose »Krieg gegen den Terror« fordert in Nigeria unzählige Opfer (Maiduguri, 5. Juni 2017)

    Die grausame Nachrichten aus Nigeria sind zur Gewohnheit geworden. Am Dienstag, so berichtete die Onlinezeitung Premium Times unter Berufung auf örtliche Sicherheitskräfte, tötete ein Selbstmordattentäter in der Stadt Mubi im Bundesstaat Adamawa im Nordosten des Landes mindestens 50 Menschen in einer Moschee. Bei einem weiteren Überfall bewaffneter Milizen wurden ebenfalls am Dienstag mindestens 30 Menschen in der Stadt Numan im selben Bundesstaat getötet. Am Mittwoch schließlich ordnete Nigerias Staatspräsident Muhammadu Buhari eine neue Militäraktion an, allerdings nicht in Adamawa, wo die Armee schon seit Jahren gegen die Islamistenmiliz Boko Haram kämpft, sondern im Bundesstaat Zamfara im Nordwesten des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas. Dort hatten mutmaßliche Boko-Haram-Kämpfer in der Vorwoche etliche Ortschaften überfallen und Gouverneur Abdulasis Yari zufolge mindestens 155 Menschen getötet.

    Der »Krieg gegen den Terror«, den Buhari und seine Unterstützer in Washington bereits mehrfach für nahezu gewonnen erklärt hatten, tobt also in voller Intensität weiter. Geändert hat daran auch die massive Hochrüstung der nigerianischen Truppen durch die USA nichts. Die war bereits durch die Obama-Administration deutlich ausgebaut worden. Obwohl sich die US-Regierung über den genauen Umfang stets ausschweigt und schon gar nicht die Zahl ihrer vor Ort aktiven »Militärberater« nennt, versprach Außenminister John Kerry noch kurz vor Ende seiner Amtszeit bei einem Treffen mit Buhari im August 2016 ein »sehr starkes Engagement«. Das zumindest berichtete die Nachrichtenagentur Reuters damals unter Berufung auf einen »hochrangigen US-Offiziellen«.

    Zuvor hatte die Obama-Regierung zwar zeitweilig aufgrund arger Menschenrechtsverstöße des dortigen Militärs Differenzen mit ihren Verbündeten in Nigeria simuliert und vorübergehend gar ein Hubschraubergeschäft blockiert, doch die Bewaffnung der nigerianischen Regierungen, sowohl unter Buhari als auch zu Zeiten von dessen Vorgänger Goodluck Jonathan, riss niemals ab. Dabei war das, was beispielsweise Amnesty International im Juni 2015 über das nigerianische Militär zu berichten wusste, nicht gerade die beste Werbung für vielbeschworene westliche Werte wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Von 7.000 Toten in Militärhaft und 1.200 weiteren Hinrichtungen ohne Prozess war die Rede, ebenso von Folter, Massenerschießungen, verhungerten Häftlingen und Tötungen durch den Einsatz chemischer Substanzen in überfüllten Zellen. Die Vorwürfe waren so schwerwiegend, dass Buhari seinen Waffen- und Geldgebern einige Bauernopfer aus den eigenen Reihen bringen musste, ehe die New York Times im Mai vergangenen Jahres vermelden durfte: »US-Militär versöhnt sich mit Nigeria zum Kampf gegen Boko Haram«.

    Wenn das wirklich das Ziel war, hat es offensichtlich wenig genutzt. Die Zahl der Todesopfer seit 2009, als die Islamistenmiliz verstärkt zu Anschlägen überging, geht in die Zehntausende. Der Gouverneur des Bundesstaates Borno, Kashim Shettima, sprach im Februar dieses Jahres laut Premium Times gar von fast 100.000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen. Wirkliche militärische Erfolge sind dagegen nicht zu erkennen. Zwar konnten Boko-Haram-Kämpfer immer mal wieder aus von ihnen gehaltenen Gebieten vertrieben werden, doch den Terror beendet hat das nicht. Statt dessen tötet auch das Militär bei seinen Angriffen immer wieder Zivilisten. Im Januar starben beispielsweise über 100 Menschen bei der Bombardierung eines Flüchtlingslagers durch die Luftwaffe.

    Eine politische Lösung des Konflikts ist ebenfalls nicht in Sicht. Die Hintermänner der Miliz sind in einer nordnigerianischen Elite zu finden, die sich vom Süden und der Regierung in Abuja marginalisiert fühlt. Verhandlungen mit ihnen finden nicht statt. Buhari, der sein Land bereits in den 80er Jahren als Militärdiktator geführt hatte, gewann die Wahl 2015 mit dem Versprechen, mit harter Hand gegen die Boko Haram vorzugehen. Von dieser Strategie kann er auch allein deshalb nicht abweichen, weil daran die Unterstützung aus Washington hängt. Und die braucht er, um seinen Hofstaat bei Laune zu halten, in dem die Mittel versacken. Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb der Armee sind beileibe kein Geheimnis und wurden am Donnerstag durch die Veröffentlichung des offenen Briefs eines anonymen Soldaten in der Tageszeitung Punch einmal mehr ins Rampenlicht gerückt. Der darin bemängelte desolate Zustand des Militärs – dem Brief zufolge wird teilweise nicht einmal der Sold der Rekruten gezahlt, weil die Mittel veruntreut werden – ist ein weiterer Erklärungsansatz für den Erfolg der Islamisten. Hinzu kommt, dass es in der Region ein großes Angebot an Waffen auf dem Schwarzmarkt gibt, seitdem die USA im Jahr 2011 mit britischer und französischer Hilfe den regionalen Stabilitätsanker Libyen in Trümmer gebombt haben.

    Einsicht ist freilich ausgeschlossen. Statt dessen folgen auf die gewohnten Schreckensmeldungen von Anschlägen stets die gewohnten Regierungsstatements. Die ehemalige Fox-Moderatorin und jetzige Sprecherin des US-Außenministeriums, Heather Nauert, verkündete am Mittwoch, der Anschlag an einem Gebetsort zeige »die brutale Natur der Terroristen«. Derlei »skrupellose Attacken auf unschuldige Zivilisten« würden lediglich Washingtons »Entschluss stärken, dieser Bedrohung in Zusammenarbeit mit unseren nigerianischen und regionalen Partnern entgegenzutreten«. In ähnlicher Form wird das wohl auch künftig noch häufiger zu lesen sein.

    Aus Nigeria zur Rosa-Luxemburg-Konferenz: Nnimmo Bassey, Dichter, Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises 2010, spricht am 13. Januar in Berlin über Nahrungsmittel, Bodenschätze und billige Arbeitskräfte – wie sich Ausbeutung und Umweltverschmutzung für das internationale Kapital rentieren

  • 21.09.2021 14:10 Uhr

    Afrika in Russland

    Bei den Weltfestspielen in Sotschi diskutieren Teilnehmer über antiimperialistischen Kampf in ehemaligen Kolonien
    Roland Zschächner, Sotschi
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    Mitglieder der SWAPO-Jugendliga aus Namibia in Sotschi

    Das Wetter will nicht so richtig mitspielen. Am Dienstag hängen die Wolken tief über Sotschi, wo im Olympiapark die 19. Weltfestspiele der Jugend und Studenten stattfinden. Eigentlich ist die Stadt am Schwarzen Meer eine sichere Bank für mildes Klima bis weit in den Herbst hinein. Doch auch gelegentlicher Nieselregen tut der Stimmung unter den mehr als 20.000 Teilnehmern keinen Abbruch. Sie spazieren auf dem weitläufigen Gelände zwischen den verschiedenen Veranstaltungsorten umher, an denen jede Menge geboten wird, treffen sich zum Plausch und zum Essen oder knüpfen neue Bekanntschaften. Ein Anlaufpunkt ist das Eishockeystadion. Für einige bietet es wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben die Möglichkeit, sich auf Kufen zu stellen und dem schwarzen Puck hinterherzujagen oder sich im Pirouettendrehen zu versuchen. Wer es weniger hektisch angehen möchte, kann aber auch einfach ein paar Runden auf dem gefrorenen Nass drehen. Was allein schon eine wackelige Angelegenheit sein kann.

    Weniger unsicher sind die Teilnehmer der Diskussionen. Der Tag steht im Zeichen Afrikas, eines der jüngsten Kontinente, wie oft betont wird. Jung nicht nur, weil viele Länder erst vor wenigen Jahrzehnten ihre Eigenstaatlichkeit erlangten, sondern vor allem, weil die Bevölkerung von jungen Menschen geprägt ist. Doch ihnen wird ihre Zukunft vorenthalten. »Down with Imperialism« (Nieder mit dem Imperialismus) hallt es deswegen durch den mit fast 100 Menschen vollbesetzten Saal ganz am Ende der »roten Zone«, wo das Programm des mitausrichtenden Weltbundes der Demokratischen Jugend (WBDJ) stattfindet. »Down, down, down!« bekräftigen die Anwesenden ihre Forderung.

    »Heute ist der Afrika-Tag, das muss man auch im kalten Russland spüren«, erklärt die Vorsitzende der Panafrikanischen Jugendunion, nachdem der Vertreter des Jugendverbands der mosambikanischen Frelimo den Saal mit einem Kampflied, in dem die ehemaligen Befreiungsbewegungen des Kontinentes besungen werden, zum Tanzen und Mitsingen gebracht hatte. Auf dem Podium haben zudem Delegierte aus Angola, Namibia und der Demokratischen Republik Kongo sowie von der Frente Polisario, der Befreiungsbewegung der Westsahara, Platz genommen. Sie diskutieren über die Schwierigkeiten, mit denen ihre Generation konfrontiert ist: Von außen werden die afrikanischen Länder von den alten Kolonialmächten bedrängt, eine souveräne Entwicklung ist unter diesen Umständen kaum möglich. Der Kolonialismus lebe so weiter fort. Gleichzeitig sitzen die alten Helden, die für die Befreiung gekämpft haben, in der Regierung; die Jugend hat es daher schwer, selbst Verantwortung zu übernehmen, wie der Vertreter aus Angola vom Jugendverband der seit der Unabhängigkeit regierenden MPLA unterstreicht.

    Einigkeit herrscht über die Notwendigkeit, die Sahrauris in ihrem Kampf gegen die marokkanische Besatzung zu unterstützen. Die Westsahara ist die letzte Kolonie in Afrika. Nach Jahrzehnten unter spanischer Herrschaft wurde das an Bodenschätzen reiche Land 1975 von dem nördlichen Königreich okkupiert. Solidarität sei notwendig, so wie sie Kuba in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gezeigt hatte. Stürmisch ist deswegen der Beifall, als Fernando González, der im Publik saß, auf die Bühne tritt. Er ist einer der »Cuban Five«, die wegen ihrer Tätigkeit als Kundschafter bis zu 16 Jahre in den USA inhaftiert waren. Die Anwesenden feiern ihn als Helden. González, der selbst zwischen 1987 und 1989 als Freiwilliger in Angola mit der MPLA gegen die Truppen des südafrikanischen Apartheidregimes gekämpft hatte, unterstreicht in Sotschi, dass Havanna an der Seite der afrikanischen Länder stehe. »Viva Cuba«, ruft einer der Zuhörer, woraufhin die Anwesenden die sozialistische Insel im Wechsel mit dem Revolutionär Fidel Castro hochleben lassen.

    Der Imperialismus sei in der Offensive, warnt der Vertreter der SWAPO-Jugend aus Namibia. Er verweist auf die Demokratische Republik Kongo, gegen die die USA und die EU Sanktionen verhängt haben, weil die 2016 anstehenden Wahlen vorläufig ausgesetzt wurden. Dabei würden, so der Redner aus Kinshasa, Menschenrechte von den Ländern des Nordens dazu benutzt, den Süden zu destabilisieren. Es gehe um die Sicherung des Zugangs zu den begehrten Ressourcen. »Wir dürfen uns nicht vorschreiben lassen, was wir unter Demokratie zu verstehen haben«, betont die Vorsitzende der Panafrikanischen Jugendunion. Die afrikanischen Länder müssten ihre eigene Definition dafür entwickeln.

    Nett und richtig seien die Parolen, meldet sich ein Zuhörer zu Wort. Aber er erwarte auch Taten, denn die fehlten – vor allem, wenn es um die Belange der Jugend gehe. Obwohl eine »radikale Transformation« der Wirtschaft versprochen werde, seien Arbeitsplätze kaum vorhanden. Ein anderes Problem sei, so der Mann aus Tansania mit Blick auf das Podium, dass unter den sechs Rednern nur eine Frau sei. »Auch in dieser Frage müssen wir mehr können«, fordert er ein. Die Mehrheit der Anwesenden kann ihm nur zustimmen.

  • 21.09.2021 14:10 Uhr

    Der Hunger des Reisbauern

    Und der Hunger des Kapitals: Der Dokumentarfilm »Das grüne Gold« über Landraub in Afrika
    Gerrit Hoekman
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    »Sie sagten, wir hätten kein Recht auf das Land« (Filmszene)

    Der Film beginnt mit Klängen aus Äthiopien. Ein Chor präsentiert zu einer Art afrikanischem Stehbass ein trauriges Lied: »Lasst die Bauern nicht ihr Land verlieren!« klagen drei ältere Männer. Schnitt. Ein Flugzeug landet nachts in Addis Abeba. An Bord der schwedische Regisseur Joakim Demmer. Er ist ans Horn von Afrika gekommen, um nach dem grünen Gold zu forschen oder besser gesagt, danach, wie es geschürft wird.

    Millionen Äthiopier sind auf Lebensmittelhilfe der UN und anderer Organisationen angewiesen. Gleichzeitig erzielen ausländische Investoren dort auf ihren riesigen Farmen mit modernen Methoden beste Ergebnisse und verkaufen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse gewinnbringend nach Europa, Nordamerika oder an den arabischen Golf. »Warum exportiert ein Land, in dem Millionen Menschen hungern, Lebensmittel in die Welt der Reichen, in unsere Welt?«, fragt Demmer fassungslos aus dem Off.

    Investoren haben die Landwirtschaft als ausgezeichnete Möglichkeit entdeckt, Gewinne zu erzielen. In den vergangenen Jahren haben die Lebensmittelpreise angezogen, ist die Nachfrage alleine durch das Anwachsen der Erdbevölkerung gestiegen. »Seit 2008 begannen institutionelle Anleger wie Versicherungen, Aktien- und Hedgefonds und Pensionskassen, Landwirtschaft als echtes Kapital zu betrachten«, lässt Demmer den Vermögensverwalter Paul McMahon aus New York erklären. So wie vorher Immobilien oder die Forstwirtschaft in den Fokus der Kapitalisten geraten sind.

    Der Agrarkonzern Saudi Star zum Beispiel lässt in Äthiopien Reis anbauen. Nicht zur Ernährung der darbenden Bevölkerung, der saudische Konzern produziert nicht für den heimischen Markt, angebaut wird Basmati. »Der ist sehr teuer«, gibt Farmmanager Bedilu Abera zu. »Der ist nur für die Reichen.« Demmers Kommentar: »Für Äthiopien, ein Land, in dem längst nicht jeder satt wird, ist das geradezu absurd.«

    Die äthiopische Regierung will Armut und Hunger bekämpfen, und setzt dabei auf ausländische Investoren, die eines Tages vier Millionen Hektar Ackerland bewirtschaften sollen. Demmer fährt gemeinsam mit dem äthiopischen Umweltjournalisten Argaw nach Gambela, wo Saudi Star den Boden pflügen lässt. Mitten in einem Naturschutzpark.

    Bulldozer kamen, um Wald zu roden, Kleinbauern mussten verschwinden. Demmer besucht sie in ihren Dörfern. »Wir hatten alles, was wir brauchten. Wir gingen in den Wald und fanden essbare Wurzeln«, erinnert sich Okello, einer von ihnen. »Wir ernteten im Wald Honig, den wir auf dem Markt verkauften, um Schulsachen für die Kinder zu kaufen. Wir führten früher ein gutes Leben.« Dann kam Saudi Star und beanspruchte das Land, die Behörden machten die Drecksarbeit. »Sie sagten, wir hätten kein Recht auf das Land. Wie konnten sie das sagen?« fragt Okello. Hier sind wir aufgewachsen, hier liegen unsere Ahnen begraben.«

    »Als die Saudi Star auftauchte, änderte sich alles«, bestätigt Kleinbäuerin Ajullu resigniert. Sie ist einer von 1,5 Millionen Menschen, die im Rahmen des Agrarinvestmentprogramms der äthiopischen Regierung umgesiedelt werden sollen. Während der Hungersnot in den 1980ern, als die ganze Welt entsetzt auf Äthiopien schaute, starben 400.000 Menschen. »Aber der Hunger ist nicht verschwunden«, sagt Argaw. »Millionen von Menschen sind heute auf Lebensmittelhilfe angewiesen.«

    Saudi Star gibt einigen der landlos gewordenen Bauern Arbeit auf der Großfarm. Als Tagelöhner. Ein Assistent der Saudi-Star-Farm lobt die sozialen Wohltaten seines Arbeitgebers in den höchsten Tönen, verweist auf Wohncontainer, in denen die Landarbeiter hausen. Der Konzern biete ihnen Essen und medizinische Versorgung. Es gibt einen Fußballplatz, bald vielleicht einen Swimmingpool. »Es ist sehr schön hier«, sagt der Mann, und glaubt: »Der Lebensstandard ist so hoch wie in Europa.«

    Widerspruch gegen die Investmentpolitik duldet die Regierung nicht. »Wenn man sich gegen die Investitionen ausspricht, wird man als Entwicklungsgegner gebrandmarkt«, sagt Umweltjournalist Argaw. »Und man kann sehr schnell im Gefängnis landen.« Er selbst wurde während der Dreharbeiten in der Provinzhauptstadt verhaftet. Bei der Freilassung riet ihm die Polizei, sich besser nicht mehr blicken zu lassen, wenn ihm sein Leben lieb sei. Argaw und Demmer müssen die Stadt Richtung Addis Abeba verlassen, Argaw schließlich sogar das Land.

    »Die Einheimischen haben beschlossen, die Sklaven dieser großen Investoren zu bleiben«, sagt ein Wildhüter des Nationalparks, der nun Ackerland wird. »Sie arbeiten nun als Tagelöhner auf dem Land, das einst das ihre war«, bemerkt der Film. Viele landlose Bauern flohen über die Grenze in den Südsudan, wo sie jetzt in Flüchtlingslagern leben. Die Stimmung nach dem Film beschreibt das Presseheft sehr gut: »Fassungslosigkeit über das Paradox machte bald einem anderen Gefühl Platz – Wut«.

  • 20.09.2021 12:46 Uhr

    Afrika im Fokus

    Die Bundesregierung will im Rahmen ihrer G-20-Präsidentschaft die Geschäftsbeziehungen zum südlichen Kontinent verbessern. Die Europäische Union drängt auf neue Freihandelsabkommen. Aber die lokalen Regierungen verhalten sich längst nicht mehr so willfährig, wie Diplomaten das bisher gewohnt waren
    Wolfgang Pomrehn
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    Nicht nur von seiten der Bevölkerungen sieht sich die EU mittlerweile mit Widerstand gegen die sogenannten Ökonomischen Partnerschaftsabkommen (EPA) konfrontiert. Auch die Regierungen vieler afrikanischer Ländern sind mittlerweile selbstbewusster geworden (Proteste vor dem Büro der Europäischen Union in Nairobi, Kenia, 24.1.2007)

    Die Bundesregierung hat sich während ihrer G-20-Präsidentschaft einiges vorgenommen. »Compact with Africa« (Partnerschaft mit Afrika) nennt sie eine Initiative, mit der die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Kontinent ausgebaut werden sollen. Die Erwartungen sind groß. »Der Afrika-Fokus der deutschen G-20-Präsidentschaft bietet eine historische Chance, die Rahmenbedingungen auf dem afrikanischen Kontinent Schritt für Schritt zu verbessern und so die Entwicklung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln voranzutreiben«, meinte Mitte Juni in Berlin Stefan Liebing, seines Zeichens Vorsitzender des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft.

    Den Mann treibt offenbar eine gewisse Torschlusspanik um: »Im September wird in Deutschland gewählt, und im nächsten Jahr gibt Deutschland die G-20-Präsidentschaft an Argentinien ab. Wenn es bis dahin nicht gelungen ist, die Rahmenbedingungen für Geschäfte in und mit Afrika signifikant zu verbessern, dann wäre die Chance für erfolgreiches Wachstum in Afrika mit deutscher Beteiligung eindeutig vertan.« Hört sich ganz so an, als fürchtet da jemand, beim Rennen um die Logenplätze zu kurz zu kommen.

    Konkurrent China

    Einer der Gründe für diese Eile ist sicherlich die Angst vor der chinesischen Konkurrenz. Westeuropa und die USA hatten in den 1980er und 1990er Jahren die afrikanischen Länder mit Hilfe des Schuldenregimes des Internationalen Währungsfonds solange ausgeblutet, bis der Kontinent im Welthandel vollkommen marginalisiert war. Im Gegensatz dazu baut die chinesische Regierung seit knapp zwei Jahrzehnten ihre Beziehungen mit den »Parias« nach und nach auf. Gemeinsame Erfahrungen im Kampf gegen die einstigen Kolonialmächte waren dabei sicherlich hilfreich. China hat zum Beispiel der Afrikanischen Union 2012 in Addis Abeba ein neues Hauptquartier gebaut und seinen Handel mit der Region von rund zwei Milliarden US-Dollar im Jahre 2000 auf 220 Milliarden Dollar im Jahre 2014 verzwanzigfacht.

    Seit 2009 ist die Volksrepublik für die meisten afrikanischen Länder noch vor der EU und den USA der wichtigste Handelspartner. Chinesische Unternehmen werden mit der tatkräftigen Unterstützung ihrer Regierung auf dem Kontinent immer aktiver. Rund eine Million chinesische Geschäftsleute leben derzeit zwischen Mittelmeer und Kap der Guten Hoffnung. Chinesische Unternehmen bauen Eisenbahnen in Äthiopien, Nigeria und Kenia, rüsten nordafrikanische Staaten mit Mobilfunknetzen aus und errichten Windkraftanlagen in Nigeria, Südafrika und Äthiopien.

    Noch liegen die kumulierten Investitionen der EU und der USA weit vor den chinesischen, aber der Abstand verkleinert sich zunehmend. Im Jahre 2000 machte Chinas in Afrika angelegtes Kapital nur zwei Prozent des dortigen US-Kapitalstocks aus. Im Jahre 2014 waren es bereits 55 Prozent. Laut des Anfang Juni veröffentlichten »World Investment Reports« der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) stieg das Inventar der US-amerikanischen Investitionen in Afrika von 55 Milliarden US-Dollar im Jahre 2010 moderat auf 64 Milliarden US-Dollar im Jahre 2015. Im gleichen Zeitraum legte der Bestand chinesischer Investitionen um 170 Prozent von 13 auf 35 Milliarden US-Dollar zu. Damit ist die Volksrepublik zur Zeit noch die Nummer vier hinter den USA, Großbritannien und Frankreich, dürfte sich aber bei diesem Tempo schon bald an die Spitze der Investoren auf dem Kontinent gesetzt haben.

    Offenbar hat ein regelrechtes Wettrennen um die Gunst der afrikanischen Länder eingesetzt. In vielen von ihnen ist die Wirtschaft in den letzten Jahren kräftig gewachsen. Zum Teil war dies das Ergebnis eines Rohstoffbooms, der inzwischen abgeebbt ist. Unter anderem aufgrund der seinerzeit stark ansteigenden Nachfrage Chinas war der seit den 1970er Jahren anhaltende Preisverfall für Kupfer- und Eisenerz, Bauxit und viele andere Mineralien aufgehalten worden und hatte zeitweise deren Exporteuren seit Mitte des letzten Jahrzehnts reichlich die Kassen gefüllt. Insbesondere hatten auch die Erdölexporteure wie Angola und Nigeria profitiert, wobei der plötzliche Reichtum allerdings der nachhaltigen Entwicklung der heimischen Wirtschaft eher geschadet hat.

    Auch andere, weniger mit natürlichen Ressourcen gesegnete Länder haben ein beachtliches Wachstum hingelegt. Allen voran das an mineralischen Rohstoffen eher arme Äthiopien, eines der bevorzugten Zielländer chinesischer Investitionen. Das Land erlebt seit 2003 einen anhaltenden Boom mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von etwas mehr als zehn Prozent. Zwischen 2000 und 2015 hat sich dort das Bruttonationaleinkommen annähernd verzehnfacht. Umgerechnet auf die Einwohner, ist es in dieser Zeit von 100 auf 590 US-Dollar pro Kopf und Jahr gestiegen. Deutlich aufwärts geht es auch in einigen anderen ostafrikanischen Ländern wie Kenia und Tansania. Allerdings betrug das Wachstum dort meist nur um die sechs Prozent und brach öfter ein.

    In den letzten beiden Jahren war die Entwicklung auf dem Kontinent durchwachsen. Besondere Probleme haben derzeit hingegen die Rohstoffländer, die mit den niedrigen Preisen für ihre Ausfuhren zu kämpfen haben. Deutlich besser ergeht es hingegen Ländern wie Äthiopien (plus 8,3 Prozent), Tansania (7,2 Prozent), Côte d’Ivoire (6,8 Prozent) und Senegal (6,7 Prozent), die allesamt nicht auf den Export mineralischer Rohstoffe fixiert sind. In Klammern jeweils die Wachstumserwartungen der Weltbank für 2017.

    Insgesamt erwartet die Weltbank für die Staaten südlich der Sahara in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent und für 2018 von 3,2 Prozent. Angesichts des weiter hohen Geburtenüberschusses in der Region genügt das kaum, um das – bescheidene – Wohlstandsniveau zu halten. Die momentanen Wachstumsraten, so die Bank in einem Anfang Juni veröffentlichten Ausblick, reichen nicht aus, um die Armut zu verringern.

    Bleibt außerdem die Frage, wer in den besser dastehenden Ländern im einzelnen vom wirtschaftlichen Segen profitiert. Die seit dem Ende des letzten Jahres anhaltenden Unruhen in Äthiopien zum Beispiel deuten eher auf wachsende Ungleichheit, zumindest aber auf Streit um die Verteilung hin. Entzündet hatten sie sich an Plänen, die Landeshauptstadt Addis Abeba auszudehnen. Einwohner, die dafür weichen müssten, beschweren sich über aus ihrer Sicht mangelhafte Entschädigung. Alte ethnische Rivalitäten und ein äußerst autoritärer Regierungsstil trugen ein übriges zur Eskalation bei.

    Großes wirtschaftliches Potential

    Wie dem auch sei, ganz anders als in den beiden verlorenen Jahrzehnten Ende des 20. Jahrhunderts zeigt Afrika heute ein enormes Potential. Zur ökonomischen Dynamik kommt dabei noch das Bevölkerungswachstum hinzu, was zusammengenommen den Kontinent – sollten endlich seine zahlreichen Konflikte eingedämmt werden – nach China und Indien zur übernächsten Lokomotive der kapitalistischen Entwicklung machen könnte. 2014 lebte jeder sechste Erdbewohner in Afrika, 2050 wird es nach den Prognosen der Vereinten Nationen vermutlich jeder vierte sein.

    Diesen vielversprechende Markt hat auch die deutsche Wirtschaft fest ins Visier genommen. Insbesondere erhoffen sich hiesige Hersteller aktuell den Einstieg in die Energieversorgung. Auch hier haben derzeit chinesische Unternehmen die Nase vorn. Im vergangenen Jahr berichtete die Internationale Energieagentur IEA, dass die Volksrepublik gegenwärtig für ein Drittel aller Kraftwerksneubauten südlich der Sahara verantwortlich sei.

    Dort ist noch immer mehr als eine halbe Milliarde Menschen ohne Zugang zum Stromnetz, und in vielen Dörfern wird es sicherlich noch lange so bleiben. Denn aufgrund der überwiegend dünnen Besiedlung vieler Länder ist eine zentralisierte Versorgung meist besonders aufwendig. Abhilfe versprechen jedoch Insellösungen mit Solaranlagen. Die sind inzwischen selbst mit Akkuspeicher so billig, dass sie die günstigste Lösung darstellen. Kostspielige Importe für den Treibstoff von Dieselgeneratoren werden dadurch überflüssig, und viele Menschen, die bisher einen erheblichen Teil ihres Einkommens für Lampenkerosin ausgegeben haben, können dieses nun anders verwenden.

    Derlei Solaranlagen sind allerdings eher kleinteilige Geschäfte, an denen weder deutsche noch chinesische Konzerne ein Interesse haben. Großunternehmen bauen lieber Staudämme wie verschiedene chinesische Firmen am Blauen Nil in Äthiopien oder Gaskraftwerke wie die deutsche Siemens AG in Ghana. Doch noch ist man nicht mit dem Marktzugang zufrieden. »Für den Aus- und Umbau des afrikanischen Energiesektors muss allerdings die Beteiligung privater Investoren am Energiemarkt leichter, sicherer und finanziell attraktiver werden. (…) Die Bundesregierung ist zwar sicher guten Willens – aber immer noch viel zu defensiv«, tadelte Ende April der Afrika-Vereinsvorsitzende Liebing.

    Ihm schwebt analog zu den Hermesbürgschaften für Exporte in Entwicklungsländer unter anderem eine Risikoabsicherung für Entwickler von Energieprojekten vor. Außerdem brauche es »neue Finanzierungs- und Garantieinstrumente«, damit deutsche Unternehmer »den Schritt nach Afrika wagen«, um »die Energiewende zu exportieren«.

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    China ist schon seit langem der wichtigste Wirtschaftspartner vieler afrikanischer Länder und schickt sich an, die USA, Großbritannien und Frankreich bald auch hinsichtlich der Direktinvestitionen zu überholen (Neubau der Eisenbahnstrecke Nairobi­­–Mombasa in Kenia, die kürzlich fertiggestellt wurde, Aufnahme vom 15.10.2015)

    Dabei ist die Bundesregierung durchaus willig. Seit Jahren ist sie wie ihre Vorgängerinnen im Rahmen der Europäischen Union eine der treibenden Kräfte hinter den Verhandlungen über die sogenannten Ökonomischen Partnerschaftsabkommen (EPA). Seit 2007 diskutiert die EU mit zahlreichen Entwicklungsländern über diese Abkommen, die das alte System der Wirtschaftsbeziehungen mit den AKP-Staaten ablösen sollten.

    Bei den AKP-Staaten handelt es sich um 79 überwiegend afrikanische und karibische Staaten sowie die meisten pazifischen Inselstaaten. In der Regel geht es um ehemalige französische und britische Kolonien. Bis 2000 waren sie mit der EU durch die sogenannten Lomé-Verträge verbunden. Seit 2000 bildet das Cotonou-Abkommen den neuen Rahmen. Unter anderem hat der neue Vertrag die bisherigen Privilegien für Agrarexporte aus den AKP-Staaten in die EU 2007 auslaufen lassen. Die Handelsbeziehungen sollen künftig durch die EPAs geregelt werden, die die EU mit den Ländern einzeln bzw. mit regionalen Gruppen aushandelt.

    Sehr weit ist sie damit aber noch nicht gekommen. Zum Teil schleppen sich die Gespräche schon seit zehn Jahren hin. Wie es aussieht, haben die Europäer mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein vieler afrikanischer Regierungen zu kämpfen, die sich inzwischen regelrecht umworben fühlen können. China bringt derzeit mit seiner Initiative »One Belt, One Road« (auf deutsch oft »neue Seidenstraße«) ein umfassendes Programm auf den Weg, um in Zentral-, Süd- und Westasien sowie in Ostafrika die Infrastruktur zu erneuern und die Voraussetzungen für einen intensivierten Warenaustausch zu schaffen. Beijing hat dafür bereits einen 100 Milliarden US-Dollar umfassenden Fonds geschaffen, insgesamt ist von einer Billion US-Dollar die Rede, die für zahllose Projekte mobilisiert werden soll.

    Da wollen andere nicht zurückstehen. In­dien, das sich aus alter Rivalität nicht an Chinas Plänen beteiligen mag, versucht gemeinsam mit Japan ein eigenes Investitionsprogramm für die Region rund um den Indischen Ozean auf die Beine zu stellen. Ende Mai hatte Indiens Premierminister Narendra Modi das Jahrestreffen der Afrikanischen Entwicklungsbank genutzt, um seine Initiative, den »Asia Africa Grow th Corridor« (Asiatisch-afrikanischer Wachstumskorridor), zu verkünden. Unter anderem versprach er als ersten Schritt, afrikanischen Ländern Kreditlinien im Umfang von zehn Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen.

    Teile und herrsche

    Bei soviel Interesse am Ausbau der jeweiligen Handelsbeziehungen, günstigen Krediten und am Ausbau von Häfen, Eisenbahnen und Flughäfen haben es die afrikanischen Staaten inzwischen leichter, wählerisch zu sein. Deshalb mussten die EU-Handelsdiplomaten etwas konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass Tansania Nachverhandlungen im EPA der Ostafrikanischen Gemeinschaft mit der EU fordert. Gemeinsam mit Uganda und Burundi verweigert Tansania die Ratifizierung des Vertrags.

    Die anderen beiden Mitglieder der Gemeinschaft, Ruanda und Kenia, haben diesen Schritt hingegen getan. Kenia war dazu vor knapp drei Jahren regelrecht erpresst worden. Weil Nairobi sich zunächst weigerte, seine Unterschrift unter den Vertrag zu setzen, hatte die EU zum 1. Oktober 2014 Einfuhrzölle auf kenianische Schnittblumen und andere Produkte erlassen. Daraufhin kam es in dem ostafrikanischen Land zu Massenentlassungen. 160.000 Jobs sollen betroffen gewesen sein. Kenias Exporteure hätten bis zu gut drei Millionen Euro an Einfuhrzöllen im Monat auf ihre Waren entrichten müssen, berichtete seinerzeit das Afrika-Programm des US-Senders CNBC. Nairobi knickte nach nur zwei Wochen ein und unterschrieb.

    Doch die tansanische Regierung ist sturer. Die unterschiedlichen Haltungen zur Frage des Abkommens sorgen inzwischen für reichlich Spannungen innerhalb der Ostafrikanischen Gemeinschaft, zumal die Europäer weiter mit Zöllen auf Kenias Agrarprodukte drohen. Der letzte Gipfel der Gemeinschaft, der schließlich im Mai stattfand, war wegen dieser Frage mehrfach verschoben worden. Trotz aller Behauptungen, die Entwicklung Afrikas zu unterstützen, hintertreibt die EU mit ihrer Politik offensichtlich die dortige regionale Integration. Zu erkennen ist das schon an der Tatsache, dass nicht mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft als Ganzer verhandelt wird, sondern einzelne Länder unter Druck gesetzt werden.

    Seit 2007 gilt zwischen den sehr ungleichen Wirtschaftsblöcken ein Übergangsabkommen, das die zoll- und quotenfreie Einfuhr von Agrarprodukten aus Ostafrika in die EU ermöglicht, im Prinzip eine Fortschreibung der Lomé-Abkommen. Das EPA sieht die weitere Fortschreibung dieser Regelung vor. Im Gegenzug sollen die ostafrikanischen Staaten ihre Märkte für knapp 83 Prozent der Einfuhren aus der EU öffnen und alle Zölle und Gebühren für diese Waren schrittweise abschaffen. Die Ostafrikanische Gemeinschaft, die eine Zollunion bildet und gemeinsame Außenzölle eingeführt hat, könnte ernsthaft gefährdet werden, sollte Kenia EU-Importe zollfrei ins Land lassen, während andere Mitglieder weiter Zölle erheben.

    Den tansanischen Präsidenten John Pombe Magufuli treiben daher ähnliche Sorgen wie viele Ökonomen Afrikas um. Günstige Industriewaren aus hochentwickelten Staaten könnten eine eigenständige Industrialisierung verunmöglichen. Das Internetportal euractive.de zitierte im Oktober 2014 anlässlich der Verhandlungen zwischen der EU und Kenia entsprechend den zuständigen UN-Wirtschaftsexperten für Ostafrika, Andrew Mold: »Die afrikanischen Länder können mit einer Wirtschaft wie der deutschen nicht konkurrieren. Das führt dazu, dass durch den Freihandel und die EU-Importe bestehende Industrien gefährdet werden und zukünftige Industrien gar nicht erst entstehen, weil sie dem Wettbewerb mit der EU ausgesetzt sind.«

    Auch in Westafrika geht es mit den EPA-Verhandlungen nicht recht voran. Dort stellt sich vor allem Nigeria quer. Dessen Regierung weigert sich standhaft, das sogenannte Partnerschaftsabkommen zwischen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und der EU zu unterzeichnen. Das Abkommen liegt damit für unbestimmte Zeit auf Eis. Die ECOWAS umfasst die westafrikanischen Küstenländer zwischen Nigeria und Senegal sowie Mali, Niger und Burkina Faso.

    Verhandlungen auf Augenhöhe?

    Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht inzwischen einzulenken, vermutlich weil sie befürchtet, dass die Wirtschaftsbeziehungen darunter leiden könnten und deutsche Unternehmen im Rennen um die Infrastrukturprojekte den Kürzeren ziehen. Das Cotonou-Abkommen, das den Rahmen für die EPAs bildet, läuft ohnehin zum Ende des Jahrzehnts aus. Im Februar 2020 ist Schluss, und die EU bereitet sich bereits auf Verhandlungen für ein Nachfolgeabkommen vor.

    Vor diesem Hintergrund versprach die Bundeskanzlerin Mitte Juni, dass einige Verträge nachverhandelt werden müssten. Einige von ihnen seien »nicht in Ordnung«, wurde sie von Nachrichtenagenturen zitiert. Die Äußerungen fielen bei einem Treffen mit europäischen und afrikanischen Nichtregierungsorganisationen im Vorfeld des Hamburger G-20-Gipfels. Sowohl hiesige Entwicklungsorganisationen als auch zahlreiche Gruppen aus diversen afrikanischen Ländern hatten seit 2007 die EPAs wegen der einseitigen Vorteile für Exporteure aus der EU massiv kritisiert. Merkel versprach nun, die Nachverhandlungen im Herbst zum Thema auf dem geplanten Gipfel von EU und Afrikanischer Union zu machen.

    Auch danach werden die Gespräche sicherlich weitergehen, und vielleicht gar nicht mehr so sehr über die alten EPAs, die in einem selbstbewussteren Afrika ohnehin kaum noch durchzusetzen sein werden. Vermutlich müssen sich die EU-Unterhändler, geschwächt durch den anstehenden Austritt Großbritanniens, auf afrikanische Diplomaten einstellen, die über die Zeit nach dem Cotonou-Abkommen auf Augenhöhe sprechen wollen.

    Ob die EU darauf gut vorbereitet ist, erscheint allerdings eher fraglich. Davon zeugt auch die Wahl ihres Chefunterhändlers Pascal Lamy für diese neuen Verhandlungsrunden. Dem französischen Diplomaten und Mitglied der dortigen Sozialdemokraten kann man manches nachsagen, aber sicherlich nicht, dass er für die afrikanischen NGOs ein Sympathieträger wäre. Von 2005 bis 2013 war er Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO und davor EU-Handelskommissar. Als solcher hatte er Ende der 1990er Jahre vergeblich versucht, die EU-Interessen in puncto Ausdehnung der WTO-Befugnisse und Verträge sowie Schutzprivilegien für europäische Konzerne bei deren Operationen in den Ländern des Südens durchzusetzen. Schon möglich, dass sich noch der eine oder andere afrikanische Diplomat daran erinnern wird, dass Lamy ein Mann mit der Brechstange ist. Gleichberechtigung unter den Staaten war ihm in den multilateralen Verhandlungen ziemlich lästig, Verabredungen traf er lieber in kleiner Runde, um diese dann dem Rest der Länder als vollendete Tatsachen vorzusetzen. Im US-amerikanischen Seattle biss er sich damit 1999 auf dem legendären WTO-Gipfel an der unnachgiebigen Haltung der afrikanischen Länder die Zähne aus.

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