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Blog

  • 20.09.2021 12:31 Uhr

    Rosa heute

    Susanne Jansen als Rosa Luxemburg
    Regisseurin Anja Panse geht es im Stück »Rosa – trotz alledem« um den Zustand unserer heutigen Gesellschaft
    Arne van Dorsten als Karl Liebknecht, Annegret Enderle am Piano
    Die fiktive Gründung des Spartakusbundes: Susanne Jansen als Rosa Luxemburg und Arne van Dorsten als Karl Liebknecht
    Schnapsgeschwängerter Dialog: Arne van Dorsten als Karl Liebknecht

    Es ist ein Theaterstück von fast erschreckender Aktualität: »Rosa – Trotz alledem«. Die Regisseurin Anja Panse stellte auf der Bühne der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz Ausschnitte dieses Projekts vor – die Schauspieler Susanne Jansen und Arne van Dorsten in den Rollen von Luxemburg und Liebknecht, am Piano Annegret Enderle. »Solange das Kapital herrscht, werden Krieg und Rüstung nicht aufhören«, rief Jansen unter Szenenapplaus ins Publikum. Es folgte ein fiktiver, schnapsgeschwängerter und entsprechend witziger Dialog, während dem die beiden Revolutionäre die Gründung des Spartakusbundes beschließen. Beendet wurde die kurze Darbietung schließlich mit einem Lied von Luxemburgs Lieblingskomponisten Hugo Wolf.

    Anja Panse geht es in ihrem Stück um den Zustand unserer Gesellschaft. »Wo ist unsere Position heute? Darüber wird nach jeder Vorstellung rege zwischen den Akteuren und dem Publikum diskutiert«, erklärte sie im Gespräch mit jW. Das macht Appetit auf mehr: »Rosa – Trotz alledem« wird in voller Länge am 27. und 28. Januar, am 15. und 16. Februar sowie am 15. und 16. März im Theater unterm Dach in Berlin aufgeführt.

  • 20.09.2021 12:31 Uhr

    Solidarität mit Mumia Abu-Jamal und Oury Jalloh

    Die Solidaritätsgruppen für Oury Jalloh und für Mumia Abu-Jamal informieren über ihren Kampf
    Mamadou Saliou Diallo (l.), Bruder von Oury Jalloh, schildert das Leid seiner Familie. Mouctar Bah übersetzt ins Deutsche
    Eine Sprecherin des Free-Mumia-Bündnisses
    Nadine Saeed von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh
    Oury Jallohs Tod in einer Dessauer Polizeizelle war kein Selbstmord. Wer genau ihn ermordete ist bis heute unklar.
    Im Namen seiner ganzen Familie bedankte sich Mamadou Salion Diallo für die Unterstützung bei der Aufklärung von Jallohs Tod.

    Die Solidaritätsgruppe Mumia Abu-Jamal klärte die Konferenz über die aktuelle Lage des politischen Gefangenen auf. Obwohl Jamal immer seine Unschuld beteuerte, wurde er 1982 zum Tode verurteilt, weil er einen Polizisten ermordet haben soll. Eine Vertreterin der Gruppe berichtete von ihrem Besuch in der US-amerikanischen Stadt Philadelphia, wo die örtliche afroamerikanische Gemeinde unter anderem für den Abriss von Denkmälern der Sklaverei-Ära kämpft. »Das US-Finanzministerium berichtete, dass heute mehr schwarze Amerikaner Zwangsarbeit in Gefängnissen leisten als zur Hochzeit der Sklaverei«, wie das Publikum erfuhr. Es herrsche eine unheilige Allianz aus Polizei, Justiz und Gefängnisindustrie.

    Mumia Abu-Jamal hat in seiner Kolumne in der Tageszeitung junge Welt und auch auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz immer wieder über Gefängnissklaverei und anderes Unrecht berichtet. Seine Unterstützer kämpfen bis heute für eine angemessene medizinische Versorgung und für die Freilassung Jamals. In seiner fünfminütigen Botschaft grüßte der schwerkranke Journalist aus seiner Zelle die Konferenz. Jamal erzählte von den Aktivisten der Bewegung »Black Lives Matter«, die eine entscheidende Rolle im Kampf gegen staatliche Repression spielen. Anders als die Bürgerrechtsbewegung des Martin Luther King werden die Bewegungen des schwarzen Widerstands mehr und mehr multiethnisch und multikulturell getragen. Intersektionalität sei das Thema der Stunde, so Jamal.

    Anschließend ergriff der Bruder des 2005 in einer Dessauer Polizeizelle ums Leben gekommenen Oury Jalloh, Mamadou Saliou Diallo, das Wort. Mit der Unterstützung von Mouctar Bah als Übersetzer rief Diallo das gesamte Saalpublikum zu einer Schweigeminute für seinen toten Bruder auf. Er bedankte sich für die Unterstützung der Kampange »Oury Jalloh – Das war Mord!« und wünscht sich, dass niemand der Anwesenden jemals solches Leid ertragen muss, wie er und seine Familie es verspüren.

  • 20.09.2021 12:32 Uhr

    Eigener Entwicklungsweg

    Ding Xiaoqin
    Ding Xiaoqin, jW-Redakteur Sebastian Carlens (l.) und der stellvertretende Chefredakteur Arnold Schölzel

    Ding Xiaoqin, Professor für Finanzen und Wirtschaft an der Universität Shanghai, referierte über die Handelsbeziehungen zwischen China und Afrika. Das große Engagement Beijings auf dem Kontinent habe die Aufmerksamkeit des Westens auf sich gezogen. USA und Europäische Union hätten immer wieder Druck auf Länder ausgeübt, die mit China Handel treiben. »Es ist ein heißes Thema auf der internationalen Bühne«, sagte Ding.

    In Afrika und China sei man sich seiner gemeinsamen Geschichte bewusst: »Sowohl China als auch Afrika wurden vom Westen unterdrückt.« Für die chinesische Regierung gelte heute der Grundsatz: »Alle Völker haben ihren eigenen Entwicklungsweg.« Im Rahmen der »One Belt – one Road«-Initiative wolle Beijing 60 Milliarden Dollar bis 2036 in Projekte auf dem afrikanischen Kontinent investieren. Die Beziehungen wurden mit dem »Forum on China–Africa Cooperation« in einen institutionellen Rahmen gegossen.

    Doch der intensive Handel bringe auch Probleme. Es herrsche ein wirtschaftliches Ungleichgewicht: Beijing importiere vor allem Rohstoffe, während afrikanische Staaten Industrieprodukte aus China bezögen. Durch chinesische Importe werde die lokale Produktion unter Druck gesetzt. »Die Zukunft der Welt liegt in den Händen aller Länder«, sagte Ding unter dem Applaus des Publikums.

  • 20.09.2021 12:32 Uhr

    Das Material sprechen lassen

    Wie interveniert man mit Kunst ins herrschende Produktionssystem? Fragte Susann Witt-Stahl den Künstler Ibrahim Mahama
    Mahama antwortete: Man muss die Spannungen sichtbar machen....
    ...zwischen dem weltweiten Kapital...
    ... und den Menschen vor Ort!

    Ibrahim Mahama ist zur Zeit einer der weltweit am meisten gefragten Künstler. Er kommt gerade aus New York, um eine Zeitlang in Berlin zu arbeiten. Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz wurde er von Susann Witt-Stahl interviewt. Sie ist die Chefredakteurin der Melodie & Rhythmus, in deren aktuellem Heft er einen Text veröffentlicht hat unter dem Titel »Interventionen ins herrschende Produktionssystem«. Witt-Stahl bat Mahama, das noch einmal zu erläutern.

    Mahama sagte, er möchte spezifisches historisches Material dekonstruieren. Er wurde in Ghana geboren, das 1957 von den Briten unabhängig wurde. Der erste Präsident war der Marxist Kwame Nkrumah mit guten Kontakten zum Realsozialismus, weshalb in der Architektur Ghanas britische Kolonialbauten auf Funktionsbauten osteuropäischer Prägung treffen. Besonders imposant: große Betonsilos für landwirtschaftliche Produkte, die heute leer sind. Ebenso die Fabrikhallen, in denen ghanaische Arbeiter früher Eisenbahnzüge bauten, mit denen die Briten das Land besser ausbeuten konnten. In diesen leeren Hallen ließ Mahama nun Jutesäcke, in denen die Produkte des Landes transportiert werden, zusammennähen – zu riesigen Planen, die er wie einen Vorhang über diese Gebäude wirft.

    Er möchte so in Dialog mit dem Material als auch mit anderen Künsten treten, erzählte er. Für die 14. Documenta im vergangenen Jahr breitete er eine solche riesige Decke aus Jutesäcken in Athen auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament aus. Er wolle »die Spannungen« zwischen dem internationalen Kapital und den Menschen vor Ort sichtbar machen, äußerte Mahama. Erst bedeckten die Jutesäcke den Boden des Syntagma, dann zog Polizei auf.

  • 20.09.2021 12:32 Uhr

    »Afrika-Werdung« der Welt

    »Schlüsselrolle Afrika«: Achille Mbembe
    Der stellvertretende jW-Chefredakteur, Arnold Schölzel, stellt Achille Mbembe vor
    »Größte Frage unserer Zeit«: Achille Mbembe
    Achille Mbembe signiert am jW-Stand sein Buch »Politik der Feindschaft«

    Das Reden über Afrika sei gewohnheitsmäßig von Irrationalität und Verantwortungslosigkeit geprägt, konstatierte der Philosoph und Historiker Achille Mbembe zu Beginn seines Referats. Wenn der US-Präsident den Kontinent nun in einem Atemzug mit Haiti und El Salvador als »Shithole of the world« (Drecksloch der Welt) bezeichnet habe, sei man dennoch verwundert über die entmenschlichende Kraft einer solchen Äußerung. Zumal getan von einem Mann mit gewaltiger Macht, der im Verdacht stehe, »Shithead of the world« (Scheißkerl der Welt) zu sein. Es sei zu befürchten, dass dieser sehr gewalttätige Mann ein lebendiges Beispiel für alles Falsche in der liberalen Demokratie als politischer Form sei, für Rassismus, Klassenschranken, Sexismus usw.

    Für die Zukunft unseres Planeten spiele Afrika eine Schlüsselrolle, erklärte Mbembe, der 1957 in Kamerun geboren wurde und heute als Professor in Johannesburg (Südafrika) lehrt. Ihm zufolge droht eine »Afrika-Werdung« der Welt mit immer kleineren Wohlstandsinseln und immer größeren Elendsgebieten voller entrechteter Tagelöhner. »Afrika ist der Ort, von dem aus man die größte Frage unserer Zeit am besten stellen kann«, sagte er auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz, »die Frage nach der Zukunft des Lebens auf unserem Planeten«.

  • 20.09.2021 12:25 Uhr

    An der Seite der Palästinenser und der Minderheiten

    Adel Amer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Israels, am Samstag auf der Konferenz

    Adel Amer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Israels, richtete ein Grußwort an die Konferenzteilnehmer und würdigte das politische Wirken der Namensgeberin der Tagung. Rosa Luxemburg sei Symbol sowohl für den Kampf gegen Kolonialismus und Unterdrückung als auch für das »bessere Leben«, in dem Gleichberechtigung und Gleichheit herrschen sollen. Amer kritisierte die kürzlich erfolgte Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch US-Präsident Donald Trump scharf. Sie zeige, dass die Vereinigten Staaten nie ein ehrlicher Makler zwischen den Parteien gewesen seien, sondern immer an der Seite der herrschenden Politik in Israel gestanden hätten.

    Die gegenwärtige Politik der in Israel herrschenden rechten Zionisten um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu richte sich mit wachsender Aggressivität gegen alle fortschrittlichen und oppositionellen Kräfte auch innerhalb des Landes, konstatierte der KP-Generalsekretär. Es gehe sowohl um die »Annexion neuer Kolonien auf palästinensischem Boden« als auch um die zunehmende Unterdrückung der arabischen Minderheit in Israel, sagte er mit Blick auf die israelische Siedlungspolitik.

    Netanjahus Administration habe alles getan, um eine Zweistaatenlösung und damit ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern unmöglich zu machen. Seine Partei sehe es als ihre Hauptaufgabe an, gemeinsam mit allen fortschrittlichen Kräften der Region für eine Lösung in dieser Richtung zu streiten. Zugleich müsse alles dafür getan werden, die herrschende reaktionäre Politik zurückzudrängen, die einen »zunehmend faschistischen Charakter« habe. Für diesen Kampf brauchten die israelische Linke wie auch das palästinensische Volk die Unterstützung aller fortschrittlichen Kräfte weltweit.

  • 20.09.2021 12:32 Uhr

    Streifzug durchs »Café K«

    Liegen im Trend: Herzhaftes gibt es bei den Genossinnen der DKP aus Hessen
    Für Friedhelm und seine Mitstreiter am Kuchenstand gab es heute immer viel zu tun
    Andrang: Auf den Fluren im Moabiter Mercure-Hotel wurde es manchmal eng
    Josefina im roten Kleid und Peter (links neben ihr) finden die Inhalte der Konferenz wichtig. Ihre Freunde aus Stuttgart (im Hintergrund) wissen, dass sie auch finanziell aufwendig ist
    Mela und Inka (rechts) sind gemeinsam auf die Konferenz gekommen. Für Inka ist es das erste Mal, aber vielleicht nicht das letzte

    Lange Schlangen vor dem »Café K«: Auch am frühen Abend stehen noch viele Gäste der Konferenz bis in den Gang hinaus am Kuchenstand, den die DKP in einem der Säle des Konferenzortes betreibt, an. Friedhelm berichtet, dass sich seit dem Nachmittag das Interesse allmählich von Kaffee und Kuchen hin zu Herzhaftem bewegt.

    Also wechseln wir dorthin, wo belegte Brötchen und Frikadellen, der Berliner sagt Buletten, im Angebot sind. Als solche zu erkennen sind die flachen Fleischfladen nicht, doch schmecken sollen sie. Das versprechen die Frauen und Männer hinter der Theke, die allesamt aus Hessen zur Konferenz in die Hauptstadt gekommen sind.

    Wir hören uns bei einer kleinen Gruppe um, die sich an einem der Stehtische versammelt hat. Josefina stammt ursprünglich aus Kubas Hauptstadt Havanna. Wie ihr Mann Peter, der derzeit am Frauenhofer-Institut in Berlin arbeitet, ist sie zum ersten Mal auf der Konferenz. Die gefällt ihnen gut, vor allem Afrika als Schwerpunkt finden sie sehr wichtig und interessant. Eigentlich wohnen sie in Valbonne im Südosten Frankreichs. Zur Konferenz meint Peter noch, dass die Vorträge etwas zu lang seien und es mehr Zeit für Diskussionen mit dem Publikum geben sollte. Aus der Gruppe wird außerdem angemerkt, dass es ziemlich viel Gedränge gebe. Aber noch größere Veranstaltungsräume seien natürlich auch eine Kostenfrage für die junge Welt. Alle wollen sie nächstes Jahr unbedingt wieder dabei sein.

    Auf dem Weg zurück in den Presseraum hinter der Bühne treffen wir auf dem Flur auf Inka aus Berlin und Mela aus Barcelona. Für Inka ist der Besuch der Konferenz eine Premiere. Ihre Freundin hat sie mit hierher genommen. Sie trafen erst am Nachmittag ein und haben so nur einen Teil des Programms erlebt. Beide wünschen sich auch mehr Zeit für Debatten mit den internationalen Gästen. Außerdem, dass es bei den kulinarischen Angeboten mehr Vielfalt und vor allem auch vegetarische und vegane Alternativen gibt. Nun sind sie gespannt auf das, was der Konferenzabend noch bringt.

  • 20.09.2021 12:33 Uhr

    Protest auf der Bühne

    Im Anschluss an Achilles Mbembes Referat betraten überraschend einige iranische Oppositionelle die Bühne. Sie nahmen für mehrere Minuten außerplanmäßig das Podium in Besitz, um auf die Verhältnisse und die Unterdrückung sozialer Proteste in ihrem Land aufmerksam zu machen. Sie entrollten Transparente und verlasen Erklärungen über ein eigenes Mikrofon. Rufe »Hoch die internationale Solidarität!« waren von ihnen und auch aus dem Publikum zu hören. Nach einigen Minuten wurden sie von der Konferenzleitung von der Bühne gebeten. Das geplante Programm konnte danach fortgesetzt werden.

  • 20.09.2021 12:25 Uhr

    Lyrikbeitrag von Faten El-Dabbas

    El-Dabass’ Gedicht »Kein Märchen aus tausend und einer Nacht« ...
    ... erzählt vom Streben nach Freiheit und dem Wunsch, Not und Elend zu entkommen
    Großer Applaus für das dichterische Talent von Faten El-Dabass

    Faten El-Dabbas stellte ihren Text »Keine Märchen aus tausend und einer Nacht« vor aus dem Buch, das sich Besucher im Anschluss von der palästinensischen Dichterin signieren lassen konnten. Ihr vorgetragenes Gedicht handelt von Freiheit und wie es sich in einem Land ohne sie leben lässt. Bildgewaltig und eindrucksstark beschreibt El-Dabbas eine Heimat in den von Israel besetzten Gebieten ohne ein wundersames Entkommen, wie man es aus den überlieferten Märchen des Orients kennt. Vom Publikum gab es langanhaltenden Beifall für die junge Spoken-Word-Künstlerin.

  • 20.09.2021 12:25 Uhr

    Solidarität üben. Die Podiumsdiskussion

    Fluchtursache Nummer eins ist der globale Kapitalismus. Die Kriege des Westens und seine Waffenexporte, die rücksichtslose Ausbeutung und die Ausplünderung ganzer Länder zwingen Menschen dazu, ihrer Heimat zu entfliehen, um ein Auskommen in den reichen kapitalistischen Metropolen zu finden.

    Wie verhält sich die Linke in Deutschland bzw. in Europa zu diesen Fragen? Antwort darauf sollte die Podiumsdiskussion, Abschluss und Höhepunkt der Rosa-Luxemburg-Konferenz, geben. Es diskutierten Selma Schacht, Mitglied der Partei der Arbeit und Arbeiterkammerrätin in Wien, Günter Pohl, Sekretär für Internationales im Parteivorstand der DKP, Lorenz Gösta Beutin, Abgeordneter der Partei Die Linke im Bundestag und Canan Bayram, für die Grünen im Bundestag.

    Der Chefredakteur der jungen Welt, Stefan Huth, konfrontierte die Teilnehmer des Podiums mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen, also Rechtsruck und Flüchtlingsabwehr der europäischen Staaten sowie mit dem beklagenswerten Zustand der Linken. Schacht erläuterte den Rechtsruck in Österreich und machte darauf aufmerksam, dass ÖVP, FPÖ und Neos zusammen eine »verfassungsmehrheit« im österreichischen Parlament besitzen und deshalb auch Institutionen wie die Arbeiterkammer unter Druck geraten könnten. Gegen diesen rechten Block, gegen den Sozialabbau müsse ein linker gewerkschaftlicher Kampf aufgebaut werden. »Als Marxisten müssen wir deutlich machen, dass alle Arbeiter unabhängig von ihrer Herkunft gemeinsame Interessen haben. Das müssen wir denjenigen sagen, die derzeit rassistisch verblendet sind.

    Angesprochen auf die Debatten innerhalb der Partei Die Linke sagte Beutin: »Es ist ein Irrweg, zu glauben, man könne diejenigen, die rechts gewählt haben, erreichen, wenn man mit populistischen Parolen spielt.« Man müsse die Ursachen der gesellschaftlichen Krise benennen, eine Antwort geben auf die soziale Frage und die Krise des Parlamentarismus. »Die Linke muss klare und solidarische und systemüberwindende Positionen vertreten. Wir müssen grundsätzlich in der BRD etwas verändern. Ein Fehler ist dagegen die Annahme, man müsse den Rechten ihre Parolen wegnehmen – das hat noch nie funktioniert.«

    Pohl erinnerte daran, dass die Arbeiter immer in einer Konkurrenzsituation stehen, dies werde aber verschärft durch die Menschen, die nach Deutschland kommen. »Wir als DKP haben aber gesagt: Unsere Willkommenskultur heißt: Gemeinsam kämpfen!« Unabhängig von Herkunft und Pass. »Wir schauen auf die Ursachen. Kapitalismus und Krieg sind nicht voneinander zu trennen, der Krieg ist das Geschäftsmodell des Kapitalismus. Wir dürfen den Kampf dagegen nicht aufgeben, aber wir müssen auch sagen, was danach kommen soll. Wir wollen den Sozialismus.«

    Bayram versicherte, sie werde Angela Merkel niemals ihre Stimme geben und unter keinen Umständen für Kriegseinsätze votieren. Zum Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der wie sie Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen ist, sagte Bayram: »Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten.«

  • 20.09.2021 12:24 Uhr

    Der Kampf geht weiter ...

    Nicolás Miquea (links) und Tobias Thiele begleiteten das musikalische Finale der Konferenz auf ihren Instrumenten
    Gemeinsamer Gesang: Die Internationale bildet den traditionellen Abschluss der Konferenz
    Letzter Akt: Großartige Stimmung auf der Bühne
    Einer für alle: Viele freiwillige Helfer trugen zum Erfolg der Konferenz bei. Danke!

    Mit dem Gesang der Internationale endete die diesjährige Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz. Die kommende findet am 12. Januar 2019 statt. Wir danken sehr herzlich allen Gästen für die Teilnahme an der Konferenz und allen, die uns bei ihrer Vorbereitung und und Durchführung unterstützt haben. Die Blog-Redaktion von junge Welt verabschiedet sich mit einem kämpferischen »Amandla! Awethu!»

  • 20.09.2021 12:33 Uhr

    Von der Wut zum Wissen

    Wie Personen, Gesellschaften und Texte in Bewegung kommen. Über Karl Marx
    Dietmar Dath
    B S 06-07.jpg
    Zwischen heißer und kalter Wut: »Prometheus«-Art Déco von Rene Paul Chambellan am Chanin Building, New York

    Im März erscheint im Reclam Verlag in der Reihe »100 Seiten« der Band »Karl Marx« von Dietmar Dath. Wir veröffentlichen daraus vorab mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen redaktionell gekürzten Auszug aus dem ersten Kapitel. (jW)

    Der beste Freund, den Karl Marx und seine Lehre jemals hatten, war Friedrich Engels. Was dieser Fabrikantensohn, Soldat, Lebenskünstler und Zukunftsdenker für Marx und dessen Arbeit getan hat, passt in kein Buch. Zehn Bücher könnten es nicht fassen. Warum hat Engels sich so heftig und ausdauernd engagiert? Was hat die Theorie, für die er so viel leistete, umgekehrt für ihn geleistet? 1880, knapp drei Jahre vor dem Tod des Geförderten und Bewunderten, gab der Freund jenem die Begründung seiner Unterstützung schriftlich, im Titel und in den Ausführungen einer Arbeit, die zusammenfassen sollte, was Marx erreicht hatte: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«.

    Was das Wort »Wissenschaft« bedeutet, ist klar: eine gesellschaftliche Veranstaltung, bei der man Aussagen über Sachverhalte mittels Beobachtung, Folgerungen, hypothesengeleitetem Experiment und Gegenproben ermittelt. Wissenschaft zeigt uns die Welt nicht so, wie wir sie gerne hätten oder wie wir fürchten, dass sie schlimmstenfalls sein könnte, sondern so, wie sie mit uns wechselwirkt.

    Was aber bedeutet »Utopie«? Beim Gebrauch dieses Wortes gehen Optimismus, Pessimismus (dann oft unter dem Stichwort »Dystopie«) und freie Teilchen realistischer Tatsachenabbildung durcheinander. Das Bedeutungsfeld des Begriffs war stets gleichsam verschmiert: Wo er benutzt wird, weiß man nie sofort, ob ein literarischer Text aus dem 16. oder 20. Jahrhundert gemeint ist, ein politisches Wunschprogramm junger Leute, die den Platz vor einer Bank blockieren, oder eine komplizierte Idee, in deren Zeichen der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) versuchte, alles, was ihm irgendwie sympathisch war, von der Bergpredigt bis zur Forschungsfreiheit, unter einen begrifflichen Hut zu zwingen.

    Geist der Utopie

    Mit 14 war ich Utopist, ohne zu wissen, was das ist. Ich wollte, dass nichts mehr so sein sollte wie da, wo ich leben musste. Alles sollte anders sein, am besten so, wie es noch nie irgendwo gewesen war, nur am Nicht-Ort des Denkens, was die wörtliche Bedeutung der griechischen Wortfügung »Ou Topos« ist. Mit 15 war ich schon kein Utopist mehr. Das lag aber nicht, wie man vielleicht vermutet, weil das ein naheliegender Dreh für die Einleitung eines kleinen Büchleins über Marx wäre, an Marx und seinen Schriften.

    Wenn man jung ist, verschafft man sich Bewegung, wo man kann. Das Leben wird interessanter, wenn auch nicht bequemer, sobald man sich auf Anstrengungen einlässt, ein neues Gesellschaftssystem durchzusetzen: »Sozialismus«, das klang konkreter als der Nicht-Ort. Bald wurde ich Zeuge einer spektakulären Niederlage jener Anstrengungen: Große Staaten, die sich auf Marx berufen hatten, ließen das fortan bleiben und lösten sich in unübersichtliche Verhältnisse auf.

    Für mich persönlich war es zu spät, abzuspringen, Marx hatte mich schon überzeugt. Ein Kommunist schrieb mir neulich eine E-Mail, weil ich mit ihm und anderen eine Diskussion darüber angefangen hatte, wie und warum sich verschiedene Leute zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen von Marx überzeugen ließen. Der Kommunist seufzte schriftlich, das habe oft nicht nur mit Inhalten zu tun, sondern mit der »Heroisierung von gewesenen Kämpfen«, der »Ikonisierung unserer Heldinnen und Helden usw.«, also mit linker Romantik. Der Genosse bekannte: »Die meisten von uns sind nicht Kommunisten geworden, weil sie den 18. Brumaire gelesen haben, sondern weil sie sich über die Menschenschinderei und den Schlachthof Geschichte aufgeregt haben.«

    Die Anspielung auf den »18. Brumaire« bezieht sich auf ein Buch von Marx über ein seinerzeit aktuelles Ereignis: Am 2. Dezember 1851 hatte ein Verwandter des toten Kaisers Napoleon, der »Rechtspopulist« (wie man heute sagen würde) Louis Bonaparte, sich in einem Staatsstreich Frankreich unter den Nagel gerissen, ein Ergebnis der revolutionären Unruhen, die ganz Europa um 1848 erfasst hatten.

    Vergleicht man die Schrift, die Marx dieser Neuigkeit widmete, mit der Art, wie solche Ereignisse rund 150 Jahre später in politischen Kommentaren diskutiert werden, fallen starke Unterschiede auf – ein inzwischen schon wieder aus dem Weltmedienbewusstsein verschwundener Vorgang kann das verdeutlichen: Der Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 war für die meisten Menschen, die mit Hilfe elektronischer Massenmedien im Minutentakt auf den neuesten Stand gebracht wurden, eine Art Zuschauersportereignis, bei dem man Wetten darüber abschließen kann, wie es ausgehen wird. Wenn die Militärs gewinnen, wird die islamistische Tendenz im Land dann vielleicht schwächer, mit der Präsident Erdogan kokettiert? Wenn Erdogan gewinnt, wird dann wenigstens eine stabile Ordnung einkehren?

    Dies war genau die Art von Gedanken, die Marx sich nicht machte, als Louis Bonaparte die Macht ergriff. Für ihn ging es nicht um Wettquoten, sondern ums Ganze, um seine eigene Sache und das Schicksal der politischen Bewegung, der er angehörte.

    Das Ende der französischen Republik, das da in die Diktatur mündete, war in der Perspektive dieser Bewegung nur der scheußliche Höhepunkt einer Reihe von reaktionären Taten der besitzenden Klassen in Frankreich. Noch 60 Jahre früher, in der berühmten großen Französischen Revolution, waren aus den Reihen des dortigen Bürgertums die entschiedensten Denker und Anstifter der Abschaffung des Feudalismus und der Monarchie hervorgegangen.

    Was Marx die »absteigende Linie« seit jener Revolution nannte, analysierte er im »18. Brumaire des Louis Bonaparte « schon im Titel als Bestandteil eines Epochenzusammenhangs: Die Revolution hatte einen neuen Kalender geschaffen, und der 18. des Monats Brumaire im Jahr acht dieses neuen Kalenders (nach der vorher und nachher geltenden Rechnung also der 9. November 1799) war der Tag gewesen, an dem Napoleon Bonaparte, der Onkel des späteren Putschisten, den nicht mehr regierungsfähigen Resten der revolutionären Staatsgewalt die Macht entrissen hatte. Marx macht mit seinem Titel einen bösen Witz: Was Napoleon getan hatte, war noch ein Akt der Größe gewesen, Schicksalsmoment einer grandiosen sozialen Umwälzung, mit dem verglichen der Regierungsantritt des Neffen aussah wie eine Karikatur neben einer Helden­büste. Dies, urteilte Marx, lag daran, dass jenes revolutionäre Bürgertum einen Niedergang hinter sich hatte, an dessen Tiefpunkt ein Gauner wie dieser Louis Bonaparte mit seinen letzten Resten spielend fertig wurde.

    Marx war fest entschlossen, andere dazu zu bewegen, Konsequenzen aus seiner Analyse zu ziehen. Das allein schon hebt seinen Stil und seine Herangehensweise deutlich davon ab, wie heute öffentliche Erörterungen von Tatsachen wie »Es wurde da oder dort geputscht« oder »Ein Tyrann im arabischen Raum ist gestürzt worden« aufgebaut sind. Kommentare beziehen Ereignisse heutzutage selten auf ihre Voraussetzungen im Bereich der Absichten und Interessen, ein schlüssiges Gesellschafts- und Geschichtsbild wird nicht vorausgesetzt, derlei gilt als ideologisch verbohrt. Marx setzte ein solches Bild aber voraus. Ihm war klar: Gesellschaftliche, menschengeschaffene Sachverhalte bestehen zu einem nicht geringen Teil gerade aus Hoffnungen und Ängsten der Beteiligten. Sie sind das, was unsere Handlungen miteinander vermittelt, einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellt.

    In der E-Mail meines kommunistischen Bekannten wird eine Unterscheidung angedeutet, die nahelegt, es gäbe auf der einen Seite Empörung, Verurteilung der schlechten Welt, und auf der anderen Seite das Lesen und Denken sowie die Schriften, die zu beidem einladen. Diese zwei Seiten aber stehen ein­an­der in Wirklichkeit nicht getrennt gegenüber, es gibt den Unterschied nur als gewaltsam fixierten. Gerade der »18. Bru­maire« zum Beispiel, so knapp und klar er ist, lebt von Empörung und Verurteilung der Vorgänge, die er erklären will. Marx hat auf erfreuliche wie schlechte Nachrichten häufig mit dem Verfassen von Gebrauchstexten für politische Organisa­tio­nen reagiert, etwa den Bund der Kommunisten oder die Erste Internationale Arbeiterassoziation. Es galt in solchen Momenten, unter Zeitdruck Übersicht herzustellen, damit man wusste, in was man sich einmischen sollte. (…)

    Zweierlei Wut

    Kann jemand, der Aufstände begrüßt, eine Diktatur fordert, Philister erschreckt und sich nicht scheut, die seit Urzeiten bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als »die ganze alte Scheiße« zu beschimpfen, eine Wissenschaft begründen, sei es nun die des Sozialismus oder sonst eine? Mein kommunistischer Bekannter hat ja recht: Es sind nicht Texte von Marx, sondern Unzufriedenheiten, die Menschen normalerweise in den Denk- und Handlungshorizont linker Überzeugungen schleudern – manchmal zum Anarchismus, manchmal zum Kommunismus, manchmal zu Occupy und manchmal zu einer bescheiden mühsamen Arbeit als Rechtsanwältin für Flüchtlinge ohne Papiere. Selbst bei Marx gab es (…) diese Erregungszustände; seine Arbeit war durchaus Nervensache. Wie hängen diese Nerven aber mit seinen Analysen zusammen? Warum reicht es manchen Menschen nicht, ihr Unbehagen am Gemeinwesen in einer Krawalldemo, einem Songtext, einem Graffito oder einer anderen spontanen Verausgabung der Affekte zu entladen?

    Ich selbst bin von der beschriebenen Affektspannung nicht an der Hand von Karl Marx abgekommen, sondern aus einem anderen Grund. So, wie Marx auffiel, dass es unter angeblich seit 1789 gleichgestellten Menschen, die allesamt keine Adligen sind, zwei verschiedene Sorten Teilnahme an der Produktion der gesellschaftlich benötigten Güter und Dienstleistungen gibt, so gibt es, lernte ich mit etwa 16 Jahren, nicht nur eine, sondern mindestens zwei Sorten Wut, die heiße und die ­kalte.

    Menschen werden wütend, wenn ihnen etwas Unlust bereitet oder eine erhoffte Lust verwehrt. Manchmal reicht schon die Befürchtung, dass es so kommen könnte. Dass wir Menschen bei Unlust, verwehrter Lust oder Angst vor einem von beidem wütend werden, ist für Hordentiere wie uns ein von der Evolution nützlich eingerichteter Umstand.

    Wenn es andere unseresgleichen sind, die uns Unlust bereiten oder Lust verweigern, können Aggression und das aggressive Gebaren, das aus Wut entsteht, die Verursacher unserer Unlust oder Angst zur Korrektur ihres Verhaltens zwingen. Wenn wir Pech haben, entsteht daraus allerdings wieder Wut bei jenen; das Resultat ist im schlimmsten Fall die berühmte Gewaltspirale, auch als Teufelskreis bekannt.

    Mit 14 Jahren, als ich die Begeisterung für Utopien gerade verlor, war ich an Schultagen zwischen 8 und 14 Uhr oft genug wütend. Das lag außer an pubertätstypischen Stimmungsschwankungen an besonderen Umständen, durchaus objektiv messbaren, die auch Eltern und anderen Leuten auffielen, die meine Schule nicht besuchten. Wir hatten es da mit einer im Umlandvergleich überproportional hohen Anzahl von problematischen Lehrerinnen und Lehrern zu tun, Al­koholikern, Depressiven, Cholerikern, Esoterikern, die mangelnde Lernerfolge bei den ihnen anvertrauten jungen Menschen als persönliche Beleidigungen empfanden. Ihre Vergeltungsmaßnahmen schonten die Kinder vermögender oder einflussreicher Eltern mit nachtwandlerischer Sicherheit. Bei denen, die nicht geschont wurden, kam daher Wut auf; zunächst heiße.

    Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiter denken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag. Heiße Wut war das, was uns dazu aufstachelte, im Unterricht Lärm zu schlagen, das verhasste pädagogische Personal bei Zufallsbegegnungen in der Stadt zu verhöhnen, seine Autos oder Fahrräder zu beschädigen und ähnliche alberne bis ernsthaft destruktive Angriffe mehr zu riskieren, die natürlich ständig mit Niederlagen endeten, nämlich Strafen, Schwierigkeiten zu Hause, Schadensersatz usw. Wenn die Wut nicht abebbte (wie sollte sie, die Anlässe bestanden weiter), konnte das zu folgenreich verpfuschten Erziehungslaufbahnen führen, zum Sitzenbleiben beispielsweise, zu Schulverweisen und anderen Erlebnissen, die das Leiden verlängerten und verschärften.

    Schreien und lernen

    Wut, die zwischen unartikulierbarem Groll und unpräzisen Gegenschlägen hin und her schwingt, kannte auch Karl Marx, nicht nur in Jugendjahren (die bei ihm vergleichsweise behütet und sorgenfrei waren).

    Als linker Oppositioneller im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts musste er harte Schläge einstecken, von der unmöglich gemachten akademischen Karriere, zu der ihm auch seine offensichtliche intellektuelle Begabung nicht verhelfen konnte, über Zensurmaßregeln gegen Zeitungen, bei denen er schrieb, weil er nicht Professor werden konnte, bis hin zu erzwungenen Wohnungswechseln wegen staatlicher Verfolgung, die ihn erst nach Paris jagte, wo ihn die preußische Regierung anschwärzen ließ, dann nach Brüssel, wo er blieb, bis ihn auch Belgien auswies, so dass er zurück nach Paris und endlich nach London übersiedelte, wo er an seinem Hauptwerk arbeitete, bis er starb.

    Auf seinem teils krummen, teils gezackten Weg musste Marx mit seiner Familie, also Frau und Töchtern, ein finanziell unsicheres und gesundheitsschädigendes Leben führen, das ihm unter anderem Karbunkel (die aus Haarwurzelproblemen und Furunkeln entstehen) bescherte.

    Dieses spezielle körperliche Leiden befeuerte seine Wut auf die herrschenden Gewalten, denen er die Schuld an seiner prekären Existenz gab, so sehr, dass er mit grimmigem Humor im Juni 1867 an Engels schreiben konnte: »Jedenfalls hoffe ich, dass die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird. Welche Schweinhunde es sind, jetzt wieder neue Probe!«

    So arg die heiße Wut in solchen Momenten in ihm geglüht haben muss, die kalte lag ihm näher. »Kalte Wut« nenne ich einen Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.

    Persönlich begegnet bin ich dieser kalten Wut das erste Mal bei Freundinnen und Freunden an der unerfreulichen Schule, von der ich schon berichtet habe. Die machten sich klar: Arrest, schlechte Noten und Sitzenbleiben verbessern die Situation nicht. Besser war der Zusammenschluss mit anderen, um einander bei Laune zu halten, oder ein Überlebensplan (etwa: die Schule wechseln, zu Verwandten anderswo ziehen). Am besten war strategisches Handeln: Herausfinden, ob die Gegenseite irgendwelche Regeln befolgte, die man gegen sie nutzen konnte. Tatsächlich muteten sich die Problemlehrerinnen und -lehrer zum Beispiel ungern selbst die Zusatzarbeitszeit der Arrestüberwachung zu, was sich ausnutzen ließ, oder sie lagen untereinander in Streit, den man für Schaukelpolitik instrumentalisieren konnte, und dergleichen mehr.

    Die Lehre lag auf der Hand: Heiße Wut beißt und schreit wider das Übel, kalte lernt und versteht, um das zu ändern oder abzuschaffen, was sie provoziert hat. Nicht alle vollzogen diesen Schritt mit. Ich erinnere mich an einen nicht unsympathischen Mitschüler, der nie bereit war, seine Wut abkühlen zu lassen. Er fand, dass jeder Versuch, die Beweggründe der Gegenseite zu verstehen, letztlich darauf hin­aus­laufen müsse, ihr bis zu einem gewissen Grad zu ver­geben. Diskussionen auf dem Pausenhof, die zum Beispiel um die Unterscheidung zwischen Verrückten, Alkoholikern und Überforderten kreisten, sabotierte er mit Worten wie: »Ich will nicht wissen, ob der Typ ein Alkoholiker ist, er ist ein Drecksack!«

    Das beleidigende Wort brachte denselben Furor zum Ausdruck, der die Formulierung »Schweinhunde« im Brief von Marx an Engels ausgelöst hat. Aber es ignoriert, was ich damals nur spürte und nicht artikulieren konnte: Wenn wir wissen, dass ein Lehrer ein Alkoholiker ist, und Beweise dafür finden, die wir unseren Eltern vorlegen können, haben wir einen Hebel gegen ihn gefunden.

    Verständnis muss nicht versöhnlich gemeint sein. Im Gegenteil, so lernte ich später, sind es oft die allerunversöhnlichsten Gegnerinnen und Gegner eines Missstandes, die sich ums Verständnis der Situation, ihre logische Zergliederung und historische Erklärung die allergrößten Verdienste erwerben, weil kalte, aber große Wut ihnen die Kraft dazu verleiht.

    Zwei der beeindruckendsten Beispiele hierfür (…) fand ich bei einem schwarzen Mann, der heroisch gegen den Rassismus gekämpft hat, und bei einer weißen Frau, die sich zeitlebens auf einem besonders ungemütlichen Terrain gegen männliches Dominanzgehabe behaupten konnte.

    Das Übel verstehen

    Mein erster Beleg stammt von einem der entschlossensten Feinde des rassistischen Unrechts in den USA des 19. Jahrhunderts, Frederick Douglass (1817/18–1895). Diesem schwarzen Bürgerrechtler war eine erschütternd nüchterne Bezeichnung für den Kern dieses Unrechts eingefallen, die Sklaverei: 1864 nannte er sie im Rahmen einer knappen Analyse ihrer Funktion beim Aufstieg der USA zum modernen Staat ein »Baugerüst« der »erhabenen Struktur« dieses Staates. Eine Maschinerie, die ungezählte Leiber zerbrochen, unermessliches Leid verursacht hatte, sollte ein »Baugerüst« sein? Sklaverei, dieses »Scaffolding«, schrieb Douglass, sei eine Vorrichtung, welche die Gründerväter der neuen Nation nicht rasch genug beseitigt hätten, auch wenn ihnen wohl klar gewesen sei, dass dieses Gerüst »beseitigt werden muss, sobald der Bau steht«.

    Eine Unterdrückungseinrichtung mit der Kälte und Ruhe anzusehen, die darin ein »Baugerüst« erkennen kann, dürfte nicht vielen gelungen sein, die im Kampf um die Rechte der Versklavten standen. Douglass bewies damit einen Weitblick, der sich sogar als Vorhersage des historischen Moments im Sommer 2016 auslegen lässt, in dem Michelle Obama, die Gattin des ersten schwarzen Präsidenten der USA, davon sprach, was für sie das deutlichste Sinnbild historischen Fortschritts sei: die Tatsache, dass das Weiße Haus, der repräsentative Sitz des Präsidenten, einerseits einst auch mittels Sklavenarbeit errichtet worden war, und andererseits rund 150 Jahre später im selben Haus jemand das höchste Amt des Staates wahrnahm, in dem er seinerzeit nicht einmal die primitivsten Bürgerrechte hätte genießen dürfen.

    Mit dem Satz vom Baugerüst war indes mehr als eine Prophetie ausgesprochen, nämlich ein Gedanke, der Douglass und andere seiner Geisteshaltung von der Idee Abstand nehmen ließ, die Nachfahren der Menschen, welche die grauenvolle und mörderische Verschleppung überlebt hatten, mit der rechtlose Arbeitskräfte nach Amerika gebracht worden waren, sollten in die Herkunftsländer ihrer Familien zurückkehren. Douglass hielt statt dessen dafür, sie sollten ihr Glück in dem Land machen dürfen, das sie mit aufgebaut hatten. Dessen Reichtum war auf ungerechte Weise entstanden, aber da er nun einmal erwirtschaftet worden war, sollte der Zwang aufhören.

    Notwendige Frustration

    Mein von heißer Wut beherrschter Mitschüler hätte das Wort »Baugerüst« wohl eine obszöne Verharmlosung gefunden. In dem sorgfältig konstruierten Argument, das Douglass vorbrachte, wies das Wort jedoch auf eine historische Entwicklung hin, um klarzustellen, dass Gründe, die ein Unrecht scheinbar rechtfertigen, weil sie es objektiv bedingen, im Verlauf der Geschichte entfallen können, und dass man die Chance, in diesem Moment das Unrecht abzuschaffen, nutzen muss. Nichts anderes meint Friedrich Engels mit seinem berühmten Satz »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit«: Wer frei sein will, muss die Bedingungen kennen, die eine vorhandene Unfreiheit ermöglicht haben, und dann diejenigen, die nicht (mehr) notwendig sind, von den andern trennen, um das nicht Notwendige abzuschaffen.

    Im selben Jahr, in dem Douglass den Satz vom Baugerüst verfasste, schrieb Marx einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln (1809–1865). Der musste damals einen Bürgerkrieg zur Bewahrung seines föderalen Flächenstaats führen. Die Herrschenden im Süden wollten ihre Sklaven behalten, während Lincoln im Sinn hatte, jenen Entrechteten mehr (wenn auch längst nicht alle) Bürgerrechte zuzugestehen.

    Der Brief, den Marx dem Präsidenten schrieb, versicherte diesen der Bereitschaft der Arbeiterbewegung in Europa, ihren Teil zu seinem Sieg beizutragen. Marx bot nichts Geringeres an als die Disziplin der kalten Wut dieser Arbeiterbewegung, die Bereitschaft, die Zähne zusammenzubeißen und eigene Nachteile zu ertragen, die der Kampf gegen das Unrecht mit sich bringt, den andere anderswo führen.

    Außer vernünftiger Bestandsaufnahme der Lage und Geduld bei der Arbeit an deren Veränderung verlangt die Abkühlung der Wut ja oft weitere Frustrationen von den kalt Wütenden – vor allem, dass sie nicht nur erkennen, was notwendig ist an ihrer Lage und was nicht, sondern auch aus­halten, was am Übergang vom Schlechten zum Besseren unangenehm, aber nun mal ebenfalls notwendig ist. Im Fall der Solidarität mit den Sklaven hieß das für europäische Ar­beiter zum Beispiel das Ertragen vorübergehender Baumwollknappheit. Billige Baumwolle hatte es für europäische Besitzlose nur gegeben, solange die Sklaven auf den Baumwollplantagen schufteten. Aufgeklärt über diese Zusammenhänge, schrieb Marx an Lincoln also unter anderem zwei wichtige Sätze – einen sehr langen und einen weniger langen.

    Der lange lautet: »Als die Oligarchie der 300.000 Sklavenhalter zum erstenmal in den Annalen der Welt das Wort Sklaverei auf das Banner der bewaffneten Rebellion zu schreiben wagte; als auf dem selbigen Boden, dem kaum ein Jahrhundert vorher zuerst der Gedanke einer großen demokratischen Republik entsprungen war, von dem die erste Erklärung der Menschenrechte ausging und der erste Anstoß zu der europäischen Revolution des 18. Jahrhunderts gegeben wurde; als auf diesem selbigen Boden die Konterrevolution mit systematischer Gründlichkeit sich rühmte, ›die zur Zeit des Aufbaues der alten Verfassung herrschenden Ideen‹ umzustoßen, und ›die Sklaverei als eine heilsame Einrichtung – ja als die einzige Lösung des großen Problems der Beziehung der Arbeit zum Kapital‹ hinstellte und zynisch das Eigentumsrecht auf den Menschen als ›Eckstein des neuen Gebäudes‹ proklamierte; da begriffen die Arbeiter Europas sofort, selbst noch ehe sie durch die fanatische Parteinahme der oberen Klassen für den Konföderiertenadel gewarnt worden, dass die Rebellion der Sklavenhalter die Sturmglocke zu einem allgemeinen Kreuzzug des Eigentums gegen die Arbeit läuten würde und dass für die Männer der Arbeit außer ihren Hoffnungen auf die Zukunft auch ihre vergangnen Eroberungen in diesem Riesenkampfe jenseits des Ozeans auf dem Spiele standen.«

    Der kürzere Satz zieht die Konsequenz aus dem langen: »Überall trugen sie darum geduldig die Leiden, welche die Baumwollkrisis ihnen auferlegte, widersetzten sich voll Begeisterung der Intervention zugunsten der Sklaverei, welche die höheren und »gebildeten« Klassen mit solchem Eifer herbeizuführen suchten, und entrichteten aus den meisten Teilen Europas ihre Blutsteuer für die gute Sache.«

    Unrecht hat Gründe, der Kampf dagegen braucht Verstand, Geduld und die Bereitschaft, für die Abschaffung des Unrechts einen Preis zu zahlen – in diesen beiden Punkten waren Douglass und Marx sich einig. Genauso dachte und schrieb auch die Urheberin meines zweiten Belegs für den politischen Wert der kalten Wut: 1912 verglich Rosa Luxemburg (1871–1919) in ihrem Aufsatz »Frauenwahlrecht und Klassenkampf« die Vorherrschaft des Mannes in der Familie mit der Institution des angeblich von Gott gerechtfertigten und gesegneten Erbkönigtums – eine wechselseitige Auslegung zweier Sachverhalte, die damit keineswegs gerechtfertigt sein sollten: »Das Instrument des Himmels als tonangebende Macht des politischen Lebens und die Frau, die züchtig am häuslichen Herde saß, unbekümmert um die Stürme des öffentlichen Lebens, um Politik und Klassenkampf, sie beide wurzeln in den vermorschten Verhältnissen der Vergangenheit, in den Zeiten der Leibeigenschaft auf dem Lande und der Zünfte in der Stadt. In diesen Zeiten waren sie begreiflich und notwendig.«

    Mein ungestümer Mitschüler hätte sich hier vermutlich über das Wörtchen »notwendig« aufgeregt. Luxemburg meinte es ernst: Notwendig ist ein König da, wo die soziale Welt in Stände gegliedert ist und zum Beispiel der Austausch zwischen den ländlichen Erzeugnissen des Feldes und den handwerklichen der Stadt nur dann stabil vonstatten geht, wenn es eine Instanz über den Landadligen einerseits und den Stadtbürgern andererseits gibt, die verhindert, dass das für alle überlebenswichtige Geschäft in einen Dauerstreit führt, der das Gemeinwesen zerreißt.

    Analog hierzu führt, wo die Gesellschaft so arm ist, dass die Individuen dauernd jagen, säen, ernten, sammeln oder werkeln müssen, damit die Familie nicht verhungert, und daher so rückständig, dass keine verteilte Kinderbetreuung eingerichtet werden kann, weil jede Arbeitskraft fürs Überleben nötig ist, an der Arbeitsteilung zwischen Produktion und Reproduktion aus biologischem Elendspragmatismus nichts vorbei, wohl aber etwas darüber hinaus: die Erzeugung größeren gesamtgesellschaftlichen Reichtums. Allerspätestens der Kapitalismus hat diesen Reichtum hervorgebracht, eben der Kapitalismus, der auf jene »vermorschten Verhältnisse« folgte, indem er sie zunächst ökonomisch zerschlug und dann formaljuristisch beseitigte.

    Nur dann, wenn man versteht, dass Douglass so wenig die Sklaverei entschuldigen wollte wie Luxemburg die Monarchie und das Patriarchat, versteht man ein drittes und ein viertes Zitat, die ich diesen beiden anfügen will, um endgültig zu Marx und seiner Lehre überzuleiten. Zunächst ein scheinbar enthusiastisches Lob der schon angedeuteten fortschrittlichen Mission des Kapitalismus: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.

    Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist. Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. […]

    Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolu­tio­näre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.«

    Ein Unterton von Kritik ist vernehmbar, Hochachtung aber unübersehbar – und dann folgen, im selben Text, gar Töne, die man heute, wäre der Kontext unbekannt, vielleicht euro­zen­trisch nennen würde: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.«

    Ich schrieb oben vom »Unterton von Kritik« und meinte damit Wendungen wie »die sogenannte Zivilisation« im letzten zitierten Abschnitt. Den Text, in dem das stand, schrieben Marx und Engels in Brüssel Ende 1847, ein Jahr vor einer revolutionären Erhebung in Europa, deren Scheitern das weitere Leben und Werk von Marx entscheidend prägte. Alles, was Marx vor diesem Text geschrieben hat, liefert die eine Hälfte des Kontextes, der die angeführten Stellen erklärt, und alles, was er danach schrieb, liefert die andere. Beide zu rekonstruieren, damit man das, was ich eben zitiert habe, als eines der größten Dokumente kalter Wut in der Menschheitsgeschichte verstehen lernt, ist der Zweck dieses Büchleins.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    »Der Bourgeois macht sich zunehmend überflüssig«

    Lenin lesen: Wer vom Imperialismus spricht, sollte das Monopolkapital nicht vergessen. Gespräch mit Lena Kreymann
    Johannes Supe
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    Bevor am Wochenende der Revolutionäre Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wladimir Lenin gedacht wird, wollen wir über die Aktualität von deren Werk sprechen. In Ihrer Organisation, der SDAJ, wird zum Beispiel noch heute Lenins 1917 erschienene Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« studiert. Warum?

    Das Werk hat mindestens zwei, vermutlich aber mehr ganz große Stärken. Die grundlegende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse stimmt nach wie vor. Man kann aus der Schrift aber auch viel darüber lernen, wie man an politische Arbeit herangehen sollte. Denn was tut Lenin? 1916, der erste Weltkrieg tobt, und die Lage spitzt sich in allen Ländern unglaublich zu, schreibt er dieses Buch – und wälzt dafür Statistiken. Er nimmt sich eine Unmenge an Daten vor. Das tut er nicht, weil er sich von der politischen Praxis entfernt hätte. Im Gegenteil: Er betrachtet die Situation genau, macht langfristige Entwicklungstendenzen aus und schlussfolgert, wie die revolutionäre Arbeit aussehen muss. Auch wir müssen so an die Überwindung des Kapitalismus herangehen.

    Lenin verweist darauf, dass die Grundlage des Imperialismus die Existenz gewaltiger Monopolkonzerne ist. Er wendet sich gegen ein Verständnis, nach dem Imperialismus nur eine besonders aggressive Politik sei. Heute wird der Begriff meist genau so verwendet.

    Die falschen Auffassungen, die er kritisiert, verleiten zur Schlussfolgerung, man müsse einfach die Politikerriege austauschen. Zumal die bürgerliche Geschichtsschreibung auch vom Imperialismus spricht, damit aber nur eine bestimmte, schon beendete Epoche meint. Lenins Imperialismusbegriff ist dagegen sicher nicht vorherrschend. Die Analyse des Monopols, also riesiger marktbeherrschender Unternehmen, ist einer der zentralen Aspekte des Buchs. Lenin leitet aus seiner Untersuchung ab, dass sich die kommunistische Politik vor allem gegen die Herrschaft des Monopolkapitals wenden muss. Die Richtigkeit unserer Analyse müssen wir selbst beweisen und zwar nicht auf rein theoretischem Weg, sondern in den täglichen Auseinandersetzungen um bessere Löhne und Bildung oder gegen Krieg. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte: Etwa wenn wir aufzeigen, dass Auslandseinsätze, also Kriege, im Interesse großer Konzerne stattfinden – und zwar selbst dann, wenn wie in Deutschland die große Mehrheit der Bevölkerung gegen sie ist.

    Gerade das ist doch nicht so leicht. Welcher deutsche Konzern profitiert etwa von der Besatzung Afghanistans?

    Diese Frage ist mit Sicherheit eine Herausforderung, denn oft stehen längerfristige Interessen dahinter, etwa geostrategische. Die Aufgabe besteht beispielsweise darin, zu schauen, welche Unternehmen die Aufträge erhalten, wenn zynischerweise vom »Wiederaufbau Afghanistans« gesprochen wird. Es dürften in der Regel keine afghanischen, sondern westliche Unternehmen sein. Das genauer aufzuzeigen, wäre notwendig – und unter anderem auch Aufgabe der jungen Welt.

    Touché. Ist es nicht deprimierend, heute noch dieses Werk von Lenin lesen zu müssen? Den Imperialismus beschrieb er vor 100 Jahren als »Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbenden Kapitalismus«.

    Der Kapitalismus hat seinen vorwärtstreibenden Charakter verloren, den Marx und Engels im Manifest noch ausmachten. Mit der Herausbildung der Monopole werden bereits die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Wirtschaft grundsätzlich anders zu gestalten und gesamtgesellschaftlich zu planen. Der Bourgeois als »gerissener Unternehmer« macht sich zunehmend selbst überflüssig, denn die Verwaltung der Konzerne mit ihren immer größeren Produktionseinheiten wird bereits von Angestellten geleistet. Das brachte Lenin dazu, vom Vorabend des Sozialismus zu sprechen. Doch wie lange dieses Sterben genau dauern wird, kann niemand sagen. Es ist auch kein Automatismus, denn den Kampf um die Abschaffung des Kapitalismus müssen wir selber führen.

    Wird nicht vor allem die Entwicklung von schädlichem Unsinn vorangetrieben? Handscanner etwa, die Amazon einsetzt, um die Belegschaft völlig zu überwachen, wird man künftig hoffentlich nicht mehr nutzen.

    Das stimmt zum Teil, denn entwickelt wird nach Maßgabe des Profits, nicht der menschlichen Bedürfnisse. Das reicht von Druckern, die zu schnell kaputtgehen, bis hin zur Entwicklung immer neuer Schnellfeuerwaffen. Doch die wesentliche Frage bleibt, in wessen Hand die Technik liegt und wie sie dann gebraucht wird. Dem Kapital muss sie jedenfalls entrissen werden.

  • 20.09.2021 12:38 Uhr

    »Häute mit Narben«

    Ibrahim Mahama entlarvt die Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft. Der Künstler ist zu Gast auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin
    Susann Witt-Stahl
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    Documenta-Performance »Check Point - Prosfygika« auf dem Syntagma-Platz in Athen (April 2017)

    Der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama interessiert sich für »stark historisch geprägte Gebrauchsgegenstände« gesellschaftlicher Arbeit. Jutesäcke sind das wichtigste Gestaltungsmaterial seiner als »künstlerische Intervention in das bestehende Produktionssystem« zu verstehenden Werke: Flexible Transportbehälter, in denen sich die Geschichte des Welthandels materialisiert, weil in ihnen Produkte wie Kakao oder Bohnen zwischen Lagerhäusern, Märkten, Städten und Kontinenten hin und her bewegt werden.

    Mahama verhängt Gebäudefassaden mit riesigen Schleiern aus zusammengenähten Jutesäcken. 2016 hatten aus seinem Heimatland stammende Migranten ein solches Monstrum für die Kunsthal Charlottenborg in Kopenhagen fertiggestellt – ein Prozess kollektiver Arbeit, der rund zwei Jahre dauerte. Der Werktitel »Nyhavn’s Kpalang« setzte sich aus dem Namen des Hafens der Hauptstadt Dänemarks »Nyhavn« und dem Wort »Kpalang« zusammen, das auf Dagbani, der Sprache des Dagomba-Volkes im Norden Ghanas, sowohl »Sack« als auch »Fleisch« bedeutet und auf das Naturmoment, das Elementare jeglicher Arbeit verweist. Die Jutesäcke »erzählen uns etwas über die Hände, die sie anheben«, so Mahama. »Wer webt, verpackt, belädt und transportiert, hinterlässt auch seinen Schweiß, seinen Namen, Daten und andere Koordinaten«, erinnert Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der mehrere Projekte von Mahama kuratiert hat, an das Wesen, das nach Marx durch den Einsatz der seiner Leiblichkeit angehörenden Naturkräfte, Kopf, Arme, Hände und Beine, die Naturstoffe in die für sein Leben nötige Form bringt und sich damit selbst erschafft, aber mehr und mehr hinter dem stetig expandierenden Selbstverwertungsprozess des Kapitals verschwindet: der Mensch. Im Zentrum von Mahamas Schaffen steht der gestern wie heute Kolonialherrschaft unterworfene. Die von ihm verarbeiteten Säcke seien »Häute mit Narben«, sagt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Vor allem dienten sie Mahama als »forensische Beweismittel bei seiner Suche nach Manifestationen kapitalistischen Wirtschaftens in der Welt« und Mittel zur Sichtbarmachung »lokaler Bezüge innerhalb der internationalen Arbeiterklasse«.

    Der 1987 in Tamale, der Hauptstadt der Nordregion Ghanas, geborene Künstler besuchte die renommierte Kwame-Nkrumah-Universität in Kumasi und setzte sich zunächst mit der Collagentechnik von Robert Rauschenberg auseinander, einem Wegbereiter der US-amerikanischen Pop Art. Vor rund fünf Jahren vollzog Mahama einen Wandel und begann, zunächst mit Gipsabdrücken von seinem eigenen Körper, sich historisch-materialistischen Konzepten zu nähern. 2012 breitete er über einen ständig präsenten riesigen Holzkohlestapel auf dem Mallam Atta Market in Accra zum ersten Mal einen Jutesackteppich aus.

    Mittlerweile sorgt der »Christo Afrikas« (im Gegensatz zu dem berühmten Verpackungskünstler geht es Mahama allerdings nicht um eine jeglicher Erkenntnisinteressen und Normen entledigter Ästhetisierung der Lebenswelt) mit seinen Arbeiten weltweit für Aufsehen: auf der 56. Biennale in Venedig 2015; 2016 im Tel Aviv Museum of Art. Im Februar 2017 wurde in der Londoner White-Cube-Galerie seine erste große Einzelausstellung eröffnet mit Installationen aus Hunderten von Holzboxen der Schuhputzer und originalen Ledersitzen aus den Zügen in Ghana. Im Sommer war er auf der Documenta 14 in Athen und Kassel vertreten.

    Mahama will mit seinen Arbeiten, wie er in einer Kolumne der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift M&R betont, »stets in Erinnerung rufen, in welchem Maße neokoloniale Kräfte die Weltpolitik bestimmen«. Indem er aus Produktionsmitteln, die als zirkulierendes konstantes Kapital in Afrika und anderen Ausbeutungszentren der Welt lebendige Arbeit einsaugen, Kunstwerke schafft, entlarvt er nicht nur die Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft und die nicht von ihr zu trennende Barbarei. Er klagt darüber hinaus eine ganz andere Produktionsweise ein, die endlich allen, auch jenen, die bis heute »durch Blut und Schmutz, durch Elend und Erniedrigung« geschleift werden, wie Marx über die Kolonisierten schrieb, das Menschenrecht garantiert.

  • 20.09.2021 12:37 Uhr

    Gute Ernte

    Olivenöl und Arbeit: Die Initiative »Synergasia« auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
    Arnold Schölzel
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    Oliven müssen nach der Ernte so schnell wie möglich in die Ölmühle gebracht werden, um eine gute Qualität zu erhalten. Hier ein Foto aus Südfrankreich nördlich von Nizza von 5. Dezember 2013

    Als »Arbeitsbeschaffung auf dem Familienacker« beschrieb jW-Autor Hansgeorg Hermann vor fast fünf Jahren in dieser Zeitung die Initiative »Synergasia« (»Zusammenarbeit«) in der griechischen, im Westteil der Insel Kreta gelegenen Ortschaft Vamos. Die Diktate aus Berlin und Brüssel für Athen hatten damals die Arbeitslosigkeit in Griechenland auf 30 Prozent, die unter jungen Leuten auf 60 Prozent steigen lassen. Die Idee: durch Hilfe bei der Direktvermarktung von Olivenöl aus kleinen bäuerlichen Betrieben vor allem jungen Frauen und Männern Arbeit und echte Entlohnung zu schaffen. Darüber hinaus ging es darum, einer ganzen Region wieder auf die Beine zu helfen. Die Bauern, die in das Projekt einbezogen wurden, besitzen kleinere Plantagen (zwischen 50 und 500 Bäume), die ausschließlich von Familienmitgliedern – Töchter, Söhne, Cousins – bewirtschaftet werden und das Einkommen für die Wintermonate sichern.

    »Synergasia« nahm seither den Olivenbauern in Vamos 1.000 Liter pro Jahr ab – vorfinanziert durch deutsche Freunde der Initiative – und verkaufte es zum Literpreis von 15 Euro in Fünf-Liter-Kanistern. Nach Abzug der Kosten für Organisation, Verpackung und Vertrieb, so berichtete Hansgeorg Hermann ein knappes Jahr später in jW, erhielten die Olivenbauern bis zu 9,50 Euro pro Liter. Die Olivenmühlen zahlen den Bauern bis heute zwischen zwei und drei Euro.

    Im Dezember 2017 trafen sich in Vamos acht deutsche Freunde von »Synergasia« mit deren Initiatoren und Organisatoren, Giorgos Xatsidakis und Hansgeorg Hermann, sowie mit Olivenbauern. Beraten wurde, wie das Vorhaben, das organisatorisch mittlerweile an Grenzen stößt, weiterentwickelt werden kann. Bei der Verwirklichung der Grundidee, so zeigte sich, ist Wichtiges erreicht worden: Einige junge Leute, die Kreta auf der Suche nach Arbeit verlassen hatten, kehrten zurück. Die Abnahmegarantie und feste Bezahlung durch »Synergasia« sicherte den betreffenden Familien ein Einkommen. Das Dorf insgesamt profitiert davon. Im Oktober begann die laufende Olivenernte, die diesmal besonders gut auszufallen verspricht. Günstige Witterung und ausreichend Regen sorgten für eine besonders gute Qualität der Oliven, gearbeitet wird buchstäblich Tag und Nacht.

    Wer mehr wissen will: Am Sonnabend werden ein junges Ehepaar, Olivenbauern aus Vamos, Giorgos Xatsidakis und Hansgeorg Hermann am Stand von »Synergasia« auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz Auskunft geben und Bestellungen für den neuen Olivenöljahrgang entgegennehmen.

  • 20.09.2021 12:44 Uhr

    Schulter an Schulter

    Migrantinnen und Migranten bringen Kampferfahrungen mit. Die hiesige Linke muss die Multiethnizität der Arbeiterklasse anerkennen und deren rassistische Spaltung zurückweisen
    Selma Schacht
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    Laut der Internationalen Organisation für ­Migration in Genf starben im Jahr 2017 rund 3.100 ­Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Die tatsächliche Zahl dürfte weit höher ­liegen – Protest vor dem Bundestag gegen die EU-Abschottungspolitik (21.6.2015)

    Im Herbst 2015 schien es, als habe sich das offizielle Österreich für kurze Zeit in ein humaneres Mäntelchen gekleidet. Zehntausende Flüchtlinge erreichten österreichischen Boden, wurden an der Grenze und in den Bahnhöfen der großen Städte von etablierten wie auch spontan gegründeten Hilfsorganisationen und Tausenden freiwilligen Helferinnen und Helfern in Empfang genommen. Innerhalb weniger Wochen wurden eine, für hiesige Verhältnisse riesige, Großdemonstration mit über 70.000 Menschen unter dem Motto »Flüchtlinge willkommen – für eine menschliche Asylpolitik« und ein Solidaritätskonzert »Voices for Refugees« am geschichtsträchtigen Heldenplatz mit über 150.000 Menschen auf die Beine gestellt.

    Doch kehrte die Alpenrepublik nach der Einführung der Grenzkontrollen durch Deutschland und dem damit verbundenen Ende des einfachen »Durchwinkens« der Flüchtlinge wieder zur repressiven »Normalität« zurück. Die sozialdemokratisch angeführten großen Koalitionen hatten in den Jahren zuvor das Asyl- und Fremdenrecht fast im Halbjahresrhythmus massiv verschärft. Die Balkanroute wurde geschlossen, am Grenzübergang Spielfeld zum Nachbarland Slowenien bereits zuvor ein Zaun erbaut, das Bundesheer zum Assistenzeinsatz an die Ost- und Südgrenzen abkommandiert. »Obergrenzen« wurden beschlossen, ein »Asyl auf Zeit« eingeführt und die Familienzusammenführung erschwert. Die inhumane Rechtsprechung gipfelte im Beschluss einer »Notverordnung«, die argumentierte, dass die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit Österreichs durch die hohe Zahl an Flüchtlingen gefährdet sei, weshalb es erlaubt sei, Asylanträge direkt an der Grenze abzulehnen.

    Die rechte Haltung und menschenfeindliche Politik der Kanzlerpartei SPÖ hat auch dazu geführt, dass keinerlei progressiven Aspekte des Flüchtlingsthemas zur Debatte standen, sondern öffentlich die demagogischen Positionen der erzreaktionären bis rechtsextremen Parteien und Medien dominierten. Die logische Folge war ein Erstarken der Rechten und nun eine ebensolche schwarz-blaue Regierung aus ÖVP und FPÖ. Diese sieht in ihrem Programm drastische Verschärfungen der ohnehin schon unmenschlichen restriktiven Asylbestimmungen sowie eine ganze Palette an zusätzlichen Einschränkungen, Schikanen und Entwürdigungen gegen Schutzsuchende vor, gepaart mit einem tief gestaffelten System der Abschottung und einer forcierten Militarisierung der Außengrenzen. Die Themen Asyl, Migration und Sicherheit werden zudem absichtlich in einen Topf geworfen und unter Vorbeten des Mantras von »Law and Order« zu einem xenophoben und repressiven Brei verrührt.

    Ursachen benennen

    Parallel dazu sprechen zwar fast alle politischen Akteure von der Notwendigkeit, die Fluchtursachen zu bekämpfen, ohne aber den systemimmanenten Zusammenhang und die sich gegenseitig und hochschaukelnden Ursachen von Kriegen, bewaffneten Konflikten, Wirtschaftskrise, neokolonialen Handelsbeziehungen, struktureller Gewalt, Armut und sich verschärfenden Klimakatastrophen zu benennen. In Europa werden die Menschen, die vor Elend und Hungertod, vor Krankheiten und Umweltzerstörung fliehen, als »Wirtschaftsflüchtlinge« delegitimiert. Doch es sind der Entzug der Lebensgrundlage, die Ausbeutung und der Ruin ihrer Länder durch das europäische Kapital und die imperialistischen Zentren, die die Menschen zur Flucht veranlassen. Auch mit dieser Verantwortung ist umzugehen, selbst wenn keine klassischen Asylgründe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (welche also zu erweitern wäre) vorliegen.

    Es sind dieselben kapitalistischen Metropolen, die Krieg, Elend und Hunger in der Welt verbreiten, die den Menschen die Flucht verwehren, die sich abschotten – auch um den Preis Tausender Toter an den EU-Außengrenzen bzw. im Mittelmeer (und von wesentlich mehr in den betroffenen Ländern). Will man die Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen und nachhaltig beseitigen, muss man das kapitalistische Globalsystem mit seinen ihm eingeschriebenen Aggressions- und Ausbeutungsverhältnissen sowie Verheerungsprozessen überwinden. Bis dahin stehen die westlichen Metropolen als hauptsächlicher Verursacher auch in der Pflicht, sichere Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, möglichst viele Flüchtlinge aufzunehmen, diese menschenwürdig unterzubringen und ihnen Perspektiven zu eröffnen.

    In der österreichischen Linken finden sich mannigfache Positionen zu den Themen Migration und Asyl, von der oft undifferenzierenden Forderung nach »offenen Grenzen für alle« über den Einsatz für liberale Asylregelungen und eine fortschrittliche Regulierung des Arbeitsmarkts bis hin zu Phantasien von Abschottung aufgrund von »Überlastung« und »Schutz heimischer Arbeitsplätze«. Während zivilgesellschaftliche Initiativen – mit dabei auch viele engagierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – tagtäglich das Versagen öffentlicher Stellen auszubügeln versuchten, indem sie sich um Unterkunft, Essen, Sprachunterricht und überhaupt ein Mindestmaß an menschlichem Umgang kümmerten und politische Bündnisse im Wochen- und Monatstakt Proteste und Aktionen gegen Gesetzesverschärfungen und Abschiebungen organisierten, leistete sich beispielsweise der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) in sozialpartnerschaftlicher Manier und voller Regierungshörigkeit eine Stellungnahme zur Asylrechtsänderung, die sich gewaschen hatte: »Allerdings ist darauf zu achten, dass die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge mit den wirtschaftlichen, infrastrukturellen und sozialen Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen ist (…), dass die relevanten Systeme (…) gesichert und vor Überlastung geschützt werden (…) Vor diesem Hintergrund verstehen ÖGB und BAK (Bundesarbeitskammer, d. Red.) die Bemühungen der Bundesregierung, auf nationaler Ebene für eine Entlastung zu sorgen.« Wenn Asylrecht und Migration vermischt und vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen »Nutzens« für »den Standort« bewertet werden, dann ordnen sich sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften wieder einmal dem neoliberalen Mainstream unter. Statt den Gegensatz zwischen Arm und Reich, oben und unten zu thematisieren, wird der Unterschied von hier und dort, von »autochthon« und »fremd« hochgespielt.

    Doch Lohndumping, Ausgliederungen, Privatisierungen, Subunternehmertum, Prekarisierung usw. gab es auch schon vor den großen Fluchtbewegungen. Und es sind auch nicht die neu gekommenen Kolleginnen und Kollegen, sondern die »alten« hiesigen Unternehmer und das Kapital und sein politisches Personal, welche die Behandlung von Asylbewerberinnen und -bewerbern als Experimentierfeld für die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Menschen im Land ansehen und Migrantinnen und Migranten als Billiglöhner missbrauchen.

    Eine Regulierung des Arbeitsmarktes statt neoliberaler Marktöffnung heißt eben nicht, Grenzzäune hochzuziehen, sondern gegen jegliche diskriminierende Regelungen aufzutreten. Beispiel: Entsenderichtlinie. Gleiches Entgelt und gleiche Rechte für alle muss die Devise sein!

    In der hiesigen Linken stellt die jeweilige Position zur Europäischen Union eine der schärfsten Trennlinien dar. Von der SPÖ und den Gewerkschaften über die Grünen bis zur KPÖ wird an der Mär der Möglichkeit einer »sozialen und ökologischen EU« als »Friedensunion« festgehalten. Eine kritische, ablehnende bis systemüberwindende Sichtweise wird beständig als nationalistisch diskreditiert und solche Positionen in die rechte Ecke gestellt. Doch die Orientierung am Europa der Konzerne, der Banken und des Militärs verhindert gerade eine internationalistische und revolutionäre Perspektive – ausgehend von Klassenkämpfen einer geeinten Arbeiterklasse unabhängig von Pass, Sprache und Aufenthaltsstatus; beginnend mit Kämpfen im nationalen Rahmen für eine progressive Wende im Sozialen, im Gesundheitsbereich, im Bildungswesen, gegen den Militarismus und im Fall von Österreich für die Verteidigung bzw. Wiedererlangung der Neutralität.

    Keine armen Hascherln

    Die Arbeiterklasse, das gilt es endlich zu begreifen, ist objektiv multiethnisch. Logische Folge ist also, dass auch Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten, egal ob »legal« oder »illegal«, anhand ihrer Stellung in den gesellschaftlichen Verhältnissen überwiegend auch Teil der Arbeiterklasse sind – und es insofern auch kein »Wir« und »Die« geben kann und darf. Insofern haben auch alle Organisationen, welche die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ansehen, so angelegt zu sein und danach zu streben, diese Gleichstellung und Gleichbehandlung auch in der Realität – bei ihrer Themensetzung, hinsichtlich ihrer Funktionärinnen und Funktionäre, ihrer Kampffelder, Publikationen usw. umzusetzen.

    Migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter sind keine armen Hascherln, sondern bringen – auch wenn es natürlich widersprüchliche Tendenzen gibt – oft viel Kampferfahrungen, (gewerkschaftlichen) Aktivismus, linke Ideen bzw. eine migrationsbedingte Widerstandskraft mit. Die Kolleginnen und Kollegen dürfen mitnichten bloß als defiziente Empfänger unserer Solidarität, sondern müssen als aktiv handelnde politische Subjekte wahr- und ernst genommen werden. Inklusion ist die gleichberechtigte (politische, soziale, bildungsmäßige) Partizipation. Das bedeutet auch, gleichberechtigt auf Augenhöhe zu kämpfen!

    Eine Einbindung und Aktivierung migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter setzt den Kampf gegen sozialpartnerschaftliche Vertretungsformen und gewerkschaftliche Hierarchien (»wir für euch«) voraus. Entscheidend ist also auch unsere gemeinsame Fähigkeit, am eigenen Arbeitsplatz, in den Gewerkschaften und über die Branchen hinweg kollektiv Widerstand zu organisieren und die Kämpfe Schulter an Schulter zu führen!

  • 20.09.2021 12:44 Uhr

    Solidarität sichtbar machen

    Vor dem Hintergrund des rechten Vormarsches werden Geflüchtete häufig nur als Problem gesehen. Linke Positionen müssen wieder deutlicher wahrnehmbar werden
    Canan Bayram
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    Seit Jahren fordert die Linke in Deutschland ein Bleiberecht für Flüchtlinge und den Stopp von Abschiebungen – Proteste vor der nigerianischen Botschaft in Berlin (15.10.2012)

    Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen seit 1990 Millionen Tote und machten Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die Migranten aber kommen in Gesellschaften, in denen verschärfte Konkurrenz unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf von oben geworden sind. Der Aufstieg rassistischer und neofaschistischer Organisationen, die demagogisch die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen, begleitet diese Entwicklung wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken um internationalistische und solidarische Positionen gerungen. Die längst wieder akute soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt von Debatten. Rückt der Kampf gegen die westlichen Kriege, die eine Hauptursache der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund? Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Deren Positionen werden hier vorgestellt. In der gestrigen Ausgabe erschienen Beiträge von Günter Pohl und Lorenz Gösta Beutin, heute folgen die von Canan Bayram und Selma Schacht. (jW)

    Es sind nicht Staaten wie Deutschland oder andere europäische Länder, die solidarisch mit Geflüchteten sind, vielmehr sind es die Zivilgesellschaften insbesondere in vielen Ländern in Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Staaten wie Pakistan, Jordanien oder auch der Libanon haben die Geflüchteten aus den Nachbarländern aufgenommen. Die Zahl der Binnenvertriebenen ist besonders auf dem afrikanischen Kontinent enorm hoch. Berichte von der Flucht von Nigerianerinnen und Nigerianern vor Boko Haram oder der von Kongolesinnen und Kongolesen vor den mordenden Rebellentruppen haben uns auch hierzulande erreicht. Weniger bekannt sind die Fluchtgeschichten von Menschen, die bereits durch viele afrikanische oder asiatische Länder migrieren mussten, um nach Europa zu gelangen.

    Beobachtet man die Debatten der jüngsten Vergangenheit, so kommt das Gefühl auf, dass wir uns mehr und mehr von einem hilfsbereiten, empathischen und solidarischen Miteinander verabschieden. In der Bundesrepublik hat sich der mediale und politische Sprachgebrauch in den letzten Jahren verschärft. Man spricht von »Flüchtlingswelle« und »Flüchtlingskrise«, wodurch den Menschen die Individualität abgesprochen und damit auch ihr Leid relativiert werden soll. Es soll der Eindruck erweckt werden, dass von den Geflüchteten, das heißt von den sogenannten Fremden, eine Gefahr ausgehen würde, die gesetzlich abgewehrt werden müsste. Dieses Muster ist nicht neu. Schon im Ausländergesetz wurde als »Sonderpolizeirecht« das Recht von Menschen auf Bewegungsfreiheit und Familiennachzug eingeschränkt. In den 1960er Jahren konnte eine Person abgeschoben werden, wenn ihr Beischlaf mit einer Deutschen vorgeworfen wurde. Solche Gesetze und Debatten erzeugen eine Kategorie von Menschen zweiter Klasse, deren Rechte missachtet werden und für die die grundgesetzlich verbriefte Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht gelten soll.

    Nationalistische und rechtsextreme Parteien erhalten in ganz Europa Zulauf. Ressentiments gegenüber Minderheiten nehmen zu. Auch auf europäischer Ebene reagiert man auf Geflüchtete immer häufiger abwehrend. Während manche EU-Mitglieder beispielsweise keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen wollen, verschärft die EU ihre Grenzkontrollen und geht mit der Türkei und anderen Ländern unmoralische und europarechtswidrige Flüchtlingsabkommen ein.

    Entsolidarisierung und Spaltung

    Zunehmend werden die Themen Terror und Kriminalität mit Geflüchteten in Verbindung gesetzt. Der Staat reagiert darauf mit einer fortgesetzter Einschränkung der Bürgerrechte. Der Ausbau der Vorratsdatenspeicherung und der Videoüberwachung treffen uns alle. Jeder muss sich und sein Gegenüber als potentielle Gefahr wahrnehmen, die der Staat kontrollieren können muss. Das führt zur Verletzung unserer Freiheitsrechte und Argwohn untereinander. Sobald man aber seinen Mitmenschen misstraut, befördert das eine Entsolidarisierung und Spaltung in »Wir« und »die anderen«. Hier setzen dann auch schnell die ­Neiddebatten ein. Die oftmals erfundenen Geschichten über Geflüchtete, die in Deutschland angeblich alles bekämen, was sie wollten, sind ein klares Zeichen dieser Spaltung innerhalb der Gesellschaft.

    Neid kommt meist dann auf, wenn es Menschen gibt, die sich abgehängt oder zumindest benachteiligt fühlen. Weil sie zum Beispiel aus ihrer Wohnung ausziehen müssen, da sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Ebenso können sie oftmals gar nicht oder nur eingeschränkt am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen. Die Betroffenen befinden sich in einer Lage, aus der sie nur schwer wieder herauskommen – wenn überhaupt. Die Menschen erleben täglich, dass die soziale Gerechtigkeit abnimmt. Dieser Umstand darf jedoch nicht missbraucht werden, um Geflüchtete ­gegen sozial benachteiligte Menschen auszuspielen. Beide Gruppen benötigen Unterstützung, und es muss auch alles dafür getan werden, dass den Betroffenen von der Politik geholfen wird.

    Es bleibt Fakt, dass die Debatten und Maßnahmen vielfach einseitig sind und lediglich auf Abschottung und Verhinderung von Migration abzielen. Dabei wird der Lösungsansatz »Bekämpfung von Fluchtursachen« meist nur als Floskel benutzt oder dient dazu, die Verantwortung von sich zu weisen. So richtig es ist, Fluchtursachen zu bekämpfen, so fragwürdig sind die angewandten Mittel. Deutschland und Europa dürfen nicht versuchen, unabhängig von der Situation der Geflüchteten nur auf die Abschottung durch Abkommen mit Staaten wie der Türkei und Libyen zu setzen. Die finanzielle Unterstützung von Ländern beispielsweise in Afrika und die Verbesserung von Lebensbedingungen vor Ort können nur gelingen, wenn das nicht ausschließlich gewinnorientiert und aus egoistischen Motiven heraus geschieht, sondern vielmehr solidarisch umgesetzt wird. Denn die Abkommen mit den einzelnen Ländern und die Gelder werden nichts Gutes bewirken, solange Europa gleichzeitig die Lebensgrundlage für viele Menschen in den betroffenen Regionen zerstört. Durch Waffenlieferungen schafft Deutschland selbst Fluchtursachen. Auch die unfairen Handelsbeziehungen zwischen der EU und afrikanischen Ländern fördern die Armut und entziehen vielen Menschen die Lebensgrundlage. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zum Beispiel in Afrika Länder existieren, in denen es reiche Eliten gibt und der überwiegende Teil der Bevölkerung in Armut leben muss. Weltweit führen die Auswirkungen des Klimawandels dazu, dass Menschen in ihrer Heimat die Lebensgrundlagen verlieren. Auch die Einhaltung der Klimaziele ist ein wichtiger Beitrag, um Fluchtursachen zu bekämpfen.

    Waffenexporte stoppen

    Ehrlich gemeinte Lösungsansätze müssen unter anderem eine faire Handelspolitik und den sofortigen Stopp von Waffenexporten beinhalten. Europa muss gemeinsam agieren und der zunehmenden Konzentration auf nationalstaatliche Perspektiven und Interessen entgegenwirken. Viele Menschen in Deutschland handeln aber auch solidarisch, das konnte man in den letzten Jahren beobachten. Die nach wie vor große Bereitschaft der freiwilligen und unbezahlten Helferinnen und Helfer ist beeindruckend. Sie sind es, die den Geflüchteten tatkräftig zur Seite stehen – von ehrenamtlichen Sprachkursen und der Hilfe bei Amtsgängen bis hin zur Unterbringung in privaten Wohngemeinschaften und Wohnungen. Sie unterstützen die betroffenen Personen und leben somit tagtäglich ein solidarisches Miteinander. Sie sind die andere Seite der Medaille – auch wenn Rassismus und Populismus allgegenwärtig erscheinen. Die Solidarität der Menschen ist nicht verschwunden. In Zeiten von sozialen Herausforderungen muss sie aber besser sichtbar gemacht werden, sonst droht eine Fokussierung auf die vermeintlichen »Probleme«.

    Die Themensetzung und die Deutungshoheit dürfen dabei nicht den rechten Parteien überlassen werden. Linke Positionen müssen als Gegengewicht zu Rechtspopulismus und Rechtsruck wieder lauter und deutlicher werden. Solidarität und Internationalismus müssen stärker als Korrektiv innerhalb der derzeitigen Debatten fungieren. Denn die universellen Menschenrechte gelten für jede und jeden. ­Migration gab und gibt es solange, wie es Menschen gibt. Wir müssen einen gerechten Umgang damit finden. Ziel muss es sein, allen ein gutes Leben zu ermöglichen. In Deutschland können wir das durch gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter und sozialer Situation gewährleisten. Es stellt sich die Frage, wie Erfolge im Kampf gegen Diskriminierung und Ungleichheit in Europa und der übrigen Welt erreicht werden können. Die Kritik an der Globalisierung der Märkte hat den Kampf für die internationale Solidarität in den Hintergrund gerückt. Immer häufiger werden die Fragen der internationalen Gerechtigkeit verkürzt diskutiert. Aber gerade das Thema Flucht führt uns vor Augen, dass es vom Zufall abhängt, ob man in einem sicheren oder unsicheren Gebiet geboren wird und lebt. Diese Ungleichheit kann nur durch internationale Solidarität und weltweit gerechtere Verteilung der Ressourcen überwunden werden. Dabei ist die Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren ein wichtiger Ansatz, um über Austausch und Unterstützung an Stärke zu gewinnen.

  • 20.09.2021 12:38 Uhr

    Tunesien in Aufruhr

    Landesweite Massenproteste gegen Preissteigerungen und Steuererhöhungen
    Sofian Philip Naceur
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    Auf den Straßen von Tebourba wird am 9. Januar gegen die Sparmaßnahmen der Regierung demonstriert

    Die am Sonntag in Tunesien ausgebrochenen Proteste halten an und haben inzwischen mindestens ein Dutzend Städte im ganzen Land erfasst. Neben mehreren industriell geprägten Ortschaften im Süden Tunesiens sind auch die Hauptstadt Tunis und die beliebten Touristenhochburgen Hammamet und Sousse betroffen. Lokale Medien melden auch gewaltsame Zusammenstöße zwischen aufgebrachten Demonstranten und der Polizei, die in einigen der betroffenen Städte mit Tränengas gegen die Proteste vorging.

    Dutzende Menschen wurden bislang bei den Ausschreitungen verletzt. Nach Angaben des tunesischen Innenministeriums ließen die Behörden in den letzten zwei Nächten mindestens 237 Protestierende wegen angeblicher Beschädigung öffentlichen und privaten Eigentums und Plünderung verhaften. 45 Polizeifahrzeuge seien beschädigt und 49 Polizisten verletzt worden, heißt es.

    Auf der Insel Djerba wurde derweil ein Brandanschlag auf eine jüdische Schule verübt. Unbekannte hatten offenbar die verringerte Polizeipräsenz auf der Insel für den Angriff ausgenutzt und Molotowcocktails in das Gebäude geworfen. Proteste wurden aus Djerba bisher nicht vermeldet.

    Laut Nachrichtenagentur Reuters hatten Demonstranten am Dienstag versucht, einen Supermarkt in einem Vorort von Tunis zu stürmen. In Tebourba, einer Stadt im Norden des Landes, war am Montag ein Demonstrant unter noch ungeklärten Umständen getötet worden. Offiziellen Angaben zufolge war er erstickt. Inzwischen kursieren allerdings Videoaufnahmen, die belegen sollen, dass der Mann von einem Fahrzeug der Polizei überrollt wurde. Details aus dem Obduktionsbericht des Toten wurde bislang nicht veröffentlicht.

    Grund für die landesweite Erhebung frustrierter Demonstranten ist vor allem die wirtschaftlich angespannte Lage in dem nordafrikanischen Land. Die bisher vornehmlich unorganisierten Proteste richten sich insbesondere gegen die Austeritätspolitik der Regierung, die im Zuge des seit 1. Januar geltenden neuen Staatshaushalts die Steuern erhöht und Subventionen auf Treibstoffe und Grundnahrungsmittel reduziert hatte. Nach den neuerlichen Preissteigerungen eskalierte die Situation und Tausende Menschen gingen auf die Straßen.

    Die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise hat die Inflationsrate auf inzwischen fast sieben Prozent getrieben, während das Lohnniveau weitgehend stagniert. Einkommensschwache Haushalte stehen daher unter massivem Druck. Die jüngsten Austeritätsmaßnahmen stehen auch in Zusammenhang mit einem Kreditabkommen, das Tunesien mit dem Internationalen Währungsfond getroffen hat.

    Die oppositionelle Tunesische Volksfront, ein von Hamma Hammami geführtes linkes Parteienbündnis, stellte sich derweil wie auch der mächtige tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT hinter die Proteste und rief zu weiteren Kundgebungen auf, sollte sich die Regierung der Forderung nach einer teilweisen Rücknahme des neuen Haushalts nicht beugen.

    Demonstrationen wurden unterdessen auch aus der Kleinstadt Sidi Bouzid im Zentrum des Landes gemeldet. Dort hatte sich Ende 2010 der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi aus Protest gegen das Konfiszieren seiner Waren durch die Behörden selbst angezündet und damit die Massenaufstände in Tunesien, die kurz darauf zum Sturz des langjährigen Diktators Ben Ali führten, ausgelöst.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    Fluchtursache Kapitalismus

    Soziale Frage und Flüchtlingselend. Internationale Solidarität muss in diesen Zeiten auch im eigenen Land geübt werden und bedeutet, gemeinsam zu kämpfen
    Günter Pohl
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    Einander fremd. Von der Polizei eskortierte Migranten am 20. Oktober 2015 in der Gemeinde Wegscheid bei Passau

    Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen seit 1990 Millionen Tote und machten Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die Migranten aber kommen in Gesellschaften, in denen verschärfte Konkurrenz unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf von oben geworden sind. Der Aufstieg rassistischer und neofaschistischer Organisationen, die demagogisch die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen, begleitet diese Entwicklung wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken um internationalistische und solidarische Positionen gerungen. Die längst wieder akute soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt von Debatten. Rückt der Kampf gegen die westlichen Kriege, die eine Hauptursache der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund? Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Wir stellen auf diesen Seiten in der heutigen und morgigen Ausgabe die Positionen der vier Diskutanten vor. (jW)

    Internationale Solidarität muss sich heute infolge einer von Kriegen, Verelendung und Umweltbedingungen erzwungenen Migration nicht mehr nur am Erfolg einer Informierung und Mobilisierung hier lebender Menschen für Ereignisse anderswo messen lassen, sondern auch daran, was sie für Menschen tut, die herkommen mussten, um ihrer unerträglichen Situation zu entfliehen.

    Die Unterbringung von Geflohenen und Vertriebenen hat Auswirkungen auf diejenigen Menschen, die schon früher hergekommen sind oder schon immer hier leben, egal welcher Nationalität oder welchen Ursprungs sie sind, mit denen dann fortan der ohnehin schon knappe Wohnraum, prekäre Arbeitsplätze, Bildungschancen oder eine miserable Gesundheitsversorgung zu teilen sind. Das ist durchaus gewollt, wird zumindest billigend in Kauf genommen und führt auch zur Vertiefung von Ressentiments. In kaum einer Stadt werden Flüchtlingsunterkünfte in die Viertel Wohlhabender gesetzt. Und wenn doch, so sind die einheimischen Nachbarn immer noch nicht jenem Druck auf dem Wohnungsmarkt oder dem Arbeitsmarkt ausgesetzt, den die Arbeiterklasse in diesem Land erstens grundsätzlich und zweitens in vielen Städten verschärft wahrnimmt. Hierher geflohene Menschen werden als Lohndrücker missbraucht. Angela Merkel hatte mit ihrem »Wir schaffen das« kaum die Mittelschichten und schon gar nicht die Besitzenden gemeint. »Wir schaffen das« bedeutete von Anfang an, dass die Arbeiterklasse den Gürtel enger zu schnallen habe.

    Internationale Solidarität muss daher heute auch hierzulande geübt werden. »Unsere Willkommenskultur heißt, gemeinsam zu kämpfen«, formulierte die Deutsche Kommunistische Partei 2015 ihren Ansatz. Sie reagierte damit auf die Konkurrenzsituation zwischen denen, die kommen und denen, die schon hier waren. Ein koordinierter Kampf für die gemeinsamen Interessen der Menschen mit und ohne Arbeit, der Menschen mit und ohne deutschen Pass, wird am ehesten allen eine Verbesserung ihrer Situation bringen. Dazu gehören Investitionen in sozialen Wohnungsbau, in das Gesundheitswesen, in Schulen; dafür müssen Hunderttausende Stellen im Kranken- und Pflegebereich, im Baugewerbe und im Bildungswesen geschaffen werden. Der Mindestlohn muss erhöht, der Rüstungsetat zusammengestrichen werden.

    Die Verantwortlichen benennen

    Kriege, Verelendung, vom Menschen verschuldete Umweltkatastrophen – die Analyse der Fluchtursachen ist immer eine, die die Verantwortung des die Menschen und die Natur beherrschenden Wirtschaftssystems nicht ausklammern darf. Wer nicht verinnerlicht, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen, wie es der französische Sozialist Jean Jaurès formuliert hatte, der wird zwar noch einen Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht herstellen können, aber bei der Bekämpfung der Fluchtursachen scheitern, wenn er den Kapitalismus nicht bekämpfen will. Wer zwar einerseits davon überzeugt ist, dass zum Beispiel die Fischerflotten von EU-Staaten vor afrikanischen Küsten für die Zerstörung der örtlichen Fischerei verantwortlich sind oder dass EU-Billigexporte in abhängige Staaten die dortige Ökonomie schleifen, aber andererseits die imperialistische Europäische Union weder als solche analysiert noch entsprechend bekämpft, der dringt auch in diesem Fall nicht zum Kern des Problems vor. Und wem klar ist, dass nicht wenige der Umweltereignisse auf den Klimawandel zurückzuführen sind, dann aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die nationalen und internationalen Monopole nicht angreifen will, lässt diejenigen, die den Auswirkungen des Klimawandels nur wenig ökonomisches Potential entgegensetzen können, im Stich.

    Der Kapitalismus und damit einhergehend der Imperialismus hat diese Prozesse schon immer befördert, aber im 21. Jahrhundert scheinen sich die negativen Auswirkungen zu potenzieren, noch verstärkt durch eine Zunahme der weltweiten Bevölkerung. Eine solidarische Linke muss also zuallererst den Kampf gegen den Kapitalismus führen – oder sie ist keine Linke. Und sie muss benennen, was denn auf den Kapitalismus folgen soll. Für Kommunistinnen und Kommunisten ist das der Sozialismus. Uneindeutige Begriffe wie »solidarische Gesellschaft«, »nachkapitalistische Ordnung« oder »Wirtschaftsdemokratie« zeugen von einer gewissen Furcht, sich zu bekennen, was bei manchen der linken Aktivisten damit zu tun haben mag, dass sie die Art und Weise kritisieren, wie der Sozialismus im 20. Jahrhundert aufzubauen versucht wurde. Aber es hat vor allem mit der Idee zu tun, man müsse nur irgendwelche »Auswüchse« oder »Fehlentwicklungen des spekulativen Finanzkapitalismus« beseitigen, und schon sei alles wieder so friedlich-freundlich wie im westdeutschen »rheinischen Kapitalismus« der Adenauer-Zeit, der ja inzwischen manchen als Modell dient, die von sich sagen, sie seien Linke. Allein gegen vermeintliche Erscheinungsformen des Kapitalismus zu kämpfen, heißt entweder in ihm einen grundsätzlich guten Kern zu sehen oder Illusionen zu verbreiten.

    Nicht antikapitalistisch zu handeln schmälert natürlich nicht notwendigerweise das Potential für eine solidarische Praxis, aber klassenneutrales Agieren behindert zum einen die Bemühungen um Nächstenliebe und verlängert zum anderen der Klassengesellschaft das Leben. Das unterscheidet im übrigen den Begriff der »internationalen Solidarität« vom Internationalismus, dem als Basis die Klassensolidarität zugrunde liegt, weshalb – der Form nach unmodern, dem Inhalt nach zutiefst aktuell – früher vom »proletarischen Internationalismus« gesprochen wurde.

    Internationalistische Hilfe

    »Die internationale Solidarität ist kein Akt der Barmherzigkeit: Sie ist ein Akt der Einheit von Verbündeten, die in unterschiedlichen Gebieten für die Erfüllung desselben Ziels kämpfen. Das allererste dieser Ziele ist es, die Entwicklung der Menschheit auf das höchstmögliche Niveau zu befördern«, sagte der ehemalige Präsident Moçambiques, Samora Machel.

    Moçambique und andere Staaten des südlichen Afrikas haben den Internationalismus Kubas erfahren, der mithalf, sie in die Unabhängigkeit zu führen. Die veränderte Weltlage führte beim selbst immer noch finanziell und wirtschaftlich blockierten Kuba zu veränderten Formen internationalistischer Hilfe wie der medizinischen Programme, aber sie blieb internationalistisch. Solcher Hilfe liegt das Motto zugrunde: »Solidarität bedeutet nicht zu geben, was man übrig hat – sie bedeutet zu teilen, was man hat.«

    Diese staatlichen Möglichkeiten haben einzelne Linke nicht, oft auch nicht solche, die in Parteien zusammengeschlossen sind. Und wer würde tatsächlich alles teilen können, was er oder sie hat? Hiesige Solidaritätsarbeit kann meist nicht über Sammlungen von Geld oder Informationsveranstaltungen hinausgehen, was den Zustand und die Möglichkeiten der Linken in einem der höchstentwickelten imperialistischen Länder entsprechend beschreibt.

    Aber über karitative und informierende Maßnahmen hinaus können und müssen Linke die Dinge wenigstens benennen, wie sie sind, und aus dieser Analyse heraus an den richtigen Stellen Widerstand entwickeln. Dazu gehört auch, die Gründe anzuführen, die Menschen in die Flucht treiben. Fluchtverursacher Nummer eins sind die Kriege der NATO-Staaten, und dazu gehören die Rüstungsgeschäfte, bei denen Deutschland immer ganz vorn dabei ist. Deshalb sollten auch antiimperialistische Positionen in die Friedensbewegung hineingebracht werden.

    Und es geht darum zu wissen, welche Partner, und sei es auf Zeit, auf dem schwierigen Weg hilfreich sind. Das Beispiel Syrien hat gezeigt, wohin die Unterstützung des »Islamischen Staates« durch imperialistische Mächte geführt hat. Am Ende hat das einzige Land, das von der syrischen Regierung für ein Eingreifen autorisiert wurde, für eine Rückkehr von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen gesorgt, nachdem Aleppo vom IS befreit war. Das militärische Eingreifen der Russischen Föderation war eine Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung, territoriale Integrität und Nichteinmischung. Diese Prinzipien sind die wichtigste Bastion gegen kapitalistische Kriege um Rohstoffe, regionale Neuordnung und Umzingelung künftiger militärischer Gegner, wie es die Russische Föderation und die Volksrepublik China sind. Deshalb ist die Verteidigung der Vereinten Nationen und ihrer Grundsätze ein wirksames Mittel gegen Flucht und Vertreibung. Und damit ein Akt der internationalen Solidarität.

  • 21.09.2021 14:11 Uhr

    »Mein Paradies ist hier!«

    Die Europäische Union finanziert in Afrika Propagandaveranstaltungen gegen Migration. Über die strukturellen Ursachen dieser schweigt sie
    Fabian Wagner
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    Umhängetaschen zum Mitnehmen im Kinosaal des Französischen Instituts in Abidjan im Rahmen einer Nebenveranstaltung des EU-Afrika Gipfels 2017. Aufschrift: »Nein zur ungeregelten Migration!«

    Was für eine bizarre Szene an diesem heißen Novemberabend in Abidjan, der Hauptstadt der westafrikanischen Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste): ein Stadion, gefüllt mit jungen Menschen, skandiert auf Geheiß des ivorischen Fußballsuperstars Didier Drogba: »Ich schwöre, ich wandere nicht aus! Ich schwöre, ich wandere nicht aus! Ich schwöre, ich wandere nicht aus!« Die Menge eingeheizt hatte die auch international bekannte ivorische Band »Magic System« auf der Veranstaltung am Vorabend des 5. Gipfeltreffens von Afrikanischer und Europäischer Union (AU-EU). Das Stadion brummt unter Rufen und Gesängen Hunderter junger Leute, die alle auf die Ankunft Drogbas warten, eines Idols der ivorischen Jugend. Es handelte sich nicht um ein einfaches Konzert. Vielmehr befand ich mich inmitten eines von der EU finanzierten Propagandaevents gegen Migration. Die kurzen Ansprachen zwischen den Songs, Drogbas Rede, die Interventionen der hochrangigen Gäste, alles hatte die gleiche Botschaft: »Auswandern ist keine Lösung für unsere Probleme«, sagte der Sänger der Band. »Die beste Art, glücklich zu werden, ist, hier bei uns zu bleiben.« Die Ehrengäste, darunter die Minister für Jugend und Kultur, folgten in gleicher Manier: »Wir haben dieses Konzert nicht nur organisiert, um Jugendliche über die praktische Ausbildung zu informieren, sondern vor allem, um über illegale Migration aufzuklären.«

    »Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen« sind ein zentraler Bestandteil von Europas »Fluchtursachenbekämpfung«. Der 2015 geschaffene Nothilfetreuhandfonds der EU »zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen in Afrika« stellt eine Million Euro für »die Schaffung eines Bewusstseins für die Gefahren der illegalen Migration« bereit. Einzelne Mitgliedsstaaten geben für ähnliche Maßnahmen noch einmal zusätzliches Geld.

    Das Konzert war nicht die einzige Nebenveranstaltung des EU-AU-Gipfels in Abidjan. Einige Tage später fand ich mich im Publikum einer Podiumsdiskussion wieder, bei der acht Gäste zwei Stunden über Fluchtursachen diskutierten, ohne dass ein einziges Mal die Rolle Europas zur Sprache gekommen wäre. Finanziert vom Auswärtigen Amt und unterstützt von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), organisierte das Französische Institut in Abidjan eine Diskussion und Filmvorführung darüber, wie die Debatte um Migration »entemotionalisiert« werden könne. In Wahrheit war die Veranstaltung selbst jedoch voller Emotionen: traurige Gesichter von Müttern, die ihre flüchtenden Kinder an die See verloren haben, gruselige Filmaufnahmen toter Körper, die an die Strände des Mittelmeers schwappen, verstörende Handyclips eines Mannes, der in einer libyschen Zelle verzweifelt »Helft mir!« flüstert, bevor er von seinen Peinigern ins Gesicht geschlagen wird, und zum Schluss deprimierte Geflüchtete, die, zurück in Westafrika, aus dem Abschiebeflieger steigen. Die Botschaft hätte nicht klarer sein können: Wenn du emigrierst, passiert dir all das, und du bist selbst Schuld.

    Im Raum sind Infomaterialien verteilt, die das noch einmal wiederholen. »Nein zur ungeregelten Migration!« steht auch auf der Vorderseite der Umhängetaschen, die auf Stühlen zum Mitnehmen liegen. Auf der anderen Seite in den Umrissen der Côte d’Ivoire : »Mein Paradies ist hier.« Ein Poster proklamiert: »Das Meer tötet, die Wüste auch. Nein zur illegalen Migration!« Dasselbe ist auch auf großformatigen Werbeplakaten zu lesen, die entlang der Hauptfluchtrouten in ganz Westafrika aufgestellt wurden.

    Einige Wochen vor meinem Aufenthalt in Abidjan besuchte ich in der Hauptstadt Äthiopiens, Addis Abeba, eine Konferenz der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Für »Africa talks Jobs« wurden mehr als 300 Jugendliche aus Afrika und Europa eingeflogen, um darüber zu diskutieren, wie Afrikas Jugend in Arbeit gebracht werden kann, vor Ort natürlich. Europas Rolle war wieder nur auf die des wohlwollenden Unterstützers beschränkt. Kritische Stimmen? Fehlanzeige.

    Die Beispiele zeigen, wie riskant es für progressive Kräfte ist, blind auf den Zug der Erzählung von der »Fluchtursachenbekämpfung« aufzuspringen. Im besten Fall ist das nur ineffizient. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die Erzählung von den eigentlichen Problemen ablenkt und der Erhaltung des ungerechten Status quo dient. Für linke und progressive Kräfte kann die Bekämpfung der Fluchtursachen nur heißen, systemische Veränderungen anzustoßen. Würde Europa sein ausbeuterisches Handelssystem ändern, anstatt Fußballspieler zu Propagandainstrumenten zu machen, wer weiß, vielleicht wäre Côte d’Ivoire dann wirklich ein Paradies für die eigene Jugend.

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