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Aus: Ausgabe vom 20.10.2016, Seite 11 / Feuilleton

Zwei Frauen im Zug (Teil eins)

Von Wiglaf Droste

Der Zug nach Hause war so voll, dass nicht wenige Passagiere nur noch Stehplätze bekamen, obwohl sie Sitzplätze bezahlt hatten, aber so ist die Bahn, sie sagt: »Tja, so ist das Leben«, und das war es dann, ein vernünftiges Buchungssystem oder gegebenenfalls Regress gibt es nicht.

Eine Frau Anfang 40 stand im Gang, sie trug – der ICE hatte auch die Station Frankfurt (Main) Flughafen passiert – den blauen Mantel einer Stewardess und war sichtlich stehend k.o.; ich sah sie, sie sah mich, mit einer einladenden Handbewegung bot ich ihr meinen Sitzplatz an, sie lächelte und machte eine dezent abwehrende Geste.

Sie war – möglicherweise durch Naturell und Erziehung und ganz sicher geschult durch ihre Arbeit – eine höfliche Frau, gewohnt, das Reisen für andere möglichst angenehm zu gestalten und nicht daran, es von anderen bequem gemacht zu bekommen. Aber jetzt hatte sie frei und war nur noch eine schöne, müde Frau, und ihr meinen Sitzplatz zu offerieren war für mich, solange ich noch stehen und atmen konnte, eine Selbstverständlichkeit. Also wiederholte ich meine Geste, sie wehrte abermals ab, das Spiel wiederholte sich, bis ich aufstand, meine Ledertasche schulterte und mit einer letzten Geste den Platz räumte, für sie freigab und mich trollte, um ihr zu signalisieren, dass ich ihr ganz bestimmt kein Gespräch oder einen Flirtversuch aufdrücken wollte.

Einmal drehte ich mich noch halb um und sah mit Freuden, dass sie mein Angebot angenommen hatte, was mir mein Stehen im Gang sehr erleichterte. Sich von widrigen Bedingungen in die Unwirschheit treiben zu lassen, wäre ein Akt der Kapitulation, gegen den immer noch ein Verdikt von Bruce Springsteen gilt, dessen man sich angesichts der herrschenden Verhältnisse nicht oft genug entsinnen kann: »No retreat, baby, no surrender!« das so rebellenhaft klingt, wie alles Konservative, richtig verstanden, eben ist.

Lesen Sie morgen: Wie eine ältere Dame dem Tünseltown-Rebel auf der Zugfahrt den Rest gibt

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