Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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»Wir müssen die Solidarität beibehalten«

Über den Zustand von Labour, jüngste Arbeitskämpfe in Britannien und die Macht der Masse. Ein Gespräch mit Jeremy Corbyn
Von Dieter Reinisch
Jeremy Corbyn auf einer Demonstration gegen Rassismus in London (November 2021)

Anfang der Woche sprachen Sie im Unterhaus über den Gazakrieg und kritisierten die Politik der britischen Regierung. Labour schweigt zum Krieg Israels gegen Gaza. Wie geht es Ihnen, wenn sie Keir Starmer sehen, der sich weigert, für einen Waffenstillstand einzutreten?

Dass es keinen Waffenstillstand gibt, zeigt das katastrophale Versagen der politischen Führung auf globaler Ebene. In den letzten Monaten mussten die Menschen ein Ausmaß an Grauen ertragen, das uns für immer verfolgen wird. Trauernde Mütter, Stadtteile ausgelöscht, Ärzte führen Amputationen ohne Betäubung durch, Tausende verwaiste Kinder.

Deshalb habe ich immer wieder einen Waffenstillstand gefordert, und es ist unverständlich, dass sich so viele meiner Parlamentskollegen weigern, dasselbe zu tun. Ein Waffenstillstand ist die grundlegendste Forderung, um das Morden zu beenden – diese Forderung muss von jedem Abgeordneten gestellt werden, der glaubt, dass jedes menschliche Leben den gleichen Wert hat.

Auch zur Gewerkschaftsbewegung schweigt Starmer. Der gesundheitspolitische Sprecher der Partei meinte sogar, die Ärztestreiks seien falsch. Ist Labour noch eine Partei der britischen Arbeiter?

Als ich der Labour Party beitrat, schloss ich mich einer von Gewerkschaften gegründeten Bewegung an. Als ich Abgeordneter wurde, wurde ich für das Versprechen gewählt, mich den Streikposten der Arbeiter anzuschließen. Die Entscheidung, ob die Streikenden unterstützt werden, sollte keine Frage der Strategie oder des Wahlmanagements sein. Es ist eine Grundsatzfrage – und es sollte einer von Gewerkschaften gegründeten Partei nicht schwerfallen, diesen Grundsatz zu unterstützen.

Denken wir daran, dass Ärzte, Lehrer und Bahnpersonal nicht nur streiken, um ihre Gehälter zu schützen und die Reallohnverluste auszugleichen. Sie streiken, um unsere öffentlichen Dienstleistungen zu retten, die Armut zu beenden und sich gegen die Gier der Unternehmen zu wehren. Politiker mögen ihr Bestes tun, um Arbeiter und Öffentlichkeit gegeneinander auszuspielen. Aber Arbeiter sind die Öffentlichkeit, und die Öffentlichkeit sind die Arbeiter – und letztendlich werden bei Streikaktionen Siege für uns alle errungen!

Es gibt Massenproteste gegen den Gazakrieg, und seit Juni 2022 sind Millionen von Arbeitern in den Streik getreten, ohne dass sie von der Labour-Führung Unterstützung erhalten hätten. Dennoch liegt Starmer in den Umfragen mit mehr als 20 Prozent vorn. Interessieren sich die britischen Wähler nicht für Gaza und Arbeiterfragen?

Die Menschen im ganzen Land haben die Nase voll von einer Tory-Regierung, die in den letzten 14 Jahren unsere öffentlichen Dienste dezimiert und Millionen Menschen in die Armut gestürzt hat.

Aber es reicht nicht aus, die Tories zu besiegen. Es gibt einen Grund, warum Hunderttausende Menschen für Frieden und Gerechtigkeit für das palästinensische Volk marschiert sind. Es gibt einen Grund, warum eine große Zahl von Menschen in den Streik getreten ist. Es gibt einen Grund, warum Tausende auf die Straße gehen, um zu fordern, dass wir unsere Energie, Wasser, Bahn und Post in öffentliche Hände geben: Es gibt eine breite Nachfrage nach transformativen Veränderungen. Von Mietpreisbindungen über öffentliches Eigentum, Vermögenssteuern bis hin zu Sozialwohnungsbauten und einem nationalen Pflegedienst bis hin zu einem »Green New Deal« – die Menschen erkennen die Notwendigkeit mutiger Lösungen für die Krisen, mit denen wir alle konfrontiert sind.

Der Wunsch nach transformativen Veränderungen ist groß. Wir können es uns nicht leisten, diese Energie verpuffen zu lassen. Wir brauchen die Umverteilung von Reichtum und Macht, um eine investitionsgesteuerte Wirtschaft aufzubauen, die sich an menschlichen Bedürfnissen orientiert und nicht an der Gier der Unternehmen!

Lassen Sie uns über das vergangene Jahr in Großbritannien sprechen. In den letzten 18 Monaten gab es die größte Streikwelle seit Margaret Thatcher. Welche bleibenden Auswirkungen werden diese Ausstände haben?

Die unmittelbare Auswirkung wird eine bessere Bezahlung der arbeitenden Bevölkerung sein. Längerfristig gesehen, haben diese Streiks dazu geführt, dass in den Menschen das Gefühl geweckt wurde, dass kollektives Handeln möglich ist. Immer mehr Menschen erkennen, dass sie nicht zurückstecken und die ungleichen, unfairen und ungerechten Bedingungen dieser Wirtschaft akzeptieren müssen. Dass sie gemeinsam viel mehr erreichen können als allein. Dass in der Einheit wahre Kraft liegt.

In diesem Sinne ein großes Lob an die RMT, deren entschlossenes Handeln und die offensichtliche Entschlossenheit ihrer Mitglieder, die Streiks zu unterstützen, die sowohl die Regierung als auch die Londoner Verkehrsbetriebe dazu zwangen, eine Stunde vor Ablauf der Frist ihren Forderungen nachzugeben. (Corbyn spricht hier die kurzfristige Absage der Streiks der Londoner U-Bahn-Angestellten an, da der Betreiber vergangenes Wochenende Gesprächen mit der RMT-Gewerkschaft zugestimmt hat. jW)

Ich hoffe, dass die Streikaktion zu einer neuen Welle der gewerkschaftlichen Rekrutierung führen wird, die ansonsten isolierte Arbeiter zusammenbringt: junge Menschen, diejenigen, die in der Gig-Economy tätig sind, und diejenigen, die zu Hause unbezahlte Arbeit leisten. Die jüngsten Aktionen der Amazon- und Starbucks-Mitarbeiter geben uns die dringend benötigte Hoffnung, dass wir Erfolg haben können.

Wir beginnen das Jahr in einer Zeit enormen und intensiven Stresses für viele Arbeiter, insbesondere im Gesundheitswesen und im Bildungswesen. Es ist wichtig, dass wir sicherstellen, dass die kollektive Solidarität, die wir im Jahr 2023 gezeigt haben, nicht nur im Jahr 2024 anhält, sondern auch an Größe und Breite zunimmt.

Anstatt mit den Gewerkschaften zu verhandeln, führte die Tory-Regierung ein Antistreikgesetz ein, die Minimum Service Bill. Was muss getan werden, um den Gesetzentwurf zu vereiteln?

Wir haben bereits einige der gewerkschaftsfeindlichsten Gesetze der Welt. Zu behaupten, dass die aktuelle Wirtschaftskrise durch eine weitere Verschärfung gelöst werden kann, ist absurd und eine Beleidigung für die Millionen von Arbeitern, die ums Überleben kämpfen. Es handelt sich um eine Sündenbockstrategie, die sich durch die gesamte Agenda der Regierung zieht.

Ich werde weiterhin meine Stimme im Parlament nutzen, um dieses drakonische Gesetz aufzuheben, und mich dafür einsetzen, meine Kollegen aus allen Parteien zu ermutigen, dasselbe zu tun. Die Aufhebung der Antistreikgesetze ist nicht nur zwingend erforderlich, sie ist das absolute Minimum. Wir müssen die Arbeiterrechte nicht nur verteidigen. Wir müssen sie aufbauen, erweitern und verstärken – und das positive Recht verteidigen, einer Gewerkschaft beizutreten und von ihr vertreten zu werden, unabhängig davon, ob die Unternehmen sie anerkennen oder nicht.

Viele politische Aktivisten in Großbritannien waren begeistert, als Sie an die Spitze der Labour-Partei kamen. Was ist Ihre glücklichste und stolzeste Erinnerung an Ihre Jahre als Parteichef?

Ich war stolz auf das transformative Programm, das wir vorgelegt haben: ein Green New Deal, öffentliches Eigentum, Arbeiterrechte, Würde von Migranten und Flüchtlingen und eine ethische Außenpolitik, die auf Frieden und Gerechtigkeit basiert. Ich habe mich im Namen der Labour Party für ihre beschämende Rolle im Irak-Krieg entschuldigt.

Unsere Politik wurde nicht von oben durchgesetzt. Sie wurde von Mitgliedern entwickelt, formuliert und verteidigt. Dank der Mitglieder konnten wir eine Partei aufbauen, die stolz gegen Austerität und für Antiimperialismus eintrat. In diesem Sinne bin ich am stolzesten auf die Art von Bewegung, die wir gemeinsam aufgebaut haben: kollektiv, demokratisch und gemeinschaftsbasiert.

Als ich zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, erkannte ich, dass mich meine Parteikollegen dorthin geschickt hatten. Die größten Probleme, die vor mir lagen, würden von Abgeordneten ausgehen, die meiner Führung feindlich gegenüberstanden, und es erforderte viel Zeit und Durchhaltevermögen, sie zu lösen. Einige Leute waren der Meinung, dass sie dadurch gelöst werden sollten, dass man Kandidaten durchdrückt, Entscheidungen durchsetzt und Diktate auferlegt. Für mich war die Parteiendemokratie viel zu wichtig. Wahre Stärke entsteht durch die Stärkung der Masse der Mitglieder und der angeschlossenen Gewerkschaften. Meine Philosophie bestand darin, die Parteiendemokratie zu verbessern. Es ist kein Zufall, dass die Mitgliederzahl auf 600.000 gestiegen ist.

Demokratie ist für eine gesunde, kreative und kollektive Bewegung unerlässlich. Und letztendlich kann nur eine Partei, die ihre Mitglieder stärkt, die transformative Politik vorantreiben, die dieses Land dringend braucht.

Und Ihre größte Enttäuschung?

Es bleibt eine bittere Enttäuschung, dass es uns nicht gelungen ist, unsere Massenbewegung in eine Mehrheit für einen transformativen Wandel umzusetzen. Doch die Niederlage bedeutet keinen Rückschritt. Wir wussten, dass die Krise in den Bereichen Wohnen, Gesundheit und Klima nicht aufhören würde. Und wir wussten, dass der Wunsch nach einer neuen Art von Politik nicht verschwinden wird.

In diesem Jahr finden Parlamentswahlen statt. Was wird Jeremy Corbyn am Wahltag tun?

Ich bin sehr stolz, Abgeordneter für Islington North zu sein. Seit 40 Jahren setzen wir uns gemeinsam für eine gleichberechtigtere, nachhaltigere und friedlichere Gesellschaft ein – und wir werden das weiterhin tun.

Welche Aufgabe werden Gewerkschaften und linke Aktivisten unter einer von Starmer geführten Labour-Regierung haben?

Seit ich 1983 Abgeordneter für Islington North wurde, habe ich die damalige Regierung für das Streben nach einer gleichberechtigteren Gesellschaft in die Pflicht genommen. Das war unabhängig davon der Fall, wer der Premierminister ist und welcher Partei er angehört. Das werde ich auch weiterhin tun.

Als Abgeordneter ist es meine Aufgabe, meine Wähler zu vertreten und mich für die Themen einzusetzen, die ihnen am Herzen liegen: Wohnungskrise, Gesundheitswesen, Ungleichheit, Verschwinden unserer Grünflächen, soziale Isolation und psychischer Stress. Ich habe immer eine fortschrittliche Politik unterstützt, die darauf abzielt, Reichtum und Macht neu zu verteilen – und werde das auch weiterhin tun.

Allerdings werden wir den transformativen Wandel nicht allein im Parlament herbeiführen. In der Politik sollte es darum gehen, Menschen zu befähigen, zusammenzukommen und Veränderungen herbeizuführen. Das bedeutet, gegenseitige Hilfe aufzubauen, Arbeiter bei Streiks zu unterstützen und Mietergewerkschaften beizutreten. Ich bin stolz darauf, in den letzten 40 Jahren an so vielen dieser Kampagnen in Islington teilgenommen zu haben – darum geht es bei der Arbeit als Abgeordneter.

Jeremy Bernard Corbyn wurde am 26. Mai 1949 in Chippenham, Wiltshire, geboren. Er ist britischer Gewerkschaftsfunktionär und linker Politiker der sozialdemokratischen Labour Party. Seit 1983 vertritt er den Wahlkreis Nord-Islington, London, im britischen Unterhaus. Von 2015 bis 2020 war er Parteivorsitzender und Oppositionsführer. Nach der britischen Unterhauswahl 2019 erklärte er, sich als Parteichef zurückziehen zu wollen. Im April 2020 übernahm Keir Starmer den Parteivorsitz von Corbyn, der seit Oktober 2020 fraktionsloser Abgeordneter im Unterhaus ist. Corbyn war auf der XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz als Referent vorgesehen, kann aber aus aktuellem Anlass nicht persönlich vor Ort sein. Er wird statt dessen mit einer Grußbotschaft vertreten sein

jungewelt.de/rlk

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