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21.12.2021 19:30 Uhr

»Es geht ums Überleben«

Serbische Verhältnisse: Neokolonialismus, Korruption, Armut und eine neue Protestbewegung. Ein Gespräch mit Srdan Golubovic
Von Roland Zschächner
Nach Belgrad, nach Belgrad: Goran Bogdan als Nikola

Seit Anfang Dezember läuft Ihr Film »Otac« in den deutschen Kinos. Bereits im vergangenen Jahr wurde er bei der Berlinale ausgezeichnet. Der Film basiert auf dem Schicksal eines armen Mannes, dem die Kinder weggenommen werden. Wie ist dessen Geschichte ausgegangen?

Dieser Mann hat seine Kinder erst vor kurzer Zeit zurückbekommen. Er hat dafür sechs Jahre gekämpft. Ich weiß nicht, ob er es ohne die Aufmerksamkeit durch den Film geschafft hätte. Denn nach der Premiere in Belgrad bewegte sich etwas. Minister haben sich des Problems angenommen. Als »Otac« dann im Fernsehen gezeigt wurde, wurde der Mann sogar zum Präsidenten eingeladen. Leider gibt es viele Fälle wie diesen in Serbien, die nicht dieselbe Aufmerksamkeit bekommen.

Was hat Sie neben dem konkreten Fall noch motiviert, »Otac« zu drehen?

Ich mag es, Filme über Menschen zu drehen, die an ihre Grenzen gehen müssen, aber eigentlich keine Probleme suchen, sondern versuchen, ihr Leben zu leben. Aber das Leben kommt zu ihnen und ändert alles. Wenn die Menschen dazu gezwungen sind, Entscheidungen zu fällen, dann zeigen sie ihr wahres Gesicht.

Ihr Protagonist, der Vater Nikola, bleibt immer ruhig. Warum wird er selbst bei der größten Ungerechtigkeit nicht wütend?

Nikola ist jemand, der daran gewöhnt ist, alles zu ertragen. Leid gehört zu seinem Leben. Im Laufe des Films lernt er, aktiv zu werden und die Dinge in die Hand zu nehmen. Als er das versteht, erhält er seine Würde zurück und wird zu einem neuen Nikola. Die Figur ist ein Symbol dafür, dass es sich selbst in einer aussichtslosen Situation lohnt, etwas zu tun. Dabei ist Nikola nicht nur eine serbische Figur, seine Geschichte könnte überall auf der Welt spielen.

Wie wurde der Film in Serbien aufgenommen?

Er war ein Erfolg. Dazu haben auch die beiden Auszeichnungen auf der Berlinale beigetragen. 15.000 Menschen haben ihn innerhalb von knapp zwei Wochen gesehen. Das ist großartig für diese Art Film. Doch dann kam der Lockdown.

Wenige Monate später wurde »Otac« auch im Fernsehen gezeigt. Die Reaktionen waren geteilt: Ein Teil mochte ihn, doch diejenigen, die der Regierung nahestehen, kritisierten, dass er kein realistisches Bild der Verhältnisse in Serbien zeige. Sie sagten, das Land sei nicht so arm, und es gebe nicht solche Probleme mit Korruption. Ich kann dem nur erwidern, dass ich kein Zerrbild zeichnen wollte. Für mich zeigt »Otac« Serbien genau so, wie es ist.

Filmsprache und Inhalt sind sehr realistisch, auch werden wichtige Themen angesprochen.

Ein Beispiel ist Korruption, meines Erachtens eines der größten Probleme in Serbien. Im ersten Teil des Films spielen einige Szenen im Sozialamt, dessen Chef korrupt ist. Er verdient Geld damit, dass er Eltern die Kinder wegnimmt und an Pflegeeltern gibt. Was dieser Amtsleiter im Film sagt, habe ich aus Gerichtsakten von ähnlichen Fällen. Das zeigt, wie nah an der Realität der Film ist.

Das Phänomen Korruption gibt es aber nicht nur in Serbien.

Korruption ist auf dem ganzen Balkan verbreitet und funktioniert – egal, ob in Bosnien und Herzegowina, Mazedonien oder EU-Ländern wie Bulgarien und Rumänien. Korruption zwingt uns, Teil des korrupten Systems zu werden. Wir fangen an, darin zu denken, denn es scheint der einzige Weg zu sein, um über die Runden zu kommen.

Korruption und niedrige Löhne sind auch ein Resultat des neoliberalen Kapitalismus.

Der Übergang zum Kapitalismus verlief chaotisch. In Jugoslawien kamen noch die Kriege hinzu. In Serbien dauerte diese Zeit zehn Jahre. Das Ergebnis ist dieser wilde, neoliberale Kapitalismus. Hinzu kommt, dass serbische Politiker keine Ahnung haben, wie eine normale Gesellschaft gestaltet wird. Statt dessen verkaufen sie das Land aus, so dass wir in einer Kolonie leben. Konzerne wie Rio Tinto können da machen, was sie wollen.

Das britisch-australische Bergbauunternehmen plant eine riesige Mine in Westserbien, um Lithium abzubauen. Die Regierung verspricht neue Jobs, was angesichts der anhaltenden Deindustrialisierung kein schlechtes Versprechen ist.

Neokoloniale Verhältnisse sind interessant, denn sie beginnen, wenn man selbst nichts mehr produzieren kann. Dann ist man gezwungen, Kompromisse zum eigenen Nachteil einzugehen. Dabei ist Serbien nicht die Kolonie von nur einem Land, sondern von vielen. Das heißt aber auch, es gibt keinen einzelnen Gegner, keine alleinige Kolonialmacht.

In Serbien gibt es ein Gesetz, dass ausländischen Investoren enorme Unterstützung der Regierung bekommen können. Unter anderem können sie drei Jahre lang einen Zuschuss für die Löhne erhalten. Das gilt wohlgemerkt nur für ausländische Investoren, nicht für serbische. Auch gelten auf manchen Fabrikgeländen nicht die serbischen Gesetze, sondern die des jeweiligen Herkunftslandes der Firma. So werden die Tore für den Kolonialismus weit geöffnet.

Wäre das auch ein Thema für einen Film?

Selbstverständlich. Serbien ist momentan kein guter Ort zum Leben, doch sehr interessant, um Filme zu drehen oder Bücher zu schreiben. Es gibt viele unglaubliche, absurde Geschichten. In einem Drehbuch wäre es schon wieder unrealistisch. Aber so ist unglücklicherweise die Realität, wie sie auch in »Otac« zu sehen ist.

Das sind alles keine guten Aussichten. Gibt es überhaupt noch Hoffnung auf Veränderung?

Natürlich. Die Hoffnung speist sich aus der Solidarität, die auch im Film gezeigt wird. Etwa, wenn Nikola in Belgrad vor dem Ministerium sitzt und ihm Unbekannte Essen vorbeibringen. Er muss deswegen sogar weinen. Oder als eine Mitarbeiterin des Sozialamts ihm am Ende anbietet, ihm zu helfen. Sie ist die erste aus dem System, die ihm wirklich helfen will.

Doch abseits des Kinos braucht es tiefgreifende politische Veränderung. Die ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Denn es gibt viele gut ausgebildete Menschen, die sich auch für ihr Land engagieren wollen. Wir sind an einem Punkt, an dem es so nicht mehr weitergehen kann.

Nun protestieren seit Wochen Tausende Menschen gegen die Regierung. Was halten Sie davon?

Das ist das beste, was in Serbien in den vergangenen zehn Jahren passiert ist. Niemand hat erwartet, dass Umweltproteste die größte Bedrohung für Präsident Aleksandar Vucic sein könnten. Das klingt seltsam für Serbien. Doch das Problem ist so groß geworden, dass die Menschen deswegen auf die Straße gehen.

Dabei geht es ums Überleben, darum, das Land zu retten. Die Menschen in Westserbien, wo die Lithiummine entstehen soll, kämpfen gegen diese schmutzigste Form des neoliberalen Kapitalismus. Ihnen werden Arbeitsplätze und Geld für die nächsten 50 Jahre versprochen. Aber wenn die Mine schließt, kann niemand mehr dort leben, weil die Umwelt komplett zerstört ist.

Manche haben bei Ihrem Film Parallelen zu Ken Loach gezogen. Ich habe auch an Zelimir Zilnik gedacht, dessen Protagonisten ebenfalls einen Prozess der Selbstermächtigung erfahren.

Ich mag Ken Loach sehr, aber ich war für diesen Film nicht von ihm inspiriert, sondern vor allem von der Schwarzen Welle, der »Crni talas«, in Jugoslawien der 60er und Anfang der 70er Jahre. Ich habe mich dazu entschlossen, den Weg der Crni talas zu gehen. Schließlich müssen wir unsere Traditionen bewahren, um einen Anfangspunkt für unsere Arbeit zu haben.

Das ist interessant. Ich habe oft den Eindruck, Serbien zehrt noch bis heute vom jugoslawischen Erbe – das betrifft die Infrastruktur, aber auch Krankenhäuser, Schulen oder kulturelle Errungenschaften.

Absolut. Das beste Beispiel war meine Coronaerkrankung im vergangenen Jahr, als ich ins Krankenhaus musste. Das war komplett zugrunde gerichtet. Trotz des Zustandes des Gebäudes fühlte ich mich sicher, denn die Menschen dort wussten, was sie taten. Das funktionierende Gesundheitssystem ist etwas, das aus Jugoslawien noch teilweise überdauert hat. Für mich war wichtig zu sehen, dass es auch in Serbien noch Menschen gibt, die ihre Jobs vernünftig machen. Das lässt mich hoffen, dass wir eines Tages wieder an die früheren Ideale anknüpfen und eine andere Gesellschaft aufbauen können.

Es gibt noch Solidarität. Sie ist das wichtigste für mich. Klar, wir leben momentan im Kapitalismus und werden ihn sobald nicht los, aber wir können dem Individualismus etwas entgegenstellen und versuchen, so solidarisch wie möglich zu sein.

Welche Rolle kann das Kino dabei spielen?

Die Kunst hat wegen der neuen Medien in den vergangenen Jahrzehnten an Macht verloren. Für den Einzelnen ist es schwerer zu verstehen, was wichtig ist. Filme können dabei helfen, indem sie wichtige Themen aufgreifen. So hat das Kino die Macht, Menschen zu verändern.

In den vergangenen Jahren gab es viele gute Filme aus Serbien. Ein Grund dafür ist, dass wir nicht den Luxus haben, Filme über unwichtige Themen zu machen. »Otac« wurde vorgeworfen, dass er antiserbisch sei, weil er der Welt ein falsches Bild vermittle. Ich denke, die Filme sind die patriotischsten, die wichtige gesellschaftliche Fragen behandeln und das wirkliche Leben auf die Leinwand bringen. Das ist die Aufgabe von Kunst: den Finger in die Wunde zu legen.

Srdan Golubovic ist 1972 in Belgrad geboren. Er ist Regisseur, Drehbuchautor und Dozent für Regie an der Fakultät für dramatische Künste in Belgrad. Im Rahmen des Kulturprogramms der Rosa-Luxemburg-Konferenz wird ein Filmgespräch mit ihm über seinen Film »Vater – Otac« stattfinden

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