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Aus: Ausgabe vom 11.11.2009, Seite 13 / Feuilleton

Aus den Tagesordnungen

Erfahrungsgemäß ist mit Dichtung keinerlei Geld zu verdienen. Und Hans Magnus Enzensberger ist ein Topdichter. Heute wird er 80. Der Mann, der den Neckermann-Katalog rezensierte, eine legendäre Kultur-Tätlichkeit wie Peter Handkes »Publikumsbeschimpfung« oder Nikel Pallats Versuch, live den Tisch einer WDR-Talkshow mit einer Axt zu spalten. Enzensberger, der in den sechziger Jahren »nicht mehr den Kommunismus, sondern die Revolution« auf der »Tagesordnung« sah, reiste nach Kuba und war politisch frustriert. Trotzdem dürfte jeder linke westdeutsche Gymnasiast sein Buch über die spanischen Anarchisten »Der kurze Sommer der Anarchie« gelesen haben.

Weil mit Dichtung kein Geld zu verdienen ist, wurde Enzensberger über die Jahre zum Großessayisten des liberalen Bürgertums, dessen zunehmenden Rechtsdrall er seit Mitte der 80er geradezu lässig ideologisch antizipierte. Immer geistreich, elegant und unterhaltsam schrieb er gegen das, was die FAZ als »linke Gemütlichkeit« verachtet – was ja für einen Intellektuellen auch sehr gemütlich ist. Aus diesen Gründen erklärte ihn die Süddeutsche Zeitung schon 1995 zum »behänden Mystiker«, der dann auch prompt die Bewaffung der Kosovo-Albaner forderte und den Eimarsch der USA in den Irak verteidigte. An seinen Printprojekten kann man diesen Turn in den publizistischen Pragmatismus als Propagierung des Bestehenden nachvollziehen. Vom Kursbuch (60er), über Trans-Atlantik (80er) zur »Anderen Bibliothek« (ab 1985) verkaufte Enzensberger seine zunehmende politische Einfallslosigkeit als besondere Form der Phantasie. (jW)

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