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11.01.2023 19:30 Uhr

Warum wehren sich die Menschen nicht?

Die allgemeine Lage ist angesichts von Krieg und Krise wenig erbaulich. Doch die Proteste bleiben verhalten
Von Thilo Nicklas

Den Abschluss der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz bildet traditionell die Podiumsdiskussion. Sie steht dieses Mal unter dem Motto »Kämpfen in der Krise. Der Krieg und die soziale Frage«. Wie in den Jahren zuvor haben wir die Diskutantinnen und Diskutanten auch in diesem Jahr gebeten, ihren Standpunkt zum nämlichen Thema vorab vorzustellen. In der Ausgabe von Mittwoch sind die Positionen von Melina Deymann und Christin Bernhold erschienen. (jW)

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist zu verurteilen. Zur Wahrheit gehört aber, dass für diesen Krieg auch die europäische Politik und die NATO in der Verantwortung stehen. Die Staaten der Europäischen Union, besonders Frankreich und Deutschland, haben es von 2014 bis zum Februar 2022 nicht geschafft, gemeinsam mit Russland und der Ukraine eine friedliche Lösung für die Gebiete Lugansk und Donezk zu finden. War der letzte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow naiv, als er annahm, für das Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, reiche eine mündliche Zusage? Wahrscheinlich hätte er auf einer schriftlichen Fixierung bestehen sollen.

Seit 1999 traten immer mehr Staaten des früheren Warschauer Vertrags der NATO bei. Für Russland am schwersten zu verdauen: der Beitritt der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 2004. Hinzu kommt die Einflussnahme auf die politische Ausrichtung der Ukraine seit 2014. Das Land strebte immer weiter nach rechts. Der faschistische Überfall auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, bei dem 40 Menschen ums Leben kamen, wurde bis heute nicht aufgeklärt. Das inzwischen in die ukrainische Nationalgarde eingegliederte Asow-Regiment trägt faschistische Symbole und unterhält Trainingscamps für Neonazis aus ganz Europa.

Gegenwärtig erschüttern rund 25 Kriege und Konflikte die Welt, hierzulande aber ist einzig vom Krieg in der Ukraine die Rede. Im Jemen sterben seit Jahren zu Tausenden Männer, Frauen und Kinder an den Folgen des Krieges, den Saudi-Arabien – mit Waffen aus den USA und Deutschland – gegen das Land führt; und keiner spricht darüber. Der NATO-Staat Türkei bombardiert Gebiete in Syrien und im Irak und erobert gegen die kurdische Bevölkerung einen 30 Kilometer breiten »Sicherheitsstreifen«. Israel treibt die Bebauung des Westjordanlands immer weiter voran, kaum einer auf internationaler Ebene nimmt daran Anstoß. Libyen, wenngleich autoritär regiert, verfügte über ein ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem – bis die NATO mit Bomben und Raketen angriff. Auch in Jugoslawien zerstörte die NATO gezielt die Infrastruktur des Landes. Als böser Aggressor tritt aber bitteschön nur »der Russe« auf. Das macht die Kritik der Waffen nötig. Am 1. Mai 2022 präsentierten wir ein Transparent mit der Aufschrift »Stahl für Brücken statt für Waffen«, das sehr gut ankam.

Die Kriege des Westens und der unersättliche Hunger nach Rohstoffen zwingen immer mehr Menschen zur Flucht. »Europa« aber schottet sich ab, schafft Auffanglager in Syrien und Libyen, in der Türkei und in Griechenland. Wir lassen die Geflüchteten im Mittelmeer ertrinken oder in total überfüllten Lagern dahinvegetieren. Schaffen sie es doch nach Deutschland, steckt man sie in Lager und verweigert ihnen auf zwei Jahre hin die Möglichkeit, einer Lohnarbeit nachzugehen. Kommen aber die Geflüchteten aus der Ukraine, nicht selten sogar mit Bussen abgeholt, erfolgt deren Integration ins Sozialsystem problemlos. Ist das vom Staat praktizierter Rassismus? Sollte nicht jeder Flüchtling gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens gleich behandelt werden?

Existentielle Krise

Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Wirtschaftskrieg der EU gegen Russland in der Folge und die Sprengung der Ostseepipelines haben viele Menschen in eine existentielle Krise gebracht. Seit Jahren beruht der deutsche Wirtschaftserfolg auf dem Import von günstigem Gas und Öl aus Russland. Die Bundesrepublik hatte sich tatsächlich in diese Abhängigkeit begeben. Doch was ist vom Sachverstand der regierenden Politiker zu halten, wenn der Bezug dieser preiswerten Rohstoffe von heute auf morgen für beendet erklärt wird? Wir wollen fort von den fossilen Brennstoffen; gut so. Doch die »Energiewende« kommt nicht schnell genug voran, in aller Welt bettelt die Bundesregierung nach Gas und Öl – bei Staaten wohlgemerkt, in deren Abhängigkeit man sich besser ebenfalls nicht begeben sollte. Nunmehr werden Gas und Öl mit Schiffen über die Weltmeere nach Deutschland gebracht, Atomkraftwerke laufen länger, Kohlekraftwerke werden wieder hochgefahren. Ökologisch sinnvoll? Weil in Frankreich von rund 50 Atomkraftwerken nur etwa die Hälfte in Betrieb ist, wird hierzulande Gas zur Stromproduktion eingesetzt. Die Industrie schränkt ihre Produktion ein, weil die Preise für Strom und Gas dermaßen gestiegen sind, dass sich der Weiterbetrieb für manche Firmen nicht mehr lohnt.

Etliche Menschen wissen nicht, wie sie ihre Strom- und Gasrechnungen bezahlen sollen – und sind zudem von Kurzarbeit oder Kündigung bedroht. In anderen Ländern der EU gab es rasch einen Gas- und Strompreisdeckel; in Deutschland dauerte es bis zum Januar 2023 für die Industrie beziehungsweise dauert es bis zum März 2023 für die Bevölkerung. Die hohen Energiekosten lassen auch die Preise für Lebensmittel und Mieten steigen, wovon wieder einmal die ärmsten Teile der Bevölkerung am stärksten betroffen sind. Während sich die Energiekonzerne über satte Gewinne freuen, wissen viele nicht, wie sie durch diesen und die kommenden Winter kommen sollen.

Eine Übergewinnsteuer, wie es sie in anderen Ländern schon gibt, wird von der hiesigen Regierung blockiert. Bis zu 3.000 Euro kann jede Firma ihren Mitarbeitern steuerfrei auszahlen – wenn sie denn »kann«; auch da bleiben wieder die prekär Beschäftigten auf der Strecke. Doch die Bundeswehr erhält einen Zuschuss von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung, legt sich Panzer zu, die nicht funktionieren, und erwirbt US-amerikanische Kampfflugzeuge, die Atomwaffen tragen können; sicher alles zur Erhaltung des Weltfriedens. Die Industriegewerkschaft Bauen–Agrar–Umwelt (IG BAU) bleibt derweil bei ihrem Standpunkt und lehnt das Vorhaben ab, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Aufrüstung fließen zu lassen. Was ließe sich mit diesem Geld alles anfangen? Der Ausbau von Kitas und Schulen, sozialer Wohnungsbau, der Straßen- und Brückenbau oder die Beschleunigung der ökologischen Stromgewinnung. Den Neubau von 400.000 Wohnungen pro Jahr hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt; es werden derer wohl nur 100.000 in diesem Jahr. Ist für mehr kein Geld da? Die Zahl der Reichen und Superreichen in Deutschland steigt seit Jahren, aber eine Reichensteuer oder eine Vermögensabgabe gibt es nicht. Dafür sorgt die Regierung – vor allem eine, an der die FDP beteiligt ist.

Zurückhaltende Gewerkschaften

Die Inflationsrate liegt bei rund zehn Prozent, die Schlangen an den Tafeln werden immer länger, viele fürchten Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit. Und die Gewerkschaften? Halten still. In Köln waren IG BAU und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zusammen mit anderen überwiegend linken Gruppen – unter anderem Die Linke, SDAJ, Interventionistische Linke, ATTAC, Köln gegen rechts – daran beteiligt, das Bündnis »›Genug ist genug!‹ – Die Preise müssen runter« zu gründen. Andere Gewerkschaften wollten sich daran nicht beteiligen. Die Sache wurde ihnen zu heiß, als auch die Forderung nach einer Enteignung der Energiekonzerne zur Sprache kam. Zur ersten Kundgebungsdemonstration zusammen mit dem Friedensforum kamen etwa 500 Teilnehmer. Danach wurden es immer weniger. Auch eine vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Köln organisierte Kundgebung brachte nicht mehr als rund 250 Menschen auf die Straße. Größer war eine Demonstration in Düsseldorf, die nicht vom Dachverband DGB, sondern von den Einzelgewerkschaften Nahrung–Genuss–Gaststätten (NGG), Verdi und IG BAU organisiert wurde. Darf der DGB nicht zu sozialen Protesten aufrufen, wenn die SPD den Kanzler stellt? Leider ist Die Linke zu schwach, um Massen auf die Straße zu bringen. Der Streit um Sahra Wagenknecht zerreißt die Partei. AfD und andere rechte Gruppierungen schaffen es erfreulicherweise ebensowenig, in unserer Region erfolgreich zu Protesten aufzurufen, meist kommen weniger als 100 Teilnehmer zu deren Kundgebungen.

Bleibt die Frage: Warum bleibt angesichts der miserablen Lage der Protest so verhalten? Das wachsende Elend ist sichtbar. Warum wehren sich die Menschen dann nicht?

Thilo Nicklas ist gelernter Baumaschinist und seit 2017 stellvertretender Vorsitzender des IG-BAU-Bezirksverbandes Köln–Bonn.

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