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04.01.2022 19:30 Uhr

Widerstand organisieren

Die neue Ampelregierung hält am Kriegskurs der Bundesrepublik fest
Von Martin Singe
Protest der Friedensbewegung für die Aufnahme des Verbots von Atomwaffen in den Koalitionsvertrag der Ampelregierung (Berlin, 5.11.2021)

Am Sonnabend, dem 8. Januar, findet die XXVII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz als frei zugängliche digitale Veranstaltung statt. Das Abschlusspodium der Konferenz steht unter dem Motto »Wie wir den nächsten großen Krieg verhindern«. Vorab stellen wir an dieser Stelle die Positionen der Diskutanten zur Frage von Krieg und Frieden vor. In der gestrigen Ausgabe lasen Sie Stellungnahmen von Sören Pellmann (Die Linke) und Andrea Hornung (SDAJ). (jW)

Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Friedensbewegung Pax Christi hatte sich zunächst dem Versuch einer Aussöhnung vor allem mit Frankreich und Polen gewidmet. In den 1980er Jahren waren christlich orientierte Friedensgruppen wesentlich am Protest gegen die atomare Aufrüstung beteiligt und im Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung fest verankert. Ebenfalls hatte der Ökumenische Weltrat der Kirchen zusammen mit den Basisbewegungen einen konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eingeleitet.

Solidarität mit Entrechteten

Nun haben christliche Organisationen jedoch keine Sonderethik in Fragen von Krieg und Frieden zu beanspruchen. Vielleicht liegt eine Besonderheit in einer tiefer verankerten Motivation, für den Frieden einzutreten. Empathie für die Entrechteten und Solidarität mit den Armen ist jedenfalls seit der Botschaft der Propheten eine kontinuierliche Herausforderung für Christinnen und Christen. Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung hat dies wieder deutlicher ins Bewusstsein gehoben. Der jetzige Papst Franziskus stammt aus dieser Tradition und hat in diesem Sinne 2016 zu den in Rom versammelten sozialen Bewegungen gesprochen: »Wer also regiert? Das Geld! Wie regiert es? Mit der Peitsche von Angst, von Ungleichheit, von wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und militärischer Gewalt, die in einer niemals endenden Abwärtsspirale immer mehr Gewalt erzeugt. Wieviel Leid, wieviel Angst! Vor kurzem habe ich bereits gesagt, es gibt einen grundlegenden Terrorismus. Er geht hervor aus der globalen Kontrolle, die das Geld über die Erde ausübt und die ganze Menschheit in Gefahr bringt.«

Und bei seiner Rede vor einem Monat, am 5. Dezember 2021 auf Lesbos, forderte er, den »Schiffbruch der Zivilisation zu stoppen« und endlich eine humane Migrationspolitik einzuleiten: »Es ist leicht, die öffentliche Meinung mitzureißen, indem man ihr Angst vor den anderen einflößt; warum spricht man nicht in demselben Ton von der Ausbeutung der Armen, von den vergessenen und oft großzügig finanzierten Kriegen, von den auf dem Rücken anderer Menschen abgeschlossenen wirtschaftlichen Pakten, von den heimlichen Manövern des Waffenhandels und der Proliferation von Waffen?« Der Vatikan hat unter Franziskus seine bisherige Position zur »befristeten Nochduldung« von Atomwaffen zur unbedingten Verurteilung hin verändert und ist als Staat auch dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beigetreten.

Ampel auf Kriegskurs

Eine Antwort auf die Frage »Wie wir den nächsten großen Krieg verhindern« finden wir nur mit allen Bewegungen, die sich für die Entrechteten einsetzen, gemeinsam, indem wir unsere Kräfte bündeln. Kriegsursachenanalyse ist Voraussetzung für die Entwicklung von Handlungsstrategien. Im folgenden soll auf einige aktuelle Herausforderungen eingegangen werden, die sich in unserem Land seit dem Regierungswechsel unverändert stellen. Denn die Ampelkoalition hat sich in nahezu allen Fragen einer Fortsetzung des Kriegskurses verschrieben. Es gibt im Ergebnis ein »Weiter so«, einschließlich der Ankündigung zusätzlicher Aufrüstungsmaßnahmen. Als Leitmotiv gelten »unsere Interessen und Werte«, also im Klartext das, was schon im Weißbuch der Bundeswehr beschrieben wird: die Durchsetzung nationaler wirtschaftlicher Interessen notfalls auch mit militärischen Mitteln. Ich unterstelle den Regierenden nicht, dass sie willentlich einen Krieg anstreben, aber sie sind offensichtlich bereit, für deutsche/westliche Interessen einen solchen bei Versagen anderer Mittel in Kauf zu nehmen. Einzelne Punkte aus dem Koalitionsvertrag, denen sich die Friedensbewegung insbesondere widersetzen muss, seien herausgehoben.

Die nukleare Aufrüstung wird als beschlossene Sache verkündet. Ein nuklear bestückbares Nachfolgekampfflugzeug für den »Tornado« soll schon in dieser Legislaturperiode bestellt werden, obwohl dessen Ausmusterung eine Chance gewesen wäre, das Ende der nuklearen Teilhabe für Deutschland in der NATO durchzusetzen. Nun müssen Milliarden für einen neuen Atombomber her, der auch für die neuen B61-12-Atombomben zertifiziert werden soll. Die Koalition schließt eine Mitgliedschaft beim Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) aus, weil er dem Atomwaffenverbreitungsvertrag (NPT) widerspreche – diese Behauptung haben sogar die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages als Scheinargument widerlegt. Die nukleare Abschreckung wird so verewigt, statt endlich deren Absurdität zu entlarven.

Gegen diese nukleare Aufrüstung muss verstärkt Widerstand geleistet werden. Die Beteiligung an den Aktionen in Büchel und Nörvenich und der Widerstand gegen das jährlich im Oktober stattfindende Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon« sollten ausgeweitet werden. Über Manöverbehinderungen wird seit dem letzten Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) immerhin wieder diskutiert. Viele Menschen stehen regelmäßig wegen zivilen Ungehorsams in Cochem, Koblenz, Bonn und anderswo vor Gericht, weil sie Go-Ins in Büchel oder im Gefechtsübungszentrum der Bundeswehr (GÜZ) bei Magdeburg veranstaltet haben. Sie verdienen nicht nur unsere Solidarität, sondern Nachahmung: mehr zivilen Ungehorsam wagen! Die Pflugscharaktivisten in den USA nehmen für ihre direkten Aktionen gegen Nuklearwaffen Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren in Kauf – wir haben hier mit 30 Tagessätzen zu rechnen.

Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass die Atomwaffenpolitik der nuklearen Teilhabe durch die Bundesregierung völkerrechtswidrig ist. Regional können sich noch mehr Städte bei »Mayors for Peace« (Bürgermeister für den Frieden) engagieren und unter www.icanw.de den Städteappell der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICANW) unterzeichnen. Die öffentliche Meinung ist mit breiter Mehrheit gegen Atomwaffen eingestellt, diese gilt es in Handlungsfähigkeit umzuwandeln.

Militarisierung der EU

Die EU soll weiter zur Interventionsfähigkeit aufgerüstet (Aufstockung der Europäischen Eingreiftruppe bis 2025) und sogar mit einem eigenen militärischen Hauptquartier ausgestattet werden. Die europäische Rüstungskooperation und -produktion werden vorangetrieben. Entscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sollen bei Aufgabe des Konsensprinzips künftig schneller gefällt werden können. Die Bundeswehr soll bestmöglich aus- und aufgerüstet werden, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO wird – versteckt im Drei-Prozent-Ziel für internationale Ausgaben inklusive Entwicklungszusammenarbeit (welch unselige Verknüpfung!) – angestrebt. »Die NATO-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren.« Zur Bestausrüstung der Bundeswehr gehören selbstverständlich auch bewaffnete Drohnen, die natürlich nur nach strengsten ethischen Kriterien zum Einsatz kommen sollen. Eine für 2023 geplante Stationierung neuer US-Hyperschallraketen »Dark Eagle« in Deutschland oder einem anderen europäischen Staat wird nicht ausgeschlossen. Dafür wurde als Kommandozentrale die 56. US-Artillerieeinheit in Wiesbaden bereits Ende 2021 wiederbelebt, die seinerzeit in den 1980er Jahren über atomare Pershing-II-Raketen verfügte.

Die Fortsetzung von Auslandseinsätzen wird trotz der desaströsen Erfahrungen in den sogenannten Antiterrorkriegen seit 2001 als gleichgewichtige Aufgabe zur »Landesverteidigung« festgeschrieben, die grundgesetzliche Begrenzung auf Landesverteidigung (Grundgesetzartikel 87 a) überhaupt nicht mehr als Problem wahrgenommen. Bekanntlich hatte das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung von 1994 einen Freifahrtschein für weltweite Kriegseinsätze gegeben, indem es die NATO zu einem System kollektiver Sicherheit umdefinierte, um einen Anknüpfungspunkt zu Grundgesetzartikel 24 zu schaffen. Seitdem hat sich die Lüge von der »humanitären Intervention« in die Köpfe gefressen. Die Koalition will in ihrem ersten Regierungsjahr eine »nationale Sicherheitsstrategie« erarbeiten, wohl eine Art neues Weißbuch, in dem zuletzt unter anderem die Aufrechterhaltung von freien Handelswegen und ungehinderte Rohstoffzufuhr als Ziele formuliert worden waren.

Eine Kooperation mit Russland wird im Koalitionsvertrag angesprochen, aber nicht konkretisiert. Im Gegenteil: Eine konfrontativere Politik gegenüber Russland und China zeichnet sich ab. Harte Forderungen und verschärfte Sanktionsdrohungen z. B. mit Blick auf die Ukraine werden aufgestellt. Mit Annalena Baerbock als Außenministerin, die der Ukraine bereits eine NATO-Aufnahme in Aussicht gestellt hat, wird eine europäische Politik der gemeinsamen Sicherheit mit Russland wohl nur schwer möglich sein. Die Zustimmung zu den jetzt auf dem Tisch liegenden Vorschlägen der russischen Seite an die USA und an die NATO zur Schaffung von Sicherheitskorridoren, Beendigung der NATO-Osterweiterung und einem Stationierungsmoratorium für neue Raketen wäre ein Schritt in die richtige Richtung, aber ihre Annahme seitens der NATO scheint aktuell eher unwahrscheinlich. Auch wenn nach 1990 unendlich viele Chancen einer neuen Politik im »gemeinsamen Haus Europa« verspielt wurden, muss die Friedensbewegung die aktuellen Vorschläge und Möglichkeiten einer erneuerten Politik der gemeinsamen Sicherheit bekannter machen und sie als konstruktive Alternative zur Konfrontationspolitik herausstellen. Hierzu gehören auch die Ideen der Kampagne »Sicherheit neu denken«.

Strategische Partner

Immerhin soll ein Rüstungsexportgesetz auf den Weg gebracht werden. Hier hängt aber vieles von der konkreten Ausgestaltung ab. An »nachweislich unmittelbar« am Jemen-Krieg beteiligte Staaten soll nicht mehr geliefert werden. An mittelbar beteiligte doch? Wie verträgt sich das mit dem Skandal, den sich die alte Regierung unter deutlicher Mitwirkung von Olaf Scholz geleistet hat, noch in den letzten Tagen der alten Koalition Kriegswaffenexporte für 4,91 Milliarden Euro zu genehmigen, vor allem an das in den Jemen- und Libyen-Krieg verwickelte Ägypten? Offensichtlich soll die von Merkel kreierte Politik der »strategischen Partnerschaften« weiterbetrieben werden: Da die Bundeswehr nicht überall sein kann, werden andere Länder mit Waffen beliefert, um stellvertretend Migrationsabwehr und Rohstoffsicherung zu betreiben.

Der »Aachener Vertrag« wird hervorgehoben, dem gemäß sich Frankreich und Deutschland beim Export gemeinsam produzierter Waffen nicht widersprechen dürfen. Das wird das Milliardenschwere Kooperationsprojekt FCAS und MGCS (Kampfjet und Kampfpanzer nebst Drohnenschwärmen) betreffen, bei dem hohe Exportzahlen bereits programmiert sind, um die Beschaffungskosten »für uns« erträglich zu halten. Der »Aachener Vertrag« muss deshalb gekündigt und ein ähnlicher, mit Spanien geplanter Vertrag verhindert werden.

Rüstungs- und Kriegswaffenexporte führen die Widersprüchlichkeit zwischen der Friedensrhetorik der Regierenden und ihrem Handeln besonders deutlich vor Augen. Hier kann Öffentlichkeitsarbeit ansetzen und verstärkt werden. Aktionen gegen Rüstungsexporte und Rüstungskonzerne wie Rheinmetall und Krauss-Maffei sind zu intensivieren, die Aktion »Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel« leistet hier hervorragende Aufklärungsarbeit. Eine konkrete Behinderung von Waffenausfuhren durch Hafenarbeiter hat es in Griechenland zur Zeit des Irak-Krieges gegeben. Solche Aktionen scheinen hier (noch) visionär, aber die Proteste gegen den internationalen Waffenhandel machen Fortschritte. Hier wären auch die Gewerkschaften mehr gefordert.

Krieg beginnt hier

Unter dem Motto »Krieg beginnt hier, Widerstand auch« fanden und finden immer wieder Widerstandsaktionen der Friedensbewegung statt, so z. B. in Büchel, Nörvenich, Ramstein, Jagel, Kalkar, am GÜZ oder vor Rüstungsschmieden wie Rheinmetall oder Heckler und Koch. Oder in Kampagnen wie zuletzt »Abrüsten statt aufrüsten«, gegen autonome Waffen und die Drohnenbewaffnung, gegen das FCAS-Projekt, gegen Rüstungsexporte, gegen Propagandatage der Bundeswehr und gegen die Rekrutierung Minderjähriger. All diese Ansätze gilt es zu intensivieren und auch mit anderen, vor allem den ökosozialen Bewegungen zu verknüpfen. Der herrschenden Politik profitorientierter und militärgestützter Ausbeutung muss unsere Realutopie entgegengestellt werden: Eine andere Welt ist möglich!

Martin Singe ist Mitglied bei Pax Christi, im Sprecherteam der Kampagne »Büchel ist überall! Atomwaffenfrei.jetzt« und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Friedensforum

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