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Aus: Ausgabe vom 09.02.2012, Seite 13 / Feuilleton

Empört euch!

Tony Gatlif verfilmt Stéphane Hessel

Am 15. Mai 2011 formierte sich in 58 spanischen Städten die Protestbewegung »Movi­miento 15-M«. Durch soziale Netzwerke organisiert, war sie weitgehend spontan. Auch die Richtung war noch diffus. Der gemeinsame Nenner lautete: Gegen soziale Mißstände und eine Politik, die die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Schnell geriet die verfehlte Europapolitik in den Fokus, die der Wirtschaft alle Rechte einräumt, die sie den Lohnabhängigen versagt. »Echte Demokratie jetzt!«, war eine Forderung, die sich daraus ergab. Viele beriefen sich auf Sté­phane Hessels Manifest »Empört euch!«, nach dem sie sich als »Indignados«, Empörte, bezeichneten. »Seht euch um«, sagte der französische Philosoph, »dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und ihr werdet finden!«

Zu Herzen genommen hat sich das der Franzose Tony Gatlif. Seit fast 40 Jahren ist Gatlif als Filmemacher sozial engagiert, und wohl nicht zufällig bei uns weitgehend unbekannt geblieben. Der rote Faden seines Dokumentarspielfilms »Indignados« über die Empörten ist die Odyssee von Betty, einer aus Afrika geflüchteten Illegalen. Gatlif weiß, was es bedeutet, nicht willkommen zu sein. Geboren wurde er im noch französisch kolonisierten Algerien, als Sohn eines kabylischen Berbers und einer andalusischen Roma. In immer wieder überraschend eindrucksvollen Bildern läßt er in seiner Heldin die Erkenntnis reifen: Solidarität, Zusammenschluß – nur so kann man etwas erreichen.

Deutlich vom Neorealismus beeinflußt, zeigt Gatlif nur ärmliche Schuhe am Strand, und man ahnt das Schicksal derer, die sie getragen haben. Stumm erzählen primitive Schlafstätten der Flüchtlinge Geschichten. Apfelsinen rollen eine nasse Gasse hinab und beschwören Assoziationen herauf. Trügerisch leuchtet der Stacheldrahtverhau eines Lagers in der Sonne. Der Film folgt Betty nach Griechenland und Tunesien. Die Hintergründe ihrer Ausweisung und Flucht interessieren weniger als die Lebensumstände. In verschiedenen Ländern stehen Demonstranten der Polizeigewalt gegenüber.

Schade, daß Gatlif nicht näher bei seiner Heldin geblieben ist. Er läßt sie für viele Beobachtungen aus den Augen, und der Film verliert seine Dichte. Ein anregendes Dokument bleibt er allemal.F.-B. Habel

»Indignados«, Regie: Tony Gatlif, Frankreich 2011, 88 min, 10., 11., 12., 17.2.

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