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Aus: weihnachten, Beilage der jW vom 22.12.2012

Ein heikler Job

Wie in Berlin das Bescherungsgeschäft organisiert wird
Von Andreas Hahn
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Der Weihnachtsmannjob ist ein harter. Ich könnte ihn nicht machen. Ich habe nämlich eine mindestens so furchtbare Höhenangst wie James Stewart in »Vertigo«. Also eine schon sehr schlimme.Weihnachten ist vielleicht an sich schon ganz schön schlimm, aber der Gedanke, in einem lächerlichen Kostüm an Hochhausfassaden herumzuklettern, nur um verwöhnte Bälger mit Schokolade zu bescheren, ist allein schon ein Albtraum. Jedenfalls für mich. Die Weihnachtsmänner sind härter im Nehmen.

Es ist zufällig der dritte Advent, und ich stehe, schleiche, zittere auf der Aussichtsplattform des Kohlhoffhauses am Berliner Potsdamer Platz herum, etwa 100 Meter höher gelegen als der Weihnachtsmarkt unten auf der Straße, während in einem Lagerraum des Panoramacafés sich die Weihnachtsmänner auf ihren Auftritt vorbereiten. Die Theaterschminke, um die angeklebten weißen Bärte mit den entsprechenden weißen Augenbrauen usw. zu ergänzen, hat ein örtlicher Hersteller gespendet. Geplant ist ein Stunt des Weihnachtsmanns. Er wird sich von der Spitze des Kohlhoffhauses abseilen, zwischendurch ein wenig an der Fassade klettern, im Panaromacafé und schließlich auf der Straße, abseits des Weihnachstmarktes, Beschwerung machen. Es gibt Lebkuchenherzen und Gummibärchen.

Wie es sich für einen ordentlichen Stunt gehört, herrscht Arbeitsteilung. Die Weihnachtsmänner sind zu dritt. Einer klettert, zwei bescheren. Für das Klettern ist ein professioneller Stuntman zuständig, fürs Bescheren zwei professionelle Weihnachtsmänner vom Studentenwerk Berlin. Einer davon ist der »Oberweihnachtsmann« Stephan Antczack, dessen organisatorische Aktivitäten ich an diesem Adventswochenende begleiten darf. In der Nacht zuvor hat er zusammen mit zwei Kollegen noch bis fünf Uhr morgens im Büro der Studentenwerksweihnachtsmänner in der alten TU Mensa gesessen und die Tourenplanung für den Heiligabend durchgeführt. Nach dem Stunt am Kohlhoffhaus wird diese Arbeit fortgesetzt werden.

Die Tourenplanung ist das Herzstück, Antczack sagt, »das Allerheiligste« der Weihnachtsmannorganisation. Auch beim Allerheiligsten, durfte ich, seltenes Privileg, kurz mit dabei sein. Planung ist alles. Datenbanken sind unabdingbar. Das Studentenwerk führt in der Weihnachtszeit immerhin etwa 4000 Bescherungen durch. 200 davon sind »Geschäftstouren« in der Vorweihnachtszeit. Das können Seniorenheime sein oder Kindergärten oder auch nur das Technikmuseum. Die Mehrzahl wird natürlich am Heiligabend meist an ihrem privaten Wohnort beschert. Da gibt es eine Menge zu koordinieren.

Im Prinzip treffen bei der Tourenplanung zwei Datenbanken aufeinander. Die mit den Aufträgen der Kunden, dem Wohnort und der gewünschten Uhrzeit und möglichen Sonderwünschen (zum Beispiel russische Sprachkenntnisse beim Weihnachtsmann), für die es dann nach Zeit, Ort und Profil den geigneten Weihnachtsmann zu finden gilt. Der Weihnachtsmann möchte schließlich auf seiner Tour nicht unbedingt zweimal zwischen Rudow und Reinickendorf hin und her fahren. Die Oberweihnachtsmänner suchen also in ihrer Datenbank zum Beispiel nach einem Weihnachtsmann, der Russisch spricht, keine Katzenallergie hat und für den es nicht allzu unbequem ist, pünktlich um 16 Uhr in Alt-Glienicke zu sein. So ein Weihnachtsmann hat am Heiligabend zwischen 10 und 15 Touren, eine Performance dauert etwa eine halbe Stunde, davon hat das Grundgerüst der Planung auszugehen. Man muß sich so ein Weihnachtsmannbüro als eine Mischung aus Taxizentrale und Castingagentur vorstellen.

Weihnachten ist eine heikle Angelegenheit. Es hat viel mit Familie, Wohlstand, Performance und auch Kinderpsychologie zu tun. In einem Kindergarten sollte man nicht unbedingt mit einer Haßmaske auftreten, wenn man keine Verstörungen provozieren möchte. Auch solche Fälle hat es natürlich schon gegeben. »Der mit der Maske war aber nicht unbelehrbar, er kam freiwillig zur Nachschulung in den Workshop«, sagt Antczack.

Er ist nicht nur einfach deshalb Oberweihnachtsmann, weil er zufällig auch im richtigen Leben Bauch, Bart und extreme Menschenfreundlichkeit mit sich trägt, sondern weil er derjenige ist, dem die Aufgabe zugefallen ist, in seinem workshop die Weihnachtsmannausbildung durchzuführen. Nur die Altweihnachtsmänner, die den Job schon Jahre, Jahrzehnte machen, gehen nicht mehr in den Workshop. Deren Qualitäten sind daher für Antczack auch schwerer einzuschätzen. Schließlich lernt er seine Weihnachtsmänner nur im Rahmen des workshops kurz kennen.

Der Workshop selbst ist eine Mischung aus Kulturgeschichtliche, Maskenbildnerei und Schauspielunterricht. Am Ende des Tages ist jede Bescherung vor allem eine Performance, und die hat Regeln, die natürlich zunächst einmal vermittelt werden müssen. Zuvorderst eine strikte Kleiderordnung – roter Mantel (den jeder studentische Weihnachtsmann zunächst einmal käuflich vom Studentenwerk erwerben muß, falls er keinen eigenen besitzt, der die strenge Qualitätskontrolle übersteht), rote Mütze, weißer Bart, schwarze Hose, schwarze Stiefel, eine Glocke und nicht zuletzt ein goldenes Buch, in dem die Notizen stehen, die der Weihnachtsmann für seine immer wieder neu improvisierten Performances so braucht.

Den Frontalunterricht in der Weihnachtsmannausbildung hat Antczack abgeschafft. Er hält keine Vorträge, sondern leitet Rollenspiele, in denen die zukünftigen Weihnachtsmänner all die Fehler begehen können, die es, wenn es drauf ankommt, am Heiligen Abend, besser vermieden werden. Weihnachten ist, wie gesagt, heikel.

Sogar ein Brettspiel hat der Oberweihnachtsmann eigens für den Ausbildungszweck erfunden: das »Christbaumspiel«. Darin erfährt man allerhand interessante kulturgeschichtliche Sachen. Daß der Weihnachtsmann in rot-weiß wegen der Firmenlogos von Coca Cola gekleidet ist, haben Sie vielleicht schon gewußt, aber auch, daß der Heilige Nikolaus in der heutigen Türkei geboren wurde? Oder daß der Adventskalender von einem gewissen Gerhard Lang 1908 in München erfunden wurde?

Der Adventskalender des Studentenwerks befindet sich natürlich online auf deren website. Dahinter verbirgt sich ein Gewinnspiel. Im Büro stapelt sich das von diversen Sponsoren gespendete Zeug zu einem weihnachtlich nett angerichteten Geschenkberg.

So viele Geschenke gilt es zu verteilen, so viele kulturelle Kompetenzen zu erwerben. Die Berliner Weihnachtsmänner von Studentenwerk erledigen das traditionsreich. Es gibt sie fast schon so lang wie die Freie Universität selbst, seit 1949. Mit einer Tradition wird dieses Jahr allerdings endlich gebrochen. Diese Weihnachten wird es die erste Weihnachtsfrau bei den Berliner Weihnachtsmännern geben. Deren Kostüm ist übrigens grün und nicht rot-weiß.

Im Grunde ist die längst fällige Frauenemanzipation im Bescherungsgeschäft auch eine organisatorische Notwendigkeit. Etwa 350 Personen sind an Heiligabend für die Berliner Weihnachtsmänner im Einsatz. Darunter etwa vierzig Frauen. Traditionell ist denen die Rolle des Weihnachtsengels vorbehalten. Als Kunde kann man Weihnachtsmänner, Engel oder am besten beide zusammen buchen.

Engel werden seltener gebucht als Weihnachsmänner. Beim Studentenwerk bewerben sich aber insgesamt weitaus mehr Frauen als Männer für den Job (statistisch kein Wunder, es dürfte mit der wachsenden Anzahl von Studentinnen zu tun haben). Ein offensichtliches Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Zeit also für die Weihnachtsfrau, obwohl deren Vermittlung natürlich spezieller Sicherheitsvorkehrungen bedarf. Weihnachten ist heikel, aber als Frau unbegleitet eine fremde Wohnung zu betreten, ist wohl noch heikler. So können beim Studentenwerk nur Frauen die Weihnachtsfrau buchen.

Leicht hat es der Weihnachtsmann sowieso nicht. Er darf während seiner Arbeitszeit keinen Alkohol trinken (und das an einem Festtag, wo’s bei aller Welt heißt: Hoch die Tassen!), die in Berliner Familien nicht gerade unbeliebten Hunde reagieren auf sein knallrotes Kostüm mit verunsicherter Aggression (weshalb ein wirklich professioneller Weihnachtsmann immer eine Ration beschwichtigendes Hundefutter bei sich trägt), er muß auf seine Maske und Contenance achten, braucht Schauspielunterricht und wenigstens rudimentäre literarische Bildung (mindestens zwei Gedichte aus ’nem Reclambändchen auswendig müssen schon sein).

Rechnung mit Engelbegleitung 96,- Euro im Umland (in der günstigen Solovariante 41,- Euro). Bißchen Trinkgeld wär auch nicht schlecht.



www.berliner-weihnachtsmann.de

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