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Aus: Ausgabe vom 08.06.2017, Seite 10 / Feuilleton
Droste

Campino, ein Überraschungsbonbon

Von Wiglaf Droste
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Wer Bahn fährt – letztes Mal zehn Stunden statt der angekündigten sechs, dreimal Umsteigen statt laut Plan einmal, aber keine öde Beschwerde bitte, Deutsche Bahn ist so und basta, mir würde regelrecht etwas fehlen ohne den Perfektionswahn, der sich immer wieder aufs neue kafkaesk ad absurdum führt –, der blättert auch mal in der Bahnzeitschrift mobil. In der Ausgabe vom Juni 2017 spricht Campino, Sänger der Toten Hosen, auch über die Medienkreatur Jan Böhmermann: »Warum soll ich mich mit etwas auseinandersetzen, das inhaltlich so arm ist. Ich muss doch nicht über diesen zynischen Pipihumor reden. Wenn jemand ›Ziegenficker‹ sagt und dann albern loslacht vor lauter Selbstbegeisterung, jetzt etwas ganz Schlimmes und Verbotenes gesagt zu haben …« Treffer, auf den Punkt.

Hätte Campino das Gratiswort »zynisch« gestrichen, wär’s beängstigend perfekt gewesen, aber so stimmt’s. Das Perverseste ist, dass Böhmermann sich auf der Bühne mit Texten von Deniz Yücel brüstet, der an seiner, Böhmermanns, Stelle in der Türkei im Knast sitzt, und dass er diese Infamie auch noch für »solidarisch« hält. Der – bleiben wir kurz in Böhmermannsprech – Sichselbstficker Böhmermann bemerkt und spürt nichts als immer nur sich selbst. Das ist für alle anderen sehr, sehr langweilig.

Campino ist exakt ein Jahr und fünf Tage jünger als ich; in 370 Tagen kann er verstehen lernen, dass der Stadionkracher »Tage wie diese« kein »Zauberwürfel« ist und kein »Strauß Blumen«, wie er im Interview sagt, sondern eine Hymne für Mitläufer jedweder Couleur. Vielleicht fängt er in dieser Zeit auch an, einmal etwas immerhin Musikähnliches zu machen; ich bin seit seinen Worten über Böhmermann diesbezüglich ganz zuversichtlich.

Wiglaf Droste liest und singt heute, 20 Uhr, im Düsseldorfer zakk jüngere Werke; das Thema des Abends lautet »Liberté«

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