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Aus: Stadt und Mensch, Beilage der jW vom 05.07.2017
Recht auf Stadt

Der Markt regelt es nicht!

Wenn Investoren die Stadt der Zukunft gestalten und Underdogs um schlechte Wohnungen konkurrieren, fehlt eine soziale Gegenmacht
Von Claudia Wangerin und Anselm Lenz
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Fotoserie: Menschen und ihre vier Wände. Hier Cláudia Rodrigues (71) und José Pereira (75) in Campinas, São Paulo vor einem alten Schiffscontainer, der dem gelernten Koch und der früheren Reinigungskraft im Ruhestand als Behausung dient.

Luxusquartiere für Zahlungskräftige sind eine Möglichkeit, auf dem Immobiliensektor Geld zu verdienen, billig errichtete Wohnsilos für ärmere Mieter die andere. Hier gehört die Tristesse der Umgebung im Ernstfall noch zu den harmloseren Nachteilen: Vor wenigen Wochen sind Dutzende Menschen in einem Londoner Hochhaus verbrannt, weil dort am Brandschutz gespart worden war. Dank der erhöhten Aufmerksamkeit für dieses auch in Deutschland bekannte Problem wurde am 27. Juni ein Wuppertaler Hochhaus geräumt: Nach Behördenangaben waren brennbares Isoliermaterial und eine Unterkonstruktion aus Holz zu beanstanden; die Flure seien eng, die Balkone kurz, außerdem fehle eine Brandmeldeanlage.

»Energetische Sanierungen« zur besseren Wärmedämmung von Gebäuden sind hier nicht nur wegen der leichten Entflammbarkeit des dafür meist eingesetzten Materials Polystyrol gefürchtet, sondern auch als Preistreiber. Denn nach »umfassender Modernisierung« gilt das kurz »Mietpreisbremse« genannte »Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten« nicht.

Neuvermietungspreise dürfen demnach – eigentlich – nicht mehr als zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Wegen der Ausnahmen wurde die 2015 in Kraft getretene Regelung schon vielfach kritisiert – aus der Sicht des Deutschen Mieterbundes hat sie vollständig versagt.

Allerdings sagen Mietrechtsexperten, dass sich trotz der Ausnahmen schon jetzt mehr Betroffene gegen Überteuerung wehren könnten. »Mieter lassen alles mit sich machen«, heißt es. Es kommt also – auch – darauf an, vorhandene Rechte zu kennen und sich zu trauen, davon Gebrauch zu machen. Aber in manchen Fällen reicht das nicht. In Teilen der Republik gibt es bisher nicht einmal die »Preisbremse«, weil der Bund es den Ländern überlassen hat, ob und in welchen Städten und Gemeinden sie tatsächlich eingeführt werden soll. Bis Ende 2016 hatten sich zwölf von 16 Bundesländern dazu durchgerungen, solche Gebiete auszuweisen – zuletzt Niedersachsen im Dezember. Meck­lenburg-Vorpommern könnte bald folgen – der Landtag in Schwerin hat im Januar die »rot-schwarze« Regierung beauftragt, sie zumindest in den Universitätsstädten Rostock und Greifswald möglichst bald einzuführen. Die Verantwortlichen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und dem Saarland sehen zur Zeit keinen Umsetzungsbedarf.

Wer in Rostock oder Greifswald seine Rechte kennt, kann sich vielleicht auf eine Verbesserung freuen. Aber gegen die Verdrängung ärmerer Mieter wird es im Kapitalismus – Pardon, in der »freien Marktwirtschaft« – nie ein flächendeckendes Gesetz geben. Und wem sonst nur ein Platz unter der Brücke oder im Obdachlosenasyl bleibt, der wird auch in ein Hochhaus mit Sicherheitsmängeln einziehen und hoffen, dass es nicht brennt, bis – ja, bis sich vielleicht noch vorhandene Aufstiegshoffnungen erfüllen oder bis er im liebevoll eingerichteten Proletenschließfach eines natürlichen Todes stirbt. Oder bis er sich mit Menschen in einer ähnlichen sozialen Lage zusammentut, um für ein besseres Leben zu kämpfen. Hilfreich wäre dabei, wenn mehr radikale Linke über ihren Schatten springen und auf Menschen zugehen würden, denen ihr Szenesprech fremd ist, die auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt gegeneinander ausgespielt werden – und vielleicht nicht einmal wissen, dass »Gentrifizierung« das ist, was ihnen passiert, wenn sie ihre alte Gegend verlassen müssen.

Eines ist doch sicher: Ohne die herrschenden Eigentumsverhältnisse können Großeigentümer und Großgrundbesitzer nicht über Menschen verfügen, die in Großstädten teils mehr als 50 Prozent ihres Monatseinkommens an den Landlord abführen müssen, um die eigene Haustür aufschließen zu dürfen. Nur wenn am Ende der Neoliberalen Epoche ein gemeinsames Bewusstsein dafür entsteht, dass diese Macht nichts Natürliches ist, wird der Weg frei. Ob für eine sozialdemokratische Reform etwa zur Halbierung der Mietpreise – oder für eine Abschaffung der alten Besitzverhältnisse im Sinne der Bewohner, für Gemeineigentum und Wohngebühr.

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