Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
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Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018

Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018


Referenten aus sieben Ländern, Kunstausstellung und viel Musik: Afrika war der Schwerpunkt der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2018 im Mercure-Hotel MOA in Berlin.

Interviews

  • · Interviews

    »Der Bourgeois macht sich zunehmend überflüssig«

    Lenin lesen: Wer vom Imperialismus spricht, sollte das Monopolkapital nicht vergessen. Gespräch mit Lena Kreymann
    Johannes Supe
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    Bevor am Wochenende der Revolutionäre Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wladimir Lenin gedacht wird, wollen wir über die Aktualität von deren Werk sprechen. In Ihrer Organisation, der SDAJ, wird zum Beispiel noch heute Lenins 1917 erschienene Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« studiert. Warum?

    Das Werk hat mindestens zwei, vermutlich aber mehr ganz große Stärken. Die grundlegende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse stimmt nach wie vor. Man kann aus der Schrift aber auch viel darüber lernen, wie man an politische Arbeit herangehen sollte. Denn was tut Lenin? 1916, der erste Weltkrieg tobt, und die Lage spitzt sich in allen Ländern unglaublich zu, schreibt er dieses Buch – und wälzt dafür Statistiken. Er nimmt sich eine Unmenge an Daten vor. Das tut er nicht, weil er sich von der politischen Praxis entfernt hätte. Im Gegenteil: Er betrachtet die Situation genau, macht langfristige Entwicklungstendenzen aus und schlussfolgert, wie die revolutionäre Arbeit aussehen muss. Auch wir müssen so an die Überwindung des Kapitalismus herangehen.

    Lenin verweist darauf, dass die Grundlage des Imperialismus die Existenz gewaltiger Monopolkonzerne ist. Er wendet sich gegen ein Verständnis, nach dem Imperialismus nur eine besonders aggressive Politik sei. Heute wird der Begriff meist genau so verwendet.

    Die falschen Auffassungen, die er kritisiert, verleiten zur Schlussfolgerung, man müsse einfach die Politikerriege austauschen. Zumal die bürgerliche Geschichtsschreibung auch vom Imperialismus spricht, damit aber nur eine bestimmte, schon beendete Epoche meint. Lenins Imperialismusbegriff ist dagegen sicher nicht vorherrschend. Die Analyse des Monopols, also riesiger marktbeherrschender Unternehmen, ist einer der zentralen Aspekte des Buchs. Lenin leitet aus seiner Untersuchung ab, dass sich die kommunistische Politik vor allem gegen die Herrschaft des Monopolkapitals wenden muss. Die Richtigkeit unserer Analyse müssen wir selbst beweisen und zwar nicht auf rein theoretischem Weg, sondern in den täglichen Auseinandersetzungen um bessere Löhne und Bildung oder gegen Krieg. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte: Etwa wenn wir aufzeigen, dass Auslandseinsätze, also Kriege, im Interesse großer Konzerne stattfinden – und zwar selbst dann, wenn wie in Deutschland die große Mehrheit der Bevölkerung gegen sie ist.

    Gerade das ist doch nicht so leicht. Welcher deutsche Konzern profitiert etwa von der Besatzung Afghanistans?

    Diese Frage ist mit Sicherheit eine Herausforderung, denn oft stehen längerfristige Interessen dahinter, etwa geostrategische. Die Aufgabe besteht beispielsweise darin, zu schauen, welche Unternehmen die Aufträge erhalten, wenn zynischerweise vom »Wiederaufbau Afghanistans« gesprochen wird. Es dürften in der Regel keine afghanischen, sondern westliche Unternehmen sein. Das genauer aufzuzeigen, wäre notwendig – und unter anderem auch Aufgabe der jungen Welt.

    Touché. Ist es nicht deprimierend, heute noch dieses Werk von Lenin lesen zu müssen? Den Imperialismus beschrieb er vor 100 Jahren als »Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbenden Kapitalismus«.

    Der Kapitalismus hat seinen vorwärtstreibenden Charakter verloren, den Marx und Engels im Manifest noch ausmachten. Mit der Herausbildung der Monopole werden bereits die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Wirtschaft grundsätzlich anders zu gestalten und gesamtgesellschaftlich zu planen. Der Bourgeois als »gerissener Unternehmer« macht sich zunehmend selbst überflüssig, denn die Verwaltung der Konzerne mit ihren immer größeren Produktionseinheiten wird bereits von Angestellten geleistet. Das brachte Lenin dazu, vom Vorabend des Sozialismus zu sprechen. Doch wie lange dieses Sterben genau dauern wird, kann niemand sagen. Es ist auch kein Automatismus, denn den Kampf um die Abschaffung des Kapitalismus müssen wir selber führen.

    Wird nicht vor allem die Entwicklung von schädlichem Unsinn vorangetrieben? Handscanner etwa, die Amazon einsetzt, um die Belegschaft völlig zu überwachen, wird man künftig hoffentlich nicht mehr nutzen.

    Das stimmt zum Teil, denn entwickelt wird nach Maßgabe des Profits, nicht der menschlichen Bedürfnisse. Das reicht von Druckern, die zu schnell kaputtgehen, bis hin zur Entwicklung immer neuer Schnellfeuerwaffen. Doch die wesentliche Frage bleibt, in wessen Hand die Technik liegt und wie sie dann gebraucht wird. Dem Kapital muss sie jedenfalls entrissen werden.

  • · Interviews

    »Er hat uns die Geschichte geschenkt«

    Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz wird an den Liedermacher Daniel Viglietti erinnert. Ein Gespräch mit Rolf Becker
    Christof Meueler
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    Gegenseitige Impulse aufgreifen: Rolf Becker im Gespräch mit Daniel Viglietti (r.) bei der Gala zum 70. Geburtstag der jW im Februar 2017 in Berlin

    Bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz treten Sie zusammen mit den Musikern Tobias Thiele und Nicolás Miquea auf. Was werden Sie da machen?

    Ein Gedenken für Daniel Viglietti, den im Oktober verstorbenen Liedermacher aus Uruguay. Ich werde einige Worte über ihn sagen und die Texte seiner Lieder rezitieren, bevor sie von Tobias und Nicolás gespielt werden.

    Mit Daniel Viglietti sind Sie im Februar 2017 auf der Gala zum 70. Geburtstag der jungen Welt in Berlin aufgetreten, dieses Konzert wurde mitgeschnitten und ist auf der CD »Otra Voz Canta« zu hören. Vorher gab es ein Treffen von Viglietti mit Berliner Liedermachern, die nun Ende Februar in der Berliner Wabe ein Gedenkkonzert für ihn spielen werden. Waren Sie bei diesem Treffen dabei?

    Ja, in der Wohnung von Tobias Thiele. Wir haben viel geredet, gesungen, sind anschließend essen gegangen. Tobias und Nicolás sangen ja auch zum Schluss beim jW-Konzert mit, als Daniel sein »A Desalambrar« anstimmte. Das heißt »Entzäunen«, dieses Wort gibt es im Deutschen nicht, bezeichnenderweise. Es meint nicht nur: reißt die Zäune nieder, sondern alle abgrenzenden Vorurteile.

    Konnte Daniel Viglietti Deutsch?

    Wenig. Seit den Siebzigern, als ich ihn in Köln kennenlernte, hatte er viel verlernt.

    Er war noch vor dem Militärputsch in Uruguay 1973 nach Europa emigriert.

    Das wird oft vergessen: Noch vor dem Putsch von Pinochet, September 1973 in Chile, hatte es im Juni einen Militärputsch in Uruguay gegeben. Daniel war aber bereits 1972 von der bürgerlichen Regierung in Uruguay verhaftet worden, weil er mit den Tupamaros, der Stadtguerilla, zusammenarbeitete. Wenige Tage vor dem Putsch kam er frei, weil sich eine internationale Solidaritätskampagne mit dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, Pablo Neruda, Jean-Paul Sartre und anderen für ihn eingesetzt hatte. Sein Glück, wenige Tage später wäre er wie viele seinesgleichen umgebracht worden. So gelang ihm die Flucht über Argentinien nach Frankreich, wo er bis Mitte der 80er Jahre lebte und auch seine Frau Lourdes kennenlernte.

    Wie kam er nach Köln zum WDR, für den er Musik machte?

    Durch César und Graciela Salsamendi – er bildender Künstler, sie Schriftstellerin. Beide arbeiteten im Exil für die Deutsche Welle und den WDR, die damals politisch kritische Sendungen über Lateinamerika produzierten. Graciela hat mit Hein Brühl, Regisseur und Redakteur im Hörfunk, Texte von Daniel ins Deutsche übertragen. Sie ist kurz vor Daniels Konzert für die jW gestorben, das hat ihn tief getroffen.

    Was für Sendungen haben Sie mit Viglietti produziert?

    Etliche – im Archiv des WDR erhalten: »Wir werden nicht schweigen«, 1975, Kommentar in Form eines Hörspiels zum Putsch in Chile. Oder wir haben, angeregt von Heinz von Cramer, Regisseur, Autor und Dirigent, der zum Freundeskreis um die Sasamendis gehörte, stundenlang im Studio improvisiert: ich Geschichten lateinamerikanischer Autoren vorlesend, Daniel, der die Autoren kannte, spontan dazu spielend und singend. Das wurde dann zusammengeschnitten und gesendet.

    Welche Erinnerung haben Sie an den Viglietti von damals?

    Besonders wie ihm die Frauen nachschauten, wenn wir durch die Stadt gingen. Er mit seinem indianisch-schwarzen Haar bis zur Taille und der Gitarre – was für ein Blickfang. Mich hat keiner beachtet (lacht).

    Er hatte auch eine sehr schöne Stimme.

    Ja – und er hat etwas gemacht, was die anderen lateinamerikanischen Musiker so nicht gemacht haben: wie Pablo Neruda mit seinen Gedichten die Geschichte des amerikanischen Kontinents – von Pol zu Pol, vom Atlantik über die Anden bis zum Pazifik – erzählt hat, hat Daniel uns mit seinen Liedern die Geschichte Lateinamerikas geschenkt.

    In einer sehr poetischen Sprache, die er auch benutzte, wenn es um harte politische Inhalte ging.

    Ja, er hat nicht gesungen, dass die Menschen arm sind, weil sie ausgebeutet werden, sondern über die »Negrita Martina«, ein kleines schwarzes Mädchen, und auf diese Weise die historischen und aktuellen Probleme des Kontinents thematisiert.

    Was hören Sie selbst für Musik?

    Eine Musik, die ich geerdet nenne, sozial und politisch bezogen.

    Kein L’art pour l’art.

    So würden wir im Theater sagen. Ich denke, dass auch Beethoven oder Mozart politisch rückgekoppelt waren, obwohl sie heute enthistorisiert werden, als wäre das eine Musik an sich, völlig wertfrei. Unsinn. Der Komponist Anton Webern hat mal gefragt: »Sind Töne Töne oder sind Töne Webern?« Sind sie abstrakt, oder haben sie etwas mit mir und dir zu tun?

    Daniel Viglietti war ein geerdeter Musiker.

    Wie alle lateinamerikanischen Musiker. Er gehörte zu den Top fünf der Liedermacher dieses Kontinents: Víctor Jara, Violeta Parra, die Godoy-Brüder aus Nicaragua und dann er, Daniel.

    Er hatte ein sehr freundliches Wesen.

    Ja, auf eine ganz verhaltene Weise. Er wurde selten laut, blieb zurückhaltend, auch wenn er politische Akzente gesetzt hat. Nach dem Konzert für die junge Welt hat er mich gefragt: »Hast du gemerkt, wie ich deine Impulse aufgegriffen habe?« Ich war bei einzelnen Texten relativ heftig und emotional geworden, und er hat darauf härter in die Saiten gegriffen, hörbarer Stellung bezogen. Wir haben zusammen gespielt: Er hat mich vor zu großer Aggressivität bewahrt und ich ihn vor manchmal zu großer Nachsichtigkeit.

    Wie hat er die politische Entwicklung im heutigen Uruguay eingeschätzt?

    Positiv. José Mujica, ein früherer Tupamaro, ist Präsident geworden – für unsere Verhältnisse undenkbar. In Montevideo, unten am Río de la Plata, ist eine große Gedenkstätte für die Opfer der Militärdiktatur. Daniel hat sie mir gezeigt, obwohl ihm der Weg dahin schwerfiel. In große Glaswände eingeritzt Hunderte von Namen. Freunde von ihm, die gefoltert und ermordet wurden. Daniel sagte nur: »Mein Name fehlt.«

  • · Interviews

    »Alles musste ganz mutig raus«

    Gibt es linkes Weihnachten? Ein Gespräch mit Dr. Seltsam über Jesus, Che, Kartoffelsalat und Handauflegen
    Christof Meueler
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    Dr. Seltsam prüft die Bühne (auf der Rosa Luxemburg Konferenz 2016)

    Dr. Seltsam ist ein Berliner Kabarettist, Historiker, Conferencier und Marxist. Am 13.1.2018 moderiert er zusammen mit Gina Pietsch in Berlin die XXIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung

    Lieber Doktor, mit 66 Jahren sind Sie jetzt als Berliner Godfather of Lesebühne in Rente gegangen.

    Was heißt schon Rente? Ich krieg jetzt 920 Euro vom Amt, Grundsicherung. So viel als Rente zu kriegen, ist für mich unmöglich. Ich war ja mal fünf Jahre lang Lehrer, dafür gibt es 350 Euro Rente. Hätte ich das gewusst, hätte den Job nicht so lange durchgehalten. Die Durchschnittsrente bei Männern in Westdeutschland beträgt übrigens 1.100 Euro. Ich guck’ mir das immer genau an.

    Wenn wir schon beim Nachrechnen sind: Sie stehen auch schon ein halbes Jahrhundert auf der linksradikalen Seite, wie fühlen Sie sich?

    Ich halte es weiterhin mit der Offenbarung aus der Bibel, Kapitel 11, Vers 18 in der Fassung von Martin Luther: »Und die Heiden sind zornig geworden; und es ist gekommen dein Zorn und die Zeit der Toten, zu richten und zu geben den Lohn deinen Knechten (...) und zu verderben, die die Erde verderbt haben«. Das ist mein Ziel, das will ich erleben, egal, von wem, von Jesus oder von der Revolution.

    Von Jesus?

    Ich war vorgestern in der Bolle-Moschee in Kreuzberg, die ihren Namen von dem Supermarkt hat, der da vorher stand. Da geh’ ich gerne zum Friseur, das ist ein syrischer Flüchtling. Da saßen ein paar Moslems, während ich den Bart gemacht bekam. Einer sagte, er verstehe nicht, dass man gläubig sein kann, ohne religiös zu sein. Ich: »Grummel, grummel, grummel«. Mehr ging nicht, weil ich gerade rasiert wurde. Danach sagte ich ihm: »Junger Mann, das geht durchaus, man kann zum Beispiel gläubiger Kommunist sein und überhaupt nicht religiös.« Und der fragte mich daraufhin, ob ich denn Jesus toll finde? Und ich sagte: »Ja, so toll wie Che Guevara«.

    Und deshalb feiern Sie als Marxist auch Weihnachten?

    Natürlich. Letztes Jahr musste ich abends um neun schon wieder alle nach Hause schicken. Die waren stinksauer. Meine Süße hatte angerufen: schlimme Migräne, ich musste unbedingt zu ihr, bin auf dem Weg an der katholischen Matthias-Kirche vorbei gekommen und dachte: Na, guckste mal rein. Die Kirche war knallvoll, alle sangen, ich hab’ mir noch den Segen angehört und bin dann zu meiner Freundin, hab’ ihr die Hand aufgelegt – und die ­Migräne war weg!

    Wie bitte?

    Ich dachte schon, ich kann jetzt eine Karriere als Wunderheiler beginnen, aber die nächsten Male funktionierte es nicht mehr.

    Weil Sie nicht vorher im Gottesdienst waren.

    Ist doch egal, die Gefühle sollen reichen.

    Sie kommen doch auch aus einer sehr christlichen Familie?

    Ja, aus einer Sekte: aus einer katholisch-apostolischen Gemeinde. Da war es besonders an Weihnachten ganz schlimm. Es ging vormittags zur Kirche, nachmittags zur Kirche und zwischendurch auch noch mal. Die haben das alles sehr ernst genommen. Und dann hat mich meine Mutter Weihnachten immer vermöbelt, das war so schlimm, dass ich Weihnachten immer zur evangelischen Bahnhofsmission in Lübeck gegangen bin, statt zu Hause zu bleiben. Da kamen dann die Ostrentner aus Rostock und Parchim, und wir haben denen Kaffee gemacht.

    Allerdings habe ich später, als ich Materialist geworden bin, gemerkt, dass das, was Jesus und die Urchristen praktiziert haben, reiner Kommunismus war, es ging richtig zur Sache beim Abendmahl, das wurde täglich abgehalten. Dafür mussten die Reichen ihre Häuser verkaufen, davon wurde dann das Essen für die Armen gekauft. Doch das hat Paulus, dieser römische Spitzel, alles umgedreht und das Abendmahl auf das rein Geistliche reduziert – man bekommt eine olle Oblate, von der kein Mensch satt wird. Und nur einen Schluck Wein. Das ist doch lächerlich.

    Gibt es ein linkes Weihnachten?

    Ja. Das schönste Weihnachtsfest habe ich 1969 in der Hamburger Uni erlebt: Der AStA hatte ein revolutionäres Weihnachten organisiert. Vor vollem Haus sang Franz Josef Degenhardt seine Lieder und Peter Schütt trug Gedichte vor: »Kiek eens, wat is de Himmel so rot! Dat sünd Marx und Engels, de backt dat Brot! De backt all de lütten lekker Stuten, för all de lütten Meckersnuten«. Da hatte ich Träne in den Augen, das war so wahnsinnig schön, dass ich dachte: So ein Weihnachten will ich wieder haben. Das habe ich aber nie wieder hingekriegt. Als ich später dann selber Shows veranstaltet habe, habe ich regelmäßig versucht, die auch an Heiligabend stattfinden zu lassen. Aber da kommt keiner, denn die Leute sind so knallfest in ihren Familien festgezurrt. Ganz schlimm war es in der Westberliner Hausbesetzerzeit in den 80ern. Da sind wirklich alle Hausbesetzer zu Mami nach Hause gefahren, und ich war ganz allein zurückgeblieben. Ich dachte: Mann, sind die Bullen blöd, die müssen jetzt nur mit vier Leuten rumfahren und können alle 160 besetzten Häuser räumen. Aber wahrscheinlich waren die Polizisten auch unterm Weihnachtsbaum.

    Und was taten Sie dann so einsam?

    Ich hatte depressive Gedanken, aber Freunde luden mich in eine Kneipe in Kreuzberg, in den Bierhimmel ein, wo es eine Weihnachtsgans gab – und sie spielten den ganzen Abend ein Lied: »Hasta Siempre Che Guevara« von Jan Garbarek. Das war natürlich wieder sehr schön und seitdem meine Lebensrettungslieblingsmusik, die haben wir zu Beginn Dr. Seltsams Frühschoppen immer abgespielt.

    Stimmt es, dass Sie in Berlin die erste Lesebühne gegründet haben?

    Ja, das stimmt – zusammen mit anderen. Die wirklichen Gründer sind Wiglaf Droste und sein Freund Cluse Krings. Wiglaf war ja in den 80er Jahren Medienredakteur bei der Taz und hat da immer seine schützende Hand über mich gehalten, weil ich denen zu links schrieb. Schließlich durfte ich aber gar nicht mehr schreiben ...

    Warum?

    Da gab es einen linken Autor, von dem es hieß, er habe eine Frau vergewaltigt. Da haben die Frauen in der Taz Alarm geschlagen, und die männlichen Autoren sollten eine Stellungnahme abgeben. Ich sagte: »Einer Frau, die Karate kann, wird man ihr deutliches Nein niemals missverstehen.« Zwei Wochen später formulierte das Alice Schwarzer ganz ähnlich. Aber mir wurde vorgeworfen, ich würde mit meinen Texten zur Militarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. Und ich sagte: »Danke für das Lob, genau das will ich ja«.

    Obwohl ich zwei linke Hände habe und nicht bei der Bundeswehr war. Da bin ich drum rum gekommen, weil ich bei der Musterung gesagt habe: »Ich will bitte zu den Panzern. – »Wieso das denn?« – »Ja, wenn wir einen erobern, muss den ja auch jemand fahren können.« Das war’s. Danach habe ich von denen nie wieder was gehört. Auch die Taz musste ich deshalb letztlich verlassen. Aber da war ich nicht der einzige, und verschiedene Autoren haben dann im Frühjahr 1989 gesagt: Eine Zeitung zu machen ist uns einfach zu doof, statt dessen lesen wir unsere Texte einfach vor. So entstand die »Höhnende Wochenschau« mit Droste, Krings, Michael Stein und anderen. Sie fand einmal die Woche im Kino Eiszeit statt und war von Anfang an ein unglaublicher Erfolg. Ich habe mir dann gesagt: Das ist ja toll, das mache ich jetzt immer. Michael Stein hatte gefordert: Jeder Text muss einen Angriff enthalten, das halte ich immer noch für eine großartige Maxime eines linken Autors.

    Sie waren von Anfang an Conferencier?

    Nein, zu Beginn war jeder Conferencier und hat den folgenden Autor angesagt. Es gab wunderbare Texte. Cluse Krings ist nach Barcelona gefahren und hat live von den Olympischen Spielen berichtet, nämlich, dass die Stadt im Dreck erstickt, damals war das noch nicht so touristisch. Frank Fabel hat darüber geschrieben, wie er sich bei einem Mercedes Thinktank beworben hat und was die ihm für blöde Fragen gestellt haben. Ich ließ mir live auf der Bühne die Haare schneiden und erzählte dabei, was mir gerade so durch den Kopf gegangen ist – wie beim echten Friseur eben. Ohne Rücksicht auf mein Unbewusstes. Alles musste ganz mutig raus: Dass mich keine Frau mehr angucken wird, wenn ich meine langen Haare abgeschnitten bekomme.

    Sie hatten Ende der 80er Jahre noch lange Haare?!

    Ja, ich fand das schöner. Aber meine heutige Freundin sagt: »Damit sahst du total scheiße aus.«

    Kurzhaarig haben Sie dann »Dr. Seltsams Frühschoppen« begonnen?

    Ja, 1990 lag ich im Krankenhaus und machte eine sechswöchige Abmagerungskur, das bekam ich damals noch von der gesetzlichen Versicherung bezahlt. Und weil ich auch eine Krankenhaustagegeldversicherung hatte, war das meine Spardose. Also ich lag da rum, und dann besuchten mich Hans Duschke und Horst Evers und fragten mich, ob ich nicht mit ihnen so eine Lesebühne machen wollte? Ich hätte doch damit Erfahrung, und sie hätten jetzt auch damit angefangen, an der FU während des Studentenstreiks. Ich sagte: Okay, ich mache mit – unter einer einzigen Bedingung: Wenn die Veranstaltung so heißt wie ich. So kam es zu dem Namen »Dr. Seltsams Frühschoppen«. Damit haben wir viel Geld verdient. 14 Jahre lang, erst im besetzten Haus und dann in der Kalkscheune. Die Leute standen Schlange bis auf die Straße. Die Veranstaltung stand sogar im Baedeker-Reiseführer. Viele, die später was geworden sind, waren bei uns zu Gast, zum Beispiel Eckart von Hirschhausen.

    Nur Weihnachten funktionierte das nicht.

    Nein, nie. Ich habe statt dessen am 24. alle einsamen Herzen zu mir nach Hause eingeladen. Das war oft auch ganz lustig. Einmal hatte ich einen italienischen Verleger zu Gast, der wollte gerne Deutschland kennenlernen, besonders seine Feste. Für Heiligabend hatten sich mehrere Gäste angekündigt. Die einen wollten den Braten mitbringen, die anderen den Wein. Leider sagten alle ab, außer dem Verleger. Und ich saß da mit meiner Notration: Würstchen für 1,90 und Kartoffelsalat für 1,50 und drei Flaschen Bier. Wir teilten alles brüderlich. Als er ging, sagte der Verleger, es sei sehr nett gewesen, und vor allem stimme das ja wirklich, dass die Deutschen zu Weihnachten Wurst, Kartoffelsalat und Bier zu sich nehmen. Das war wirklich ein interkultureller Austausch: alle Vorurteile bestätigt.

    Fast schon ein Brechtsches Lehrstück. Aber »Dr. Seltsams Frühschoppen« scheiterte doch nicht an Weihnachten?

    Nein, an persönlichen Fragen. Und an politischen: Ich war der einzige, der die Politik reingebracht hat. Als 1999 der NATO-Krieg gegen Jugoslawien begann, wurde ich Sonntag morgen von den anderen empfangen: »Du Doktor, wir haben einstimmig beschlossen, dass die Wörter ›Uran‹, ›Joschka Fischer‹ und ›Kriesgsverbrechen‹ auf der Bühne nichts mehr verloren haben.« Die habe ich dann natürlich extra gesagt, und der Eklat war da.

    Es kam letztlich zur Spaltung.

    Irgendwann haben wir schließlich getrennte Veranstaltungen gemacht und dafür den Namen geteilt: Die Spaßmacherfraktion hieß »Frühschoppen« und die politische Fraktion, also ich, hat wieder den Begriff »Wochenschau« benutzt: »Dr. Seltsams Wochenschau« – auch das 13 Jahre lang. Da hab’ ich mir immer Leute eingeladen und mit denen geredet, was ich auch viel besser fand: Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Hans-Christian Ströbele zum Beispiel. Ich habe all die Leute, die keiner richtig persönlich kennt, nach den persönlichen Dingen gefragt, die sie sonst nicht sagen sollten.

    Und die ihnen dann auch geglaubt, obwohl sie von Medienprofis erzählt wurden?

    Lafontaine hatte mir gegenüber behauptet, dass er nach einem halben Jahr aus der Schröder-Regierung ausgetreten sei, weil er gewusst habe, die wollten Krieg führen, und da wollte er nicht mitmachen. Nun weiß man nie, was davon stimmt, aber ich hab’s ihm geglaubt. Auf mich hat er einen offenen Eindruck gemacht. Ich hab’ ihn nämlich gefragt, wie er es als moralisch gefestigter Mensch überhaupt bei diesen Pappnasen im Parlament aushalten könnte? Er hat geantwortet: »Da haben Sie recht, ich würde auch lieber mit meinem Sohn Maurice im Garten Korbball spielen, da hab’ ich immer was zu tun.«

    Übrigens hatte Hans Duschke beim »Frühschoppen« mal eine Nummer gemacht, die fand ich sehr gut. Er stand auf der Bühne und sagte, er könne Gedanken lesen. Dann bat er jemand aus dem Publikum auf die Bühne und sagte ihm: »Ich weiß, was sie jetzt denken: Was ist das für ein Idiot, der da sagt, er könnte Gedanken lesen!«

    Waren Sie eigentlich mal Schauspieler?

    Nur als Schüler, einmal in einem Stück von Pirandello. Da war ich in einen Krug eingemauert und musste auf Kommando lachen. Das habe ich knapp hingekriegt. Und dann im »Autobus S« von Raymond Queneau gespielt, das war wunderschön, aber ich hab’ den Text nicht verstanden. Muss man ja auch nicht als Schauspieler, das ist ja das Irre. Als Moderator muss man auch schauspielern, den Beifall herauslocken, das ist die Hauptaufgabe. Obwohl ich anfangs sehr schüchtern war, habe ich das gelernt über die Jahre.

    Und das Singen haben Sie sich auch noch draufgeschafft.

    Nur ein bisschen, ich dachte immer: Ich kann es nicht, aber jeder kann es, wirklich wahr. In Neukölln hatte ich in den Neunzigern mal den »Amüsiersalon«, wo ich auch singen und tanzen musste, zusammen mit einer alten Tänzerin: »Neukölln, Neukölln, du Blume der Stadt, wo jeder Mensch zwei Arme und vier Räder hat!« In erster Linie aber habe ich die Künstler eingeladen, die das auch perfekt beherrschen und zwar in meinen »Club Existentialiste« in den Nuller Jahren im Keller der Wabe. Da gab es tolle Jazzsessions. Nach meinen Erfahrungen mit den Frühschoppen-Leuten habe ich mir von den Künstlern immer gewünscht, dass die auch was Politisches singen. Und die sagten dann: »Nein, das können wir nicht, wir singen nur schöne Lieder!« Aber die Franzosen konnten zumindest »Le Déserteur« von Boris Vian. Das hatten die alle im Kindergarten gelernt. Aber die kannten nicht die Originalstrophe, die dann verboten war: »Monsieur le Président, Sie können die Gendarmen schicken, doch ich kann gut schießen!« Statt dessen hieß es: »Monsieur Le Président, Sie können Ihre Gendarmen schicken, aber ich werde mich nicht wehren.« Das wusste ich dann wiederum.

    Singen könnten Sie ruhig öfter. Eine wohltönende Stimme haben Sie doch. Und laut ist die außerdem.

    In den 70ern stand ich in dem kleinen Lübeck auf der Durchgangsstraße und rief den Arbeiterkampf aus, die Zeitung des Kommunistischen Bundes, mit einer so kräftigen Stimme, dass es von einem Stadttor zum anderen geschallt ist, wie mir berichtet wurde. Vom Burgtor bis zum Holstentor. Wenn bei der RLK, der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die ich regelmäßig moderiere, das Mikrofon ausfällt, könnte ich die 1.500 Leute im Saal auch so unterhalten. Überhaupt kein Problem. Das habe ich gelernt.

    Was ist Ihr Trick bei der RLK? Wie bleiben Sie den ganzen Tag als Moderator fit?

    Kaffee, Unmengen von Kaffee. Hinter der Bühne ist es überhaupt nicht langweilig, weil du nie weißt, was einer auf der Bühne tun wird. Und wenn er fertig ist, musst du sofort da sein und etwas sagen oder jemand interviewen.

    Aus der Lamäng?

    Ich bin da unheimlich wach.

    Wann war Ihre erste RLK?

    2005, da habe ich Alfred Hrdlicka interviewen müssen ...

    weil ich im Stau steckte. Ich sollte das ja ursprünglich machen, aber schaffte es nicht mehr rechtzeitig.

    Tja, Planung ist alles. Als 2005 einer vom ZK der KP Kubas sprach, sagte Mag Wompel von Labournet zu mir: »Komm, wir gehen raus, eine Zigarette rauchen.« Ich meinte: »Das geht leider nicht, ich muss hier als Moderator auf dem Sprung sein.« Doch sie beruhigte mich: »Keine Sorge, der Mann kommt aus Kuba, der fängt bestimmt bei Adam und Eva an.« Wir gingen raus, rauchten zwei Zigaretten, und als wir wiederkamen, war der tatsächlich erst bei Batista! Und ich machte auf der Bühne dann den Witz: »Das ist die alte Fidel-Schule, keine Rede unter sechs Stunden.«

    Die Kubaner sprechen regelmäßig auf der RLK, und immer ließ ich Grüße an Fidel ausrichten. Da war ich sehr stolz, das tun zu können. Das Schöne an der Konferenz ist ja: Das sind Linke, die verstehen das, was ich sagen will. Das war sonst oft ein Problem: für meine Schüler, als ich noch Lehrer war, für die Taz-Redakteure, als ich Fernsehkritiken schrieb, und für meine Frühschoppen-Kollegen, die nur Spaß machen wollten.

    Und Sie sind sogar so politisch, dass Sie auch aus politischen Gruppen rausgeflogen sind, oder?

    Ich bin aus der IG Druck rausgeflogen, weil ich in Lübeck am 1. Mai eine Rede für den KB gegen den DGB gehalten habe. Wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der Gewerkschaft mit den Maoisten. Später bin ich in Westberlin aus der GEW rausgeflogen, mit dem ganzen Landesverband, weil man sich genau gegen diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse wandte. Aus dem KB bin ich dann aber auch zweimal rausgeflogen: einmal, weil ich es mehrmals versäumte bei einem Werftarbeiterstreik ganz früh morgens Flugblätter zu verteilen – da kam ich einfach nicht aus dem Bett raus. Und später noch einmal, weil ich gegen eine andere maoistische Gruppe, die KPD/AO kämpfen wollte, als die die Sowjetunion zum Hauptfeind erklärt hatten, also auf CDU-Linie eingeschwenkt waren. Dagegen wollte ich eine Aktionseinheit gründen, was mir vom KB als »Provokation« ausgelegt wurde. Es wurden Stellungnahmen eingeholt, alle durften was sagen, und als ich dran war, hieß es: »So, danke, wir haben alles vernommen«. Es gab dann ein Umgangsverbot – meine damalige Freundin musste sich von mir trennen. Wir haben uns natürlich heimlich weiter getroffen. Aus dem KB ist nichts geworden, kein Wunder, wenn man so miteinander umgeht. Das war noch nicht mal richtig stalinistisch, nur blöd.

    Oft waren die K-Gruppen, die kommunistischen Kleinparteien der 70er, so streng wie kurios.

    Ich kann da nur mit Mao sagen: Ohne die Massen sind wir bis zur Schonungslosigkeit lächerlich. Na gut, die Massen feiern eben Weihnachten.