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Aus: Literatur (Buchmesse Frankfurt), Beilage der jW vom 16.10.2024
Philosophie

Fortschritt als Fratze

Vorwärts immer, rückwärts aber auch. Moshe Zuckermanns Essay über die Dialektik der Aufklärung
Von Marc Püschel
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»Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten: / Bedingung und Gesetz; und aller Wille / Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, / Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille; / Das Liebste wird vom Herzen weggescholten, / Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille. / So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren / Nur enger dran, als wir am Anfang waren.«

So dichtet Goethe in »Urworte. Orphisch« über Ananke, die griechisch-mythologische Personifikation des unpersönlichen zwangsläufigen Schicksals und damit Gegenpart der Zufallsgöttin Tyche. Die Römer nennen sie später schlicht Necessitas – Notwendigkeit. Ob wir »nur enger dran« sind als am Anfang der Menschheitsgeschichte, ob wir dabei immerhin »scheinfrei« sind, ob wir einen quasi naturhaft-gesetzlichen Notwendigkeit unterliegen oder doch Spielraum für eigenbestimmtes Handeln haben, sind Fragen, die in der krisenhaften Gegenwart wieder an Bedeutung gewinnen. Nicht ohne Grund steht dabei der Begriff des Fortschritts – ob es einen solchen gibt und mit welchen Kriterien man ihn bewerten kann – im Zentrum der Diskussion.

Noch einmal mit Benjamin

Hatte vor knapp einem dreiviertel Jahr Rahel Jaeggi mit »Fortschritt und Regression« bereits einen Aufschlag in diese Richtung gemacht, legt nun Moshe Zuckermann mit seinem Werk »Fortschritt. Leben und Sterben einer Chimäre« nach. Im Kern der Überlegungen des Soziologen und Philosophen steht dabei, in bewusster Anknüpfung an das gleichnamige Werk von Max Horkheimer und Theodor Adorno, die Dialektik der Aufklärung. Die technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung seit der Frühen Neuzeit hat nicht nur segensreich gewirkt, sondern erwies sich auch als »katastrophisch, als sich von der notwendigen Beherrschung der äußeren Natur zwangsweise auch die Beherrschung der inneren und von dieser die Herrschaft des Menschen über den Menschen ableitet«.

Das Anknüpfen an Horkheimers und Adornos (freilich stark durch Lukács vermittelte) Grundeinsicht zur janusköpfigen Entwicklung der Menschheit ist berechtigt und politisch sogar geboten: Zuckermann zieht sie vor allem zur Analyse und Kritik der Gegenwart heran. Sein Buch lässt sich daher als eine Aktualisierung der »Dialektik der Aufklärung« verstehen, und als Motto hätte man ihm gut das berühmte Wort von Walter Benjamin voranstellen können: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.«

So klar und wichtig das Motiv des Buches ist, so unklar bleibt hingegen die Bedeutung des Untertitels. »Leben und Sterben einer Chimäre« lässt das Aufzeigen einer historischen oder begriffsgeschichtlichen Entwicklung erwarten, doch weder beschreitet Zuckermann diesen Weg noch nimmt er wirklich Bezug auf den Untertitel. Er wählt statt dessen bewusst die Form eines Essays, der größtenteils aus »empirischen Beobachtungen zum Fortschrittsphänomen in der Moderne« besteht. Im Ganzen präsentiert sich der Essay als Sammlung von Gedanken des Autors zu verschiedenen Themengebieten, die ineinanderfließen, denen aber ein klarer roter Faden fehlt.

Doch natürlich ist dies kein alltäglicher »stream of consciousness«, sondern der Bewusstseinsstrom eines Gelehrten. So finden sich zahlreiche kluge Reflexionen in dem Buch, das in seiner Themenvielfalt einen guten Überblick über Problemkonstellationen bietet, die der Fortschrittsbegriff für das dialektische Denken darstellt. Genannt sei nur das Problem, dass etwa die griechische Dramatik uns nicht nur auch heute noch Genuss bietet, sondern zudem als ästhetische Norm dienen kann. Eine Fortschrittshierarchie oder eine ähnliche lineare Entwicklung, wie sie sich in der Technik oder Medizin seit der Frühen Neuzeit abzeichnet, kann also für die Kunst nicht einfach angenommen werden. So müsst der Fortschrittsbegriff zumindest differenziert gedacht – oder womöglich teilweise sogar verabschiedet werden.

Der einzige Zweck

Leichter scheint der Fall zunächst im Politischen. Wenn etwa gesellschaftlicher Fortschritt mit Gewalt durchgesetzt wird – Zuckermann nennt etwa die Französische Revolution oder das Wirken Napoleons – dann ist bei aller Ambivalenz ein zivilisatorischer Fortschritt doch erkennbar. Zu Recht konstatiert allerdings Zuckermann, »dass der Holocaust (…) einen bruchartigen Wendepunkt im Fortschrittsdiskurs der Moderne markiert«. Zwar wäre Zuckermanns Kritik zu diskutieren, »die dem klassischen Marxismus eigenen Kategorien vermögen nicht, das Wesen dieses Grauens und seine Dimensionen zu erfassen«. Auch gilt es zu differenzieren, in den USA beispielsweise bestand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterhin ein großer Fortschrittsoptimismus, der erst Anfang des 21. Jahrhunderts brüchig wurde. Dennoch tritt zweifelsohne mit dem Holocaust, mit der Barbarei des deutschen Faschismus ein Bruch ein, der den Fortschrittsbegriff fragwürdig und problematisch macht.

Im Laufe des Buches wechseln sich Kritik an der Postmoderne, an der immer schnelleren und damit der Wahrheit weniger gerecht werdenden Medienwelt, Reflexionen über Psycho- und Sozialanalyse mit Freud und Fromm, Kritik am rechten Populismus von Trump über Netanjahu bis Le Pen, Erörterungen über Kulturindustrie und Faschismus, technikphilosophische Erwägungen und kurze Filmbesprechungen rasch ab. Dabei gerät der Fortschrittsbegriff mitunter etwas aus dem Blick, erst im Epilog wird wieder explizit daran angeknüpft.

Das Resümee, das Zuckermann über den Zustand der Welt nach 1989/90 zieht, ist düster: »Mithin verblieb das ›verwaiste‹ kapitalistische System mit dem, was seiner Natur und Ausrichtung noch am ehesten entspricht: der Optimierung des Monopols über die Gestaltung des real Bestehenden, um seinen einzigen Zweck – die Profitmaximierung – mit um so größerer Effizienz perpetuieren und befördern zu können. Diesem System ist Fortschritt zur ideologischen Fratze verkommen.« Dass, auch wenn heutzutage eine bessere, menschenwürdigere Gesellschaft weiter entfernt denn je erscheint, der Fortschritt keine Fratze bleiben muss, lässt sich jedoch gleichfalls aus Zuckermanns Essay schließen. Denn in der steten Kritik des Bestehenden scheint die Möglichkeit echten Fortschritts immer durch.

Moshe Zuckermann: Fortschritt. Leben und Sterben einer Chimäre. Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024, 144 Seiten, 20 Euro

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