4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Feminismus, Beilage der jW vom 06.03.2024
Feminismus

»Das Strafmaß liegt um die 25 Jahre«

El Salvador kriminalisiert Schwangerschaftsabbruch – bis hin zu Mordanklage. Ein Gespräch mit Abigail Cortez
Von Tom Beier
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Die gemeinschaftlichen Orte sind die gefährlichsten: Das ganze Team von "#blackdragmagic" posiert in Khayelitsha

In El Salvador wird jegliche Form von Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert – bis hin zur Mordanklage. Wie ist die aktuelle Situation der wegen eines Abbruchs inhaftierten Frauen?

Es ist uns gelungen, alle 73 Frauen aus dem Gefängnis zu holen. Aktuell ist keine Frau mehr wegen Abtreibung inhaftiert. Dennoch geht die Kriminalisierung weiter. Es gibt zur Zeit 20 Fälle. In 14 davon konnten wir erreichen, dass die Verfahren nicht aufgenommen wurden, aber in sechs Fällen wissen wir noch nicht, was daraus wird.

Warum wird Schwangerschaftsabbruch so rigide verfolgt?

Seit 1998 gibt es ein Gesetz, das jegliche Form von Abtreibung unter Strafe stellt. Aber nicht nur das, die Frauen werden auch massiv verfolgt und kriminalisiert. El Salvador ist eines der vier Länder in der Region, in denen Abtreibung unter Strafe steht. Die anderen sind Honduras, Dominikanische Republik und Nicaragua.

Wir haben das in einer Studie untersucht: Sie trägt den Titel »Vom Krankenhaus ins Gefängnis«. Darin haben wir festgestellt, dass 87 Frauen aufgrund des Gesetzes kriminalisiert und inhaftiert wurden. Das geschieht in den anderen Ländern faktisch nicht. Da bleiben die Frauen meist straffrei.

Ist die Rechtspraxis also eine andere?

Ja, denn eigentlich beträgt die Strafe für Abtreibung zwei bis acht Jahre. Aber die Frauen werden nicht wegen Abtreibung, sondern wegen versuchten Mordes oder Mordes verurteilt, weswegen das Strafmaß um die 25 Jahre liegt.

Wie kämpft ihr gegen diese frauenverachtende Politik?

Unser feministischer Ansatz umfasst einerseits den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihren Körper und andererseits die Abschaffung des Abtreibungsgesetzes. Hier unterstützen wir die Frauen auch mit juristischen Mitteln.

Könnt ihr etwas zum speziellen Fall von Manuela sagen?

Ja, sie wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt, dann wurde bei ihr im Krankenhaus Krebs diagnostiziert und letztendlich ist sie im Gefängnis verstorben. Eine besondere Tragödie. Wir haben diesen Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht. Der hat einerseits Entschädigungen für die Familie von Manuela festgelegt, also ökonomische Wiedergutmachung für ihre zwei Söhne und ihre Eltern. Außerdem wird El Salvador dazu verpflichtet, im öffentlichen Schulunterricht Sexualerziehung anzubieten, die es bisher dort nicht gibt. Weiterhin wurde der Staat dazu verpflichtet, dass medizinische Protokolle angefertigt werden, damit man genau nachvollziehen kann, was im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs passiert ist und warum er gemacht wurde. Bisher ist es oft so, dass Ärzte die Frauen anzeigen und damit ihre medizinische Schweigepflicht verletzen.

Wieso tun die Ärzte das?

Das liegt daran, dass das Gesetz so verschärft wurde, dass der Arzt sich mit strafbar macht, wenn er von einem Abbruch weiß und ihn nicht anzeigt. Das soll nun ebenfalls abgestellt werden.

Funktioniert das in der Praxis?

Nein, zwar sind die Entscheidungen des Gerichtshofs für El Salvador bindend, aber die Protokolle etwa werden kaum umgesetzt, da die Ärzte sie nicht kennen oder sie im Krankenhaus aushängen, aber nicht befolgt werden. Das heißt, formell existieren die Urteile, aber faktisch werden sie kaum angewandt.

Nimmt die Kirche Einfluss?

Ja, die Kirchen stecken auch dahinter, dass es keine Sexualerziehung gibt. Wir glauben auch, dass es Verhandlungen gab zwischen dem Erzbischof der katholischen Kirche und Präsident ­Nayib Bukele, dann gleichzeitig mit der Streichung von Sexualerziehung in den Schulen gab es eine Anerkennung der Regierung durch die katholische Kirche.

Wie hat euer Kampf begonnen?

Ein besonderer Fall war 2013 die offizielle Anfrage von Beatriz an den salvadorianischen Staat, einen Schwangerschaftsabbruch zu machen, weil es eine Risikoschwangerschaft war und ihr Leben auf dem Spiel stand. Dadurch wurde erstmals die breite Öffentlichkeit darüber informiert, was passiert. Und die Menschen haben sich gefragt, wie es sein kann, dass man keine Abtreibung machen kann, obwohl das Leben der Mutter in Gefahr ist.

Diesen Fall haben wir auch vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht. Es war das erste Mal, dass ein Abbruch Gegenstand eines Gerichtsverfahrens wurde. Das Verfahren kommt jetzt, zehn Jahre später, erst zur Entscheidung. Beatriz ist 2017 verstorben und ihre Eltern treiben die Sache weiter voran. Der Tod ihrer Tochter hatte mit dem Zwang zur Austragung des Kindes zu tun, da dadurch ihr Gesundheitszustand instabil wurde. Zudem hatte sie die Lupus-Krankheit, eine Autoimmunerkrankung, die zur Schädigung von Organen führt. Hinzu kamen sicherlich auch die schlechten medizinischen Bedingungen in öffentlichen salvadorianischen Krankenhäusern.

Was versprecht ihr euch von dem Urteilsspruch?

Wir hoffen, dass die Entscheidung uns noch einmal weiter voranbringt, wenn der salvadorianische Staat erneut verurteilt wird. Vielleicht ist das ein Türöffner dafür, dass das Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung des Schwangerschaftsabbruchs gekippt wird.

Warum sind die 73 Frauen, von denen Sie eingangs sprachen, nicht mehr im Gefängnis? Haben sie ihre Strafe abgesessen? Sind sie freigesprochen worden?

Das hat unterschiedliche Ursachen. Bei einigen haben wir die Neuverhandlung ihrer Strafen erreicht. Anderen wurde Haftermäßigung gewährt. Mit legalen Mitteln haben wir also erreicht, dass sich die Situation erheblich verbessert hat. Es sind ja auch nicht alle zu 25 Jahren verurteilt worden. Manche haben ihre Strafen auch abgesessen oder konnten nach Zwei-Drittel-Verbüßung das Gefängnis verlassen.

Welche Form von Solidarität ist nötig?

Da möchten wir auf Beatriz hinweisen, weil wir an ihrem Beispiel aktuell das Problem der Kriminalisierung von Abtreibung in El Salvador öffentlich machen. Je mehr Menschen weltweit unsere Petition unterschreiben, um so besser. Wichtig ist auch, dem Interamerikanischen Gerichtshof den Rücken zu stärken. Er wird von rechten Gruppen derzeit stark angegangen: Er unterstütze Abtreibungen, sei gegen das Leben. Deshalb ist es wichtig, mit diesen Richtern solidarisch zu sein.

Abigail Cortez ist aktiv in der Agrupación Ciudadana por la despenalización del Aborto en El Salvador (Frauengruppe für die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs in El Salvador)

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