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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 12.03.2015

Weder rechts noch links?

Am Beispiel Houellebecq
Von Thomas Wagner
Will das parlamentarische System abschaffe: der Schriftsteller M
Will das parlamentarische System abschaffe: der Schriftsteller Michel Houellebecq, 8. November 2010

Wir sind weder rechts noch links! Auf Montagsdemonstrationen und Friedensmahnwachen bekam man den Satz ebenso zu hören wie auf den Versammlungen der Pegida-Anhänger. Und im professionellen Politikbetrieb brachten sich gleich zwei Newcomer mit nämlichem Slogan gegen das von einer wachsenden Zahl von Menschen mit Misstrauen beäugte System der »Altparteien« in Stellung, um die Gunst der Wähler zu erhaschen. Während die Piraten dabei kläglich gescheitert sind, mehren sich die Anzeichen, dass sich die Alternative für Deutschland (AfD) als politische Kraft rechts von der Union dauerhaft etablierten könnte. Im Bundestagswahlkampf 2013 und bei den Europawahlen 2014 waren ihre Sprecher allerdings sehr darum bemüht, die Etikettierung als rechts weit von sich zu weisen. Für die AfD gelte das Links-rechts-Schema nicht, sagte Vizesprecher Alexander Gauland im Gespräch mit dem Rechtsaußenblatt Junge Freiheit (18/2013). Man sei vielmehr »eine Partei des gesunden Menschenverstandes«. Zur gleichen Zeit distanzierte sich sein Parteifreund Konrad Adam demonstrativ von der radikalen Rechten. »Wir wollen keine Leute aus den Reihen von NPD und Republikanern.« (Focus 17/2013) Auf den Wahlplakaten standen sogar fortschrittlich klingende Parolen wie »Die Bürger sind systemrelevant. Sonst nichts« und »Die Schweiz ist für Volksentscheide. Wir auch«.

Bündnispartner hat die Lucke-Partei in der Ex-Pegida-Sprecherin Kathrin Oertel und ihren Kampfgefährten, die vor einigen Wochen die Initiative »Direkte Demokratie für Europa« starteten. »Wenn das durchgesetzt ist, werden sich viele Probleme, die jetzt durch die Abgehobenheit der politischen Klasse entstanden sind, sozusagen von allein lösen«, sagte Oertel der Jungen Freiheit (7/2015).

Ganz genauso scheint es der französische Schriftsteller Michel Houellebecq zu sehen, der am 19. Januar bei der Vorstellung seines Romans »Unterwerfung« im Depot 1 des Kölner Schauspiels vorschlug, das Parlament durch ein System direkter Demokratie zu ersetzen. Das Erscheinen des Buchs, das seit mehreren Wochen die Bestsellerlisten in Deutschland, Frankreich und Italien anführt, stand so sehr unter dem Eindruck des Anschlags auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, dass zunächst fast ausschließlich darüber diskutiert wurde, ob es sich gegen den Islam richte. Das war naheliegend, denn schließlich entwickelt der Autor darin ein Szenario der nahen Zukunft, in dem eine gemäßigt islamistische Partei auf demokratischem Wege die Regierungsgeschäfte Frankreichs übernimmt. Die Auslieferung des Romans in Frankreich erfolgte am 7. Januar, also am Tag des Anschlags. Unter den zwölf Todesopfern war der linke Ökonom und Wirtschaftskolumnist Bernard Maris, ein Freund Houellebecqs. Maris hatte für die damals aktuelle Ausgabe der Zeitschrift eine Rezension des Romans geschrieben. Die Titelseite zeigte eine Karikatur Houellebecqs, verbunden mit dem Satz »Im Jahr 2022 mache ich Ramadan«. Es lag nahe, einen Zusammenhang zwischen der Buchveröffentlichung und der mutmaßlich islamistischen Tat zu sehen. War der Schriftsteller nicht schon in der Vergangenheit durch islamfeindliche und rechte Äußerungen hervorgetreten? Die Literaturzeitschrift Perpendiculaire, bei der Houellebecq in den 1990er Jahren gearbeitet hatte, warf ihn bereits nach der Veröffentlichung seines Romans »Elementarteilchen« (1998) mit dem Vorwurf hinaus, »er vertrete faschistische Utopien.« (Süddeutsche Zeitung, 21.1.2015). Und so kann es nicht verwundern, dass es ein hochrangiger Repräsentant des Staates im Sinne der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung für angebracht hielt, sich flugs von dem sogenannten Skandalautor zu distanzieren. Frankreichs Regierungschef Manuell Valls erklärt: »Frankreich, das ist nicht die Unterwerfung, Frankreich ist nicht Houellebecq.«

Die meisten deutschen Rezensenten nahmen Houellebecq vor dem Vorwurf der Islamfeindschaft in Schutz.»Denn er warnt weniger vor einer bestimmten Religion, vor Religion im säkularen Staat oder vor autoritären Regimen an sich als vor der Untätigkeit und dem Einknicken der Willigen«, so Lilian-Astrid Geese im Neuen Deutschland (15.1.2015). Es sei daher wichtig, sich mit dem Roman auseinanderzusetzen. In seinem Autor stecke »ein verhinderter Idealist, ein Idealist im Gewand des Provokateurs«, schrieb Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (16.1.2015). Für Tilman Krause, den Rezensenten des Springer-Blatts Die Welt (10.10.2015), ist der Roman wie »ein stark gepfeffertes Menü, das uns in überwältigender Weise daran erinnert, dass Literatur freies Spiel der imaginativen Kräfte ist«. Er erklärt »Unterwerfung« zu einem »grandiosen Buch«. »Mehr als jeder andere europäische Schriftsteller der Gegenwart hat Houellebecq die Sensibilität und den Mut, schwelende Konflikte zu erkennen und erzählerisch fortzuspinnen«, lobt Jan Küveler in der Welt am Sonntag (11.1.2015). Houellebecq sei »einer der feinfühligsten Seismographen der französischen Gesellschaft«, urteilt Martina Meister in der Berliner Zeitung (15.1.2015), nur zwei Tage nachdem Cornelia Geissler im gleichen Blatt befand, der Autor provoziere »nicht zum Steinewerfen, Brandschatzen, Schießen, sondern zum Nachdenken (ebd., 13.1.2015). »Houellebecq mag ein 68er-Fresser sein, aber ein rechter Reaktionär ist er deshalb noch lange nicht«, meint Dirk Knipphals in der taz (21.1.2015). »Rechts oder links, reaktionär oder fortschrittlich, das hat für ihn keine Bedeutung«, schlägt Der Spiegel (10/2015) in die selbe Kerbe. Und von Volker Weidermann, dem linksliberalen Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, stammt eine etwas pathetisch geratene Erwiderung auf Manuel Valls: »Frankreich ist nicht Houellebecq? Hoffentlich ist es das bald wieder. Denn genau darum geht es in unserer Gesellschaft. Darum muss es gehen.« (FAS, 11.1.2015) Da überrascht es auch nicht, dass Jürg Altwegg, der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Houellebecq gar als den »Sartre unserer Gegenwart« (FAZ, 8.1.2015) bezeichnete. Der Vergleich mit der wichtigsten Ikone der engagierten Literatur gefiel Iris Radisch, der Literaturredakteurin des Wochenblatts Die Zeit, offenbar so sehr, dass sie Houellebecq in einem am 22. Januar 2015 veröffentlichten Gespräch damit konfrontierte. Dieser entgegnete: »Ich halte Sartre für keinen guten Schriftsteller.« Radisch darauf: »Er war am Nerv der Zeit, der Autor seiner Epoche.« Houellebecq: »Das Kompliment nehme ich an. Aber anders als Sartre sage ich niemandem, was er machen soll.«

Außer wenn es um die Verfassung der Republik geht, müsste man ergänzen. Denn bei dem eingangs erwähnten Vorschlag Houellebecqs, das Parlament zu beseitigen und die direkte Demokratie einzuführen, handelt es sich nicht um die Tageslaune eines ansonsten unpolitischen Autors, sondern um den Kern eines Acht-Punkte-Programms zur Erneuerung der politischen Ordnung, mit dem dieser schon vor einem Jahr einen vermeintlich aus ethnischen Konflikten resultierenden Bürgerkrieg abzuwenden hoffte. »In meinen Augen sollte der Präsident auf Lebenszeit gewählt werden, aber nach einem einfachen Referendum auf Initiative des Volkes sofort abgesetzt werden können«, zitierte das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vor einem Jahr den Schriftsteller, der damals schon mit Frankreichs konservativem Exstaatschef Nicolas Sarkozy über seine Pläne gesprochen hatte. »Das Volk soll direkt entscheiden. Auch über den Staatshaushalt und dessen Verwendung. Einmal im Jahr würde jeder Bürger ein Blatt ausfüllen und in verschiedenen Kästchen ankreuzen, wofür der Staat Geld ausgeben soll«, gab die die Schweizer Zeitung Tagesanzeiger Houellebecqs Plan wieder. Im erwähnten Zeit-Gespräch ist es Houellebecq selbst, der die Verbindung zwischen Romanfiktion und politischer Wirklichkeit zieht: »Es gibt im Roman einen kleinen Krieg. Er nimmt den Bürgerkrieg, der in Frankreich gerade beginnt, vorweg.«

Was ist von all dem zu halten? Ist »Unterwerfung« ein islamfeindlicher Roman? Oder haben wir es mit einer kritischen Intervention im Sinne der engagierten Literatur zu tun? Fragen wie diese werden im Schwerpunkt der vorliegenden Beilage zur Leipziger Buchmesse vertieft. Unsere Rezensentin Sabine Kebir hat den Roman als eine Satire auf die heute in Frankreich Mächtigen gelesenen. Michael Zander beleuchtet die politischen Essays, die Michel Houellebecq in den 1990er Jahren geschrieben hat. Das war die Zeit, in der der Schriftsteller auch in Deutschland zum neuen Literaturstar ausgerufen wurde. Hansgeorg Hermann schaut sich an, wie der ermordete linke französische Ökonom Maris das Werk seines Freundes interpretiert hat. Georg Thannert hingegen nimmt die Rezeption von Houellebecqs Roman durch die radikale Rechte in Deutschland unter die Lupe.

Schließlich hat sich Christian Stache ein aktuelles Buch über die AfD angeschaut, die eine ähnliche Verwischung von rechts und links betreibt, wie sie im Diskurs über Houellebecq festzustellen ist.

Den Leser dieser Ausgabe erwarten außerdem zahlreiche Rezensionen und Essays zu weiteren literarischen Themen. So bespricht der Schriftsteller Frank Decker den für den Preis der Leipziger Buchmesse vorgeschlagenen Roman seines Kollegen Michael Wildenhain »Das Lächeln der Alligatoren« und Rainer Werning würdigt das Lebenswerk des engagierten philippinischen Schriftstellers Francisco Sionil José. Außerdem gibt es, wie bereits im vergangenen Jahr, wieder ein umfangreiches Comicextra, diesmal unter besonderer Berücksichtigung japanischer Manga. Mit Michael Streitberg und Lukas Laier vom Onlinemagazin Tanuki Republic konnten wir zwei ausgewiesene Experten dafür gewinnen, Beiträge über die von vielen deutschen Linken als Kinderkram politisch unterschätzte Spielart der Bilderzählung beizusteuern.

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