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Aus: migration, Beilage der jW vom 21.11.2007

S.O.S. vor Europas Küsten

Auf der Flucht vor Elend und Krieg versuchen immer mehr Menschen, mit seeuntüchtigen Booten nach Spanien, Italien oder Griechenland zu gelangen
Von Jörn Boewe
Afrikanische Flüchtlinge und spanische Polizei. Los Cristianos,
Afrikanische Flüchtlinge und spanische Polizei. Los Cristianos, Teneriffa. 7. Juli 2007

Eine »Patera« mit 19 Nordafrikanern hat am Sonntag den Hafen von Arguineguin auf Gran Canaria erreicht, meldet der Onlinedienst islacanaria.net. Sieben der Bootsflüchtlinge seien unter 18 Jahren gewesen. »Pateras« heißen die kleinen Holzboote, mit denen die Flüchtlinge von der nordafrikanischen Küste mit Kurs auf Europas südlichstes Archipel aufbrechen. »Pateras« heißen in der katholischen Zeremonie aber auch die Opferschalen, die der Priester in der katholische Messe mit der darinliegenden Hostie über seinen Kopf hebt. »Pateras de la muerte« – »Opferschalen des Todes« heißen die Flüchtlingsboote im Marokko.

Weniger Glück als die 19 vom Wochenende hatten jene, deren Motor Mitte Oktober vor der marokkanischenh Küste ausfiel. Von den 143 Flüchtlingen, die im Senegal an Bord gegangen waren, überlebten 45 die Überfahrt nicht. 18 Tage lang trieb ihr Boot manövrierunfähig im Atlantik. Nachdem die Vorräte aufgebraucht waren, starben die ersten Flüchtlinge, ihre Leichen wurden über Bord geworfen. Die mauretanische Küstenwache entdeckte das Boot mit 98 Überlebenden an Bord am 6.November in den Hoheitsgewässern des Landes. Bis einschließlich August griff die spanische Küstenwache nach Angaben des Innenministeriums in diesem Jahr 8000 Menschen auf.

Mit drastischen Bildern von gestrandeten Flüchtlingen und zerschmetterten Booten versucht die spanische Regierung, den Exodus afrikanischer Flüchtlinge zu stoppen. Das senegalesische Fernsehen sendet von Spanien finanzierte Spots, die Auswanderungswillige entmutigen sollen. »Riskiere dein Leben nicht für nichts und wieder nichts. Du bist die Zukunft Afrikas«, sagt der international bekannte senegalesische Sänger Youssou N’Dour in die Kamera. Eine Mutter erzählt, sie habe ihren Sohn seit acht Monaten nicht mehr gesehen. In der nächsten Szene sieht man einen jungen Mann mit dem Gesicht nach unten auf einem steinigen Strand liegen. »Du weißt, wie diese Geschichte endet«, kommentiert N’Dour.

Eine Million Euro hat die spanische Regierung in die Kampagne investiert, doch Medienberichten zufolge verfehlt sie ihre Wirkung. Der kanarische Rundfunksender Radio Megawelle berichtet auf seiner Internetseite von einem ebenfalls von der spanischen Regierung finanzierten Dokumentarfilm über die tödlichen Risiken der illegalen Einwanderung nach Europa, der in verschiedenen afrikanischen Ländern verbreitet wurde. »Nach Zeigen des Films«, berichtet der Sender unter Berufung auf Augenzeugen, sei »aber keiner der Ausreisewilligen abgeschreckt worden«, im Gegenteil. »Auch die frustrierten Gesichter der Jugendlichen in den Lagern, wenn sie erfahren, daß sie erst mit 18 Jahren arbeiten dürfen, habe keinen Afrikaner umstimmen können.«

Nicht nur die Kanaren, auch Griechenland und Italien sind Hauptanlaufpunkte für Flüchtlinge. Vor nicht mal zwei Wochen wurden 302 Einwanderer und drei Besatzungsmitglieder eines türkischen Frachters von der griechischen Hafenpolizei geborgen. Der Kapitän hatte wegen eines Maschinenschadens ein Notsignal gesendet. Wie das Handelsmarine-Ministerium mitteilte, waren die Flüchtlinge seit Tagen auf dem Schiff eingepfercht. Nach griechischen Fernsehberichten handelte es sich um Iraker, die sich auf dem Weg nach Italien befanden. Nach Angaben von Pro Asyl stieg die Zahl der Flüchtlinge, die über Griechenland in die EU einzureisen versuchen, in den vergangenen Jahren stetig an. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden demzufolge bereits 18000 Flüchtlinge an den Land- und Seegrenzen aufgegriffen, gut doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. Nach Berechnungen der italienischen Organisation »Festung Europa« sind von Januar bis Ende September mindestens 1096 Menschen bei dem Versuch, in ein EU-Mitgliedsland zu flüchten, ums Leben gekommen. Die Anfang Oktober veröffentlichten Zahlen basieren vor allem auf Medienberichten aus Spanien, Griechenland, Italien und Malta.

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