Götter gegen Giganten
Von Gisela Sonnenburg
Noch riecht es wie im Wellnessbereich eines Hotels. Der Duft von ätherischen Ölen entströmt den Brettern, die viele Bestandteile des Kulturtempels abdecken: Treppen, Durchgänge, das Foyer – das Pergamonmuseum in Berlin ist eine skurrile Bretterbaustelle. 1,5 Milliarden Euro sollen hier bis 2037 verbaut werden. Ein neuer Gebäudeflügel wird einen Rundgang ermöglichen. Der erste Bauabschnitt ist fast fertig und soll im Frühjahr 2027 eröffnet werden. Er umschließt das Herz des Museums: den weltbedeutenden, aus Kleinasien (heute Türkei) stammenden Pergamonaltar mit seinen umlaufenden Friesen und atemberaubend gefertigten Reliefs. Er entstand in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Aber er vereint so viele zeitlose Aspekte in sich, dass er auch für das Verständnis der Moderne eine Grundlage bildet. Es geht um Krieg und Frieden, ein durchaus aktuelles Thema.
Die Figuren sind als Fragmente erhalten, die der Phantasie genügend Spielraum lassen, um die Geschehnisse zu interpretieren. Hehre Gottheiten und muskulöse Giganten, Fabelwesen mit Schlangenbeinen und Löwenköpfen bekämpfen sich. Es ist, als würde sich die Natur gegen den Menschen verschwören und ihm als erstes sein Liebstes nehmen: seine Götter. Die hat sich der Mensch erfunden, um all den Horror der realen Welt zu ertragen. Doch was wird sein, wenn sie ihre Unsterblichkeit verlieren, wenn neuartige Monster die Macht übernehmen? Die Furcht vor einem Umsturz in der Welthierarchie wurde mit den Reliefs aus Pergamon in Stein gebannt. Der Sage nach versuchten die Giganten – eine seltene Spezies, deren Schenkel aus dicken Schlangen bestehen – die Götter zu stürzen. Daher kommt der Begriff der Gigantomanie. Die Gigantomachie bezeichnet hingegen die siegreiche Schlacht der Götter mit den Giganten.
Zurück zum Anfang
Man muss, um den Pergamonaltar zu verstehen, sich aber auch ein wenig mit der Geschichte der Antike befassen. Es war eine kriegerische Zeit, mit einem gewalttätigen Sklavenhalterregime dazu. Die Olympischen Spiele wurden von dieser Gesellschaft nicht nur aus Freude am sportlichen Wettkampf erfunden, sondern vor allem, damit mal für ein paar Wochen Friede herrschte. Der olympische Friede gehörte von Beginn an zum Konzept der Spiele und sicherte bis zu fünf Monate Ruhe vor dem Tod auf dem Schlachtfeld. Sportgestählte Körper gab es allerdings rund ums Jahr, denn alle antiken Völker – darunter die Griechen, Römer, Sumerer, Ägypter und Etrusker – liebten die körperliche Betätigung.
Zentral im Weltbild stand hingegen nicht der Sport, sondern die Religion. Die Menschheit suchte sich Gottheiten, die ihr nützen sollten. Und manchmal wollten sich Menschen mit Hilfe ihrer Götter über andere stellen. So war es mit der aufstrebenden Kultur von Pergamon, jener Stadt in Kleinasien, die heute Bergama heißt. Dort kam man nach dem Sieg über die herandrängenden Gallier auf die Idee, sich auch über Athen, also über die Zivilisation der Griechen, zu stellen. Tatsächlich wurde Pergamon während der Herrschaft der Attaliden – den Nachfahren von Attalos I. – zum hellenistischen Mittelpunkt der Kultur. Athen hingegen wurde nach einer langen Reihe von Kämpfen von Sparta besiegt.
Wie Athen hatte auch Pergamon eine Akropolis – und eine Tempelanlage, wie sie die Antike zuvor nicht kannte. Sie war größer, schöner, opulenter, besser organisiert und feinteiliger als andere. Die bildende Kunst triumphierte. Man arbeitete nicht mit ganzen Marmorblöcken, sondern mit Kunststein, der aus Marmormehlen, Ton und Kalk angerührt wurde. Aus solchem Kunststein sind die Figuren am Pergamonaltar. Der eigentliche Altar, also die Opferstätte, ist fast unscheinbar. Er befindet sich in einem verborgenen Raum hoch oben, hinter der Attraktion, der Westfront des Gebildes. In Pergamon gab es noch drei weitere Gebäudeseiten, die allerdings längst nicht so spektakulär waren.
Betritt man den frisch sanierten Pergamonsaal, wird man überwältigt von der wie in Pastell gemalt wirkenden Pracht. Der Blick wandert von der zentral gelegenen Treppe aus weißem Marmor zu den seitlichen Attraktionen. Oberhalb der Sockel prangen rechts und links, innen wie außen, die Reliefs, die von Krieg und Kampf erzählen. Weitere solche Friese verlaufen an den drei Innenwänden, die die Altaranlage umfassen. Fast 30 Meter ist die Westfront breit – dennoch lässt der Saal genügend Raum, um die Wandreliefs mit ausreichend Abstand zu betrachten. Dramen spielen sich in den Friesen ab.
Krieg und Frieden
So reitet aus dem rechten Winkel majestätisch eine Dame – züchtig verhüllt – auf einem Löwen heran. Man sieht sie nur von hinten, aber ihre Haltung sagt viel. Es ist Rhea, eine schlaue Titanin, also eine Verwandte der Giganten. Sie galoppiert mit dem Raubtier in den Krieg. Auch der Muskelheld Herakles hatte es dem Mythos nach mit einem Löwen zu tun: Er musste mit dem fast unverwundbaren Nemeischen Löwen kämpfen. Den Göttern half er dennoch, gegen die Giganten zu bestehen.
Zeus, der Göttervater, spielt ebenfalls eine Hauptrolle. Eine Statue von ihm und eine seiner Tochter Athene sollen zentral vor der Westfront stehen. Jetzt ist die überlebensgroße Figur noch verpackt, ihr Kopf ragt aus Gebinden von Dämmstoff und Plastikband. Die Göttin der Weisheit – eine Gefesselte? In den Gefilden des Pergamonsaals erhält vieles eine symbolische Anmutung.
Athene, die Kluge, war zugleich die Göttin des Kriegs und der Strategie, der Künste und des Handwerks. Da sie die Schutzgöttin Athens war, wirkt ihr Auftauchen in Pergamon wie bittere Ironie. Denn die Stadt sollte durch den neuen kulturellen Glanz ja gerade in den Schatten gestellt werden. Vielleicht wollte man Athenes Schutz auf Pergamon übertragen.
Tatsächlich beeindruckt der sanierte Saal so stark beim Pressetermin der Vorbesichtigung Anfang Dezember, dass man sich nach einer halben Stunde des intensiven Betrachtens mitten im Schlachtgetümmel und doch zugleich auf der Flucht wähnt. Während in den Kampfreliefs menschliche und tierische Köpfe und Körper leiden, sorgt die jetzt wieder hell erstrahlende Treppe für Transzendenz. Das wird vom Oberlicht – einer Mischung aus Tages- und Kunstlicht, die durch ein gläsernes Dach einströmt – noch unterstützt. Die Hintergrundwand ist in einem seltsam von einem Grünstich gebrochenen, zarten Blau gemalt. Es soll an den vor Hitze glasig flimmernden Horizont Kleinasiens erinnern. Die Fragmente der Reliefs haben einen Grau und Rotstich, manchmal ins Bläuliche spielend – ein sterbender Krieger setzt mit seinem Knie exakt auf Stufenhöhe auf.
Der Tod ist allgegenwärtig in diesen dreidimensionalen Bildern, die von unbekannten Künstlern geschaffen wurden. Sie gingen künstlerisch weiter als ihre Vorbilder aus Athen. Die Gesichter der sterbenden Krieger sind jetzt ohne stilisiert-sinnloses Lächeln gezeigt. Mit fast verzerrten Gesichtszügen gehen die steinernen Giganten aus Bergama zugrunde. Die Dynamik, die die Friese insgesamt entwickeln, erinnert an die Choreographie von Tänzen mit Leibern und Tierelementen. An die Steifheit der frühen Antike erinnert hier nichts mehr, im Gegenteil: Alles scheint Bewegung.
Wiedererweckt
Dieser Eindruck macht den Pergamonaltar heute lebendig. Die mit neuester Technik vollzogenen Sanierungsarbeiten der vergangenen Jahre – seit Oktober 2023 – trugen viel dazu bei. »Wir haben dicke Farbschichten abtragen müssen«, sagt der Restaurator Wolfgang Maßmann, stolz auf das gelungene Erscheinungsbild der Säulen und Figuren. Denn Farbaufträge ersetzten früher oft die Reinigung der Bauteile und Reliefs. Durch die Wucht der Farbmasse verschwammen die Konturen an den Friesen, sie wirkten weich und diffus. Jetzt zeigen sie, befreit vom Ballast der vielen Anstriche, wieder harte Schattenlinien.
Ein Löwe hat einen Arm im Maul. Ein Krieger stemmt sich gegen den Bauch eines Pferdes, um nicht unter ihm zu sterben. Letztlich wird es ihn zertrampeln. Schwerter stechen zu, Schilde splittern. Leiber ringen im Kampf miteinander. Ein Halbgott liegt im Schlachtenwahn, sein lockiger Bart hängt strähnig herab, der Mund in Todesangst zum Schrei geöffnet. Eine wildgelockte Göttin – vermutlich Athene – schwingt einen unsichtbaren Speer gegen einen der Giganten. Mit der anderen Hand packt sie ihn am Schopf. Er versucht, sie abzuwehren. Doch sein letztes Stündlein hat geschlagen.
Die Erdgeborenen, wie die Giganten auch genannt werden, sind die höchste Bedrohung der Götter. Dabei entstammen sie diesen selbst. Der Mythologie nach sind sie den Blutstropfen entsprungen, die auf die Erde fielen, als Kronos seinen Vater Uranos, den Gott des Himmels, entmannte. Die Kastrationsangst, die in der Traumdeutung von Sigmund Freud (sie erschien 1900) eine große Rolle spielt, beherrschte schon die Phantasie der antiken Völker.
Damit die Giganten niemals siegen, wurde der Pergamonaltar errichtet. Nach dem Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, wollte man die alten Werte verteidigen. Dafür wurde auch geopfert. Wie genau, ist nicht sicher erforscht. Vermutlich wurden vor allem Tiere oder Teile von ihnen im Altarraum verbrannt. Man sollte indes nicht vergessen, dass die ältesten Kulturen ihren Göttern oft auch Menschenopfer erbrachten.
Die Treppe ist so hoch und steil gestuft, dass niemand sie beschwingt emporflanieren kann. Man soll erhabenen Schrittes gehen, vorsichtig und respektvoll, wenn man sich den Göttern nähert. Außer den Priestern hatten hier nur die Herrscher und ihre Angehörigen sowie hohe Gäste Zutritt. Ab 2027 dürfen hier, so der Plan, wieder alle Besucher hinaufsteigen. Damit ihre Hände nicht gedankenlos die Steinfiguren verunreinigen oder beschädigen, wurden rechts und links vor den Reliefs neue Geländer errichtet. Sie bilden auch an den unteren Enden eine Grenze, um die Reliefs zu schützen.
Im ersten Bauabschnitt, der mit 489 Millionen Euro Renovierungskosten zu Buche schlägt, entstehen auch neue Räume zur islamischen Kunst. Die monumentale Mschatta-Fassade mit ihrer interessanten Ornamentik wird zu sehen sein, ebenso die Alhambra-Kuppel. Sowie ein stilisierter Gartensaal mit Wasserprojektion, Soundinstallation und Duftstation. Antike und Islam rücken eng zusammen. Aber auch christliche Exponate werden gezeigt.
Begonnen hatte alles mit dem deutschen Ingenieur Carl Humann, der 1864 erstmals nach Bergama gekommen war und statt des schon in der Antike gepriesenen Weltwunders einen Trümmerhaufen vorfand. 15 Jahre dauerte es, bis er das nötige Geld und die Genehmigung für die Ausgrabung erhielt. In Platten gearbeitet, ließen sich die Bruchstücke der Tempelanlage gut abtransportieren. Der Deal mit der damaligen türkischen Regierung gilt als sauber: Die Friese sollten nach Berlin gehen, wo sie aus Tausenden von Einzelteilen wieder zusammengesetzt wurden.
1901 wurde ein Museum errichtet, um den Altar zu zeigen, aber die Planung erwies sich als unzulänglich. 1909 begann man mit dem 1930 eingeweihten zweiten Bau, dem heutigen Pergamonmuseum. Stünde nicht seit 2019 die spitzkantige James-Simon-Galerie davor, würde seine Fassade noch immer beeindrucken. Umgebaut wird übrigens nach den Plänen des 2007 verstorbenen Architekten Oswald Mathias Ungers. Der Sohn eines Postbeamten gilt als Inbegriff eines Übersetzers alter Regeln ins Hochmoderne.
Um den Krieg oder den Sieg anzubeten, ist der Pergamonaltar nicht geeignet. Er soll lediglich verhindern, dass die Zukunft noch monströser wird, als es die Gegenwart ist. Inwieweit seine Schöpfer den Frieden liebten, ist ungewiss. Aber heute ist es richtig, das religiöse Kunstwerk als Mahnmal, als Warnung vor dem Krieg, zu sehen.
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