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Aus: Ausgabe vom 01.11.2025, Seite 7 / Ausland
Serbien

Symbolische Tragödie

Serbien erlebt seit Unglück von Novi Sad eine Welle des Protests. Großdemonstration für Jahrestag angekündigt
Von Roland Zschächner
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Der 1. November 2024 war ein milder, sonniger Herbsttag in Serbien. Als gegen Mittag die ersten Meldungen über ein Unglück in Novi Sad die Runde machten, war noch nicht zu erahnen, wie sehr die Geschehnisse die nächsten Monate beeinflussen würden. Zum Nachmittag wurde schließlich immer deutlicher, dass in der nordserbischen Stadt eine Tragödie stattfand, 14 Menschen kamen ums Leben, später stieg die Zahl auf 16. Ein Land im Schock, alle Veranstaltungen wurden abgesagt, selbst in der sonst lauten, rastlosen Hauptstadt Belgrad wurde es ruhig, Trauer und Fassungslosigkeit läuteten das Wochenende ein.

Ein Jahr danach, an diesem 1. November, ist in Novi Sad eine Großdemonstration angekündigt. Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende Menschen werden in der Stadt an der Donau erwartet. Bereits Tage zuvor haben sich Studierende aus ganz Serbien zu Fuß auf den Weg gemacht. Sie fordern noch immer Aufklärung darüber, wie es zu dem Einsturz kommen konnte. Und sie verlangen Neuwahlen, an denen sie mit ihrer Studentenliste teilnehmen wollen. Sie ist gespickt mit sogenannten Experten, die die Herrschaft der seit 2012 regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić beenden sollen.

Vor einem Jahr machte sich Beklemmung unter vielen Menschen breit. Es hätte schließlich jede und jeden treffen können, so ein weitverbreitetes Gefühl. Der Bahnhof von Novi Sad war kurz zuvor renoviert worden. Nun brach ein tonnenschweres Betonteil auf die Menschen herab. Sie hatten keine Chance. Als Vučić die Verantwortung für das Unglück bis in die Zeit des sozialistischen Jugoslawiens zog, beging er den ersten von bald einer ganzen Reihe an Fehlern. Wenn man zum damaligen Zeitpunkt noch nicht viel wusste, so war doch klar, dass die Opfer von Novi Sad nicht dem untergegangenen Staat, sondern dem gegenwärtigen zuzuschreiben sind.

Die serbische Gesellschaft ist im Jahr 2025 polarisiert. Während die Anhänger der SNS ihrer Parteimitgliedschaft ihren Job verdanken, wollen die anderen die Fortschrittler so schnell wie möglich loswerden. Zugleich weckt das Land die Begehrlichkeiten des Westens. US-Präsident Donald Trump und eine Clique um dessen Schwiegersohn wollen bauen, haben ein Auge auf attraktive Immobilien geworfen. Die EU und nicht zuletzt die deutsche Autoindustrie wollen das Lithium, das im serbischen Boden liegt. Das hat Priorität – da können die Studierenden noch so laut nach Unterstützung aus Brüssel rufen.

In den Novemberwochen 2024 gingen vor allem Studierende auf die Straße und gedachten der Toten. Schweigend, um 11.52 Uhr, als das Vordach zerbrach; zuerst 14, dann 15 und schließlich 16 Minuten lang, für jeden Tod eine Minute. Sie blockierten den Verkehr, forderten Aufklärung und politische Rechenschaft. Die Tragödie steht symbolisch für die durch Korruption angetriebene Misswirtschaft. Ein System, das über Leichen geht. Der Unmut war bereits vor dem 1. November vorhanden, doch nun wurde daraus Wut, die einen großen Teil der Bevölkerung ergriff.

Zur politischen Krise könnte bald eine ökonomische kommen. Serbiens Erdöl- und Erdgasindustrie wird von den USA sanktioniert, denn sie ist in russischer Hand. Vučić sucht nach einer Lösung. Wenn es kein Benzin mehr gäbe, würde das böse Erinnerungen an die 90er, die Zeit der Kriege und des Embargos, wecken. Zugleich weiß die SNS noch immer Polizei und Armee hinter sich. Das wurde im Sommer deutlich, als die Proteste mit Repression überzogen wurden. Die Regierung in Belgrad ist gewappnet.

Trotzdem war die studentische Bewegung erfolgreich. Eine Regierung musste gehen, ihrer statt kam eine neue. Die Studierenden konnten eine Mehrheit der Serben hinter sich bringen, so zumindest die Umfragen. Hunderttausende Menschen beteiligten sich an den Protesten, im Dezember 2024, im Januar und schließlich am 15. März, als die Belgrader Straßen so voll waren, dass man die Teilnehmer gar nicht zählen konnte. So etwas hatte das moderne Serbien noch nicht erlebt. Viele richtige Fragen wurden gestellt, doch ist die Bewegung politisch heterogen – liberale Werte, minimale soziale Forderungen, offen für nationale Töne – vieles, vor allem aber bürgerlich; würden sie siegen, wäre vieles anders und doch noch das Alte.

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