Kanzler der Schmerzen
Von Kristian Stemmler
Die Aufrüstung der Republik muss bezahlt werden, fragt sich nur von wem. Am Wochenende hat der Streit innerhalb der Regierungskoalition darüber, ob die fehlenden Milliarden im Haushalt eher bei den Reichen oder den Armen zu holen sind, an Schärfe gewonnen. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) erklärte den Sozialstaat »für nicht mehr finanzierbar« und kündigte harte Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner SPD an. Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) bekräftigte dagegen seinen vor einer Woche formulierten Vorschlag, Vermögende höher zu besteuern, und bekam Schützenhilfe von zwei SPD-Ministerpräsidenten.
Für seinen Frontalangriff auf die Bezieher von Transferleistungen nutzte Merz am Sonnabend den Landesparteitag der niedersächsischen CDU in Osnabrück. »5,6 Millionen Menschen im Bürgergeld – das kann so nicht bleiben«, befand der CDU-Chef und forderte verschärfte Sanktionen gegen die Bedürftigen staatlicher Alimentierung. Sozialleistungen hielten Menschen vom Arbeiten ab: »Wir machen Angebote, von denen der eine oder andere sagt: Ich wäre auch blöd, wenn ich es nicht annehmen würde.«
Der SPD wolle er es »bewusst nicht leicht machen« bei den anstehenden »Reformen«. Durch Worte wie Sozialabbau und Kahlschlag »und was da alles kommt«, werde er sich nicht irritieren lassen. »Mit dem, was wir bis jetzt geschafft haben«, sei er nicht zufrieden, erklärte der Kanzler und rief die SPD dazu auf, sich in der Asyl- und der Wirtschaftspolitik auf die Union zuzubewegen. Die Sozialdemokraten müssten »migrationskritisch und industriefreundlich« werden, dann habe »diese Partei auch eine Chance, in der Regierung Tritt zu fassen«.
Klingbeil hatte zuvor bereits Strukturreformen bei Gesundheit, Pflege, Bürgergeld und Rente gefordert, zugleich aber betont, er erwarte dabei »von allen Verantwortlichen mehr Phantasie als einfach nur Leistungskürzungen für die Arbeitnehmer«. Die BRD müsse ein Land bleiben, »das Menschen hilft, die in Not geraten, die krank werden und Hilfe brauchen«.
Juso-Chef Philipp Türmer wurde deutlicher. Sollten sich hinter dem angekündigten »Herbst der Reformen« bloß Leistungskürzungen verbergen, dann gelte, wie er den Stuttgarter Nachrichten sagte: »Die SPD darf da keinen Zentimeter mitgehen«. Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek warnte vor einem »Herbst der sozialen Grausamkeiten«. Aktuell sei zu erleben, »wie Arbeitsrechte und Sozialstaat in einer massiven Kampagne von Thinktanks, Arbeitgeberverbänden und sogenannten Expertinnen und Experten angegriffen werden«, äußerte sie gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Obwohl die Union davon nichts wissen will, erneuerte Klingbeil am Samstag seine Forderung nach Steuererhöhungen. Als SPD-Finanzminister und Parteichef habe er die Überzeugung, dass Menschen mit »sehr hohem Vermögen und Einkommen« dazu beitragen sollten, dass es gerechter zugehe. Die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) sprang dem Parteichef in der Bild am Sonntag bei: Was die SPD sich überlege, betreffe »die sehr reichen Menschen in diesem Land«. Auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) plädierte für eine höhere Besteuerung von »Superreichen«. Es gebe eine steigende Zahl von Deutschen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus Erwerbsarbeit bestritten, »sondern davon leben, dass sie hohe Vermögen, Aktien, große Erbschaften besitzen«.
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Leserbrief von Raimon Brete aus Chemnitz (24. August 2025 um 21:01 Uhr)Kanzler der Schmerzen: Deutschland fehlen hunderte Milliarden – ein Schuldenberg von unvorstellbarem Ausmaß. Hauptverantwortlich: Regierungspolitiker und Abgeordnete der Regierungsparteien, die enthusiastisch und mit falschen Argumenten dieses Riesenloch zu verantworten haben. Nun, in der Bredouille, fordern Merz und seine Claqueure eine Disziplinierung Arbeitssuchender und erhebliche finanzielle Einschnitte in die Sozialsysteme mit verheerenden Konsequenzen für eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Jetzt steht auch die Sozialdemokratie im Wort. Klingbeil laviert zwischen staatstragenden Bekenntnissen und der leisen Forderung nach Besteuerung der »Besserverdienenden und Reichen« sowie allgemeinen Sparaufrufen. Gleichzeitig sinniert er darüber, deutsche Truppen in die Ukraine zu entsenden. Alles in allem, völlig untaugliche Vorschläge aus Regierungskreisen für die Lösung der die Demokratie gefährdenden Zustände in der Bundesrepublik. Im Übrigen werden die eher symbolisch geforderten Mehreinnahmen aus der sogenannten »Reichenbesteuerung« das enorme Finanzloch im Staatshaushalt nicht annähernd decken können. Allein die Herstellung der Kriegstüchtigkeit kostet 1 Billion Euro und die Polizeigewerkschaft fordert auch noch enorme Mittel in Millionenhöhe für ihre Arbeitsfähigkeit. Fazit: Die Regierenden und deren Parteigänger/Abgeordnete wollen und können es wahrscheinlich auch nicht besser – nur noch schlechter! Raimon Brete, Chemnitz
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