Systemische Störungen
Von Daniel Bratanovic
Beständig und berechenbar ist unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise gar nichts, deren Modus vivendi heißt Disruption. Es ist noch gar nicht so lange her, da schien bei Konzernvorständen und Repräsentanten großer kapitalistischer Staaten Einigkeit darin zu bestehen, dass die fortschreitende globale Erwärmung und deren jetzt schon allerorten so sichtbare wie dramatische Folgen eine rasche Reduktion des CO2-Ausstoßes vor allem in der Industrieproduktion dringend erforderlich machen. Und sei es, um eine auf Ausbeutung gegründete Wirtschaftsordnung am Leben zu halten, denn ein Planet, auf dessen Gratisdienste sich nicht mehr zurückgreifen lässt, weil er Wüstenei oder Müllkippe geworden ist, nützt auch dem skrupellosesten Kapitalisten nichts.
Inzwischen ist das fossile Rollback in den großen Industrienationen in vollem Gange. Dekarbonisierung ist längst nicht mehr so in wie vor fünf Jahren. Das Problem besteht in einem strukturellen Makel: Kapital kann nicht planen. Auf der Jagd nach schnellstmöglichem Profit erscheinen grundlegende Umstellungen in der Produktionstechnik bald als unrentabel und werden aufgegeben. Das lässt sich näher studieren.
Der Stahlgigant Arcelor-Mittal hat seine jüngste Entscheidung, die Stahlwerke in Bremen und Eisenhüttenstadt nun doch nicht auf eine klimaneutrale Produktion ohne Kohleverbrennung umzustellen, mit der aktuellen Marktsituation und fehlender Wirtschaftlichkeit begründet. Wo kein rentables Geschäft winkt, da keine Neuerungen. Die Zukunft kann warten, nach uns die Sintflut oder eben die Wüste. Das wiederum könnte das Aus für die beiden Werke bedeuten, Jobvernichtung inklusive.
Das Signal, das vom weltweit zweitgrößten Stahlhersteller ausgeht, könnte aber auch das staatsmonopolistische Projekt »grüner« Stahl in Deutschland insgesamt gefährden. Staatsmonopolistisch? Ohne eine staatlicherseits zugesagte Förderung in Höhe von 1,3 Milliarden Euro hätte Arcelor-Mittal nicht einmal darüber nachgedacht, in neue Anlagen zu investieren, in denen Stahl irgendwann mit »grünem« Wasserstoff klimaneutral hätte hergestellt werden können.
Bei dem Vorgang schürzen sich gleich mehrere Widersprüche zu einem Knoten. Stahlunternehmen in Deutschland stehen angesichts von Überkapazitäten unter Druck, weil sie auf dem Weltmarkt kaum mehr konkurrenzfähig produzieren können. Der deutsche Staat wiederum kann solche Weltmarktprozesse nicht einfach geschehen lassen, denn die Produktion von Stahl als Ausgangsmaterial von zum Beispiel Kriegsgerät ist strategisch unverzichtbar. Die Umstellung auf die neuen Herstellungsmethoden krankt vor allem daran, dass eine dafür notwendige Wasserstoffversorgung noch nicht existiert und auch nicht klar ist, woher der »grüne« Wasserstoff kommen soll. Dieser Staat will »grünen« Stahl, der sich bisher nicht rentiert, darf aber niemals seinem Daseinszweck widersprechen und Privateigentum wie Marktwirtschaft antasten. Systemische Grenzen.
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