»Viele Juden haben Israel den Rücken gekehrt«
Interview: Henning von Stoltzenberg
Für dieses Wochenende ist ein jüdisch-antizionistischer Kongress in Wien geplant. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Botschaften des entsprechenden Aufrufs?
Der Zionismus als Bewegung hat das Judentum erobert und formte es von einem Volk zu einer Nation um. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren 97 Prozent der Juden nicht zionistisch oder sogar antizionistisch. Heute predigen viele Gemeinden zionistische statt jüdische Kultur und Religion. Aber Zionisten sind heute nicht nur Juden, sondern weitaus mehr Menschen, die auf verschiedene Weise das zionistische Projekt unterstützen. Wir wollen aufklären, was da eigentlich unterstützt wird: nämlich eine kolonialistische Bewegung.
Wie kam es zu der Idee, einen solchen Kongress in Wien abzuhalten?
Nachdem der Palästina-Kongress in Berlin unterdrückt wurde, haben Aktivisten in Wien beschlossen, einen solchen Kongress vor Ort zu organisieren. Der war ein Erfolg. Daher sollte ein jüdischer, antizionistischer Kongress folgen. Dort werden wir unsere eigene unabhängige Stimme erheben, die von Israel und Deutschland sonst vereinnahmt wird. Früher dachten die Vorfahren der heutigen Deutschen, wir seien Tiere, die man ausrotten müsse; heute denken sie, wir seien Tiere, die man beschützen müsse. Beide Vorstellungen entmenschlichen uns – und wir wehren uns dagegen.
Wie wird die Kongressankündigung in der Öffentlichkeit diskutiert?
Die Unterdrückung des Kongresses hat bereits begonnen. Aber in Österreich gibt es keinen Axel-Springer-Konzern mit so viel Macht und Eigeninteressen, und die propalästinensische Bewegung wird nicht so gewaltsam bekämpft wie in Deutschland. Doch Israel hat Angst vor solchen Veranstaltungen. Je mehr Ansehen es verliert, desto repressiver wird es. Zum Beispiel übt »Academic Monitor« Druck aus, indem es den Kongress und seine Rednerinnen öffentlich anprangert. Das Erstellen solcher Listen schürt eine paranoide, totalitäre Atmosphäre.
Rechnen Sie mit Repressalien gegen den Kongress?
Beim letzten Mal in Wien wurde Druck auf den Inhaber des Veranstaltungsorts ausgeübt, so dass er kurzfristig abgesagt hat. Dank Plan B konnte fix ausgewichen werden. Persönlich hoffe ich auf Repressionen. Sie politisieren Menschen. So war es bei dem Vortrag von Francesca Albanese, der in die Räume der jW verlegt wurde. Hätte der Vortrag normal stattgefunden, wären vielleicht ein paar hundert Leute gekommen. Aber Tausende schalteten ein, sahen ihren Vortrag und dass Deutschland immer weiter nach rechts rückt. Für die Gesellschaft sind solche Repressionen aber schlechte Nachrichten. Was in Wien passieren wird, ist schwer vorherzusagen. Die Organisatoren halten den Veranstaltungsort geheim. Polizei und Politik agieren dort anders, weil Israel in Österreich nicht vergöttert wird.
Was ist das Ziel des Kongresses?
Wir wollen den Antizionismus als eine Bewegung mit langer Tradition im jüdischen Volk sichtbar machen. Viele, besonders jüngere Juden weltweit haben Israel inzwischen den Rücken gekehrt. Unsere Aufgabe ist es, ihnen eine Gemeinschaft und Identität anzubieten. Der Zionismus ist eine zerstörerische Bewegung ohne Zukunft. Gerade beschleunigt sich das Tempo seines Zusammenbruchs, und es scheint leider, als könne es nicht auf konstruktive Weise aufgelöst werden. Wir sind dazu verdammt, diese kolossale Zerstörung mitanzusehen, aber es ist wichtig, so viele Menschen wie möglich davor zu retten und sie an die Alternativen zu erinnern.
Die jüdische Welt und Geschichte sind reich und vielfältig, und der Zionismus ist nicht mehr als ein winziger Teil davon. Das Ziel dieser Konferenz ist es, antizionistischen Juden, die in westlichen Ländern unsichtbar gemacht werden, eine Stimme zu geben. Es geht darum, eine Dekolonisierung vom Zionismus durchzuführen und wieder zu Juden zu werden.
Iris Hefets wird als Vorstandsmitglied des Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost auf dem Kongress sprechen
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