Zwölf Grad
Von Gabriele Damtew
Ich bin zur Kur in Ahrenshoop. Nicht zu meiner, denn als Freiberuflerin kann man es sich nicht leisten, nicht zu arbeiten bzw. krankgeschrieben zu sein. Aber als Wochenendkurschatten unterstütze ich meine liebe Freundin A. bei ihrer Eingewöhnung. Ist eben kein Zuckerschlecken so eine Kur. Die große helle Klinik mit Vollverpflegung, diversen therapeutischen Heilanwendungen und sportlichen Freizeitaktivitäten, nur einen Steinwurf von der Düne entfernt, hinter der sich pudrig-feiner Sand und türkisfarbene See vereinen. All das kann die überarbeitete Großstadtpädagogin nicht so leicht auf die lädierte Schulter nehmen. Und die Fremden, mit denen man nur seine Wehwehchen teilt, die aber gern so tun, als würde man sich schon ewig kennen. »Ja, kenn’ ich. War bei mir aber ganz anders.«
Ich Schatten fühle mich beim Anblick von Kranken und Rekonvaleszenten erschreckend gut: gesund und jung. Und wie liebe ich im Speisesaal die freie Platzwahl, denn da wird das Geschichtenaustauschen bei Ostseebrathering mit Leinsamen immer aufs neue gemischt.
Aber noch schöner ist es draußen. Die Dreierkette Fischland-Darß-Zingst bildet die schmale Halbinsel, wo ich als Kind mit meinen Eltern und Geschwistern herrliche Sommerferien verbracht habe. Ganz profan auf dem Campingplatz, die Fahrräder mit dem Zug kutschiert, so weit, wie der ging. Auto hatten wir nicht. Abseits, aber auch inmitten der DDR-Hautevolee. »De olle Egoon (Krenz) hat heute noch sin Häuscken hier, in Dierhagen«, erzählt meiner Freundin ihr redseliger Taxifahrer (von der Kasse bezahlt) in seinem breiten norddeutschen Einschlag. »Ich dachte, der sei schon tot.« – »Sieht man ma, wie gesund dat Leben hier oben is.«
Nach A.s Gerätetraining, ich darf nicht mitmachen wegen Versicherung, treffen wir uns am Strand voller Rosenblüten, die gerade überall blühen. Tang, Algen und Seegras gibt es auch. Ich will jetzt auch etwas leisten und lege den Eid ab, ins Wasser zu gehen. Also nicht selbstmörderisch, obwohl mich A. wegen der Wassertemperatur kritisch ansieht. Die ahne ich, will sie jedoch weder wissen noch schätzen, sondern nerve A. mit banalsten Motivationssätzen, so dass es kein Zurück mehr gibt. Dann lässt der schneidende Wind nach, die Sonne belächelt mein Vorhaben liebevoll. Außer drei hyperaktiven Kindern in Neoprenanzügen ist kein humanoides Wesen im Wasser zu entdecken. Ich stürze mich, nach zwei Minuten Empathie mit mir selbst, todesmutig in die eiskalte See. Adrenalin pur. A. hält alles per Smartphone für die Nachwelt fest.
Am Sonntag morgen regnet es leicht, die Sonne macht sich rar. Wir beobachten auf unserer Strandwanderung ein altes Pärchen. Sie zieht sich splitternackt aus, er assistiert angezogen, doch bei der Balance. Als sie rauskommt, gratuliere ich. »Jetzt sind wir Schwestern, ich war gestern drin.« Zwölf Grad, sagt sie lachend. Beide sehen aus, als hätten sie in ihrem Leben immer hart arbeiten müssen. »Seit 52 Jahren kommen wir hierher.«
»Ja«, sage ich, »das ist eine Liebe, die nicht vergeht.« Sie strahlen sich an und nicken.
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