Unstillbarer Heißhunger
Von Daniel Bratanovic
Die Nation wankt, und soll sie nicht umfallen, bedarf es einer kollektiven Kraftanstrengung, einer Bereitschaft zu Einsatz und Verzicht. Der Kanzler, das riecht leicht modrig nach Kaiserzeit, Adenauer-BRD und den tausend Jahren, die dazwischen lagen, verlangt von seinen Staatsbürgern mehr von dem, was dieses Land einmal ausgezeichnet haben soll: »Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand«. Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance nämlich könne der bedrohte Wohlstand nicht bewahrt werden. Die Hängemattenjahre sind vorbei. Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Doch beim bloßen Appell an patriotische Arbeitsmoral und nationale Verzichtsethik der Deutschen bleibt es nicht, die Regierung legt die Axt ans Arbeitsrecht. Der Koalitionsvertrag sieht eine Entgrenzung des Arbeitstags vor, der Achtstundentag, eine Errungenschaft der gescheiterten Revolution von 1918, soll weichen. Gewerkschaften protestieren, ihr wissenschaftlicher Apparat macht auf Risiken für die psychische und körperliche Gesundheit aufmerksam: vermehrte Unfallgefahr, Burnout, Schlaganfall, Krebs.
Begründet wird die Gängelei zu mehr Plackerei, die den früheren Tod verspricht, also mit der Behauptung, es werde zuwenig gearbeitet. Für wen? Gemessen woran? In Wahrheit hat eine gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung gar nicht stattgefunden, das gesamte Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik ist in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen, die Summe der Arbeitsstunden aller Beschäftigten war seit 1990 nie so hoch wie im Jahr 2024. Wahr ist aber auch, dass die Arbeitszeit pro Kopf im Durchschnitt gesunken ist. Mehr Menschen als zuvor sind erwerbstätig, und mehr Menschen als zuvor arbeiten in Teilzeit, vor allem Frauen.
Hieran setzt nun die laufende Debatte der Auguren, Adepten und Apologeten des Kapitals an: Da ist noch Luft nach oben, jeder einzelne kann noch mehr arbeiten. Dabei ist es nur ein scheinbarer Widerspruch, dass derzeit Überproduktion herrscht, also gemessen an der Nachfrage zu viel gearbeitet wird, und Unternehmen, etwa in der Automobilindustrie, Arbeiter zu Tausenden aus ihren Werken stoßen. Denn die Ziele sind seit 150 oder 200 Jahren noch stets die gleichen geblieben: erstens die absolute (länger arbeiten) und relative (produktiver, also intensiver arbeiten) Mehrwertrate erhöhen, zweitens das Arbeitskräfteangebot vergrößern, um Druck auf die Löhne auszuüben (Reservearmeemechanismus).
Der Heißhunger des Kapitals nach Mehrarbeit ist unstillbar, er ist ihm, dem Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis, in seinen genetischen Code eingeschrieben, der Staat des Kapitals schafft dafür die rechtlichen Bedingungen. Im antagonistischen Verhältnis von Kapital und Arbeit ist der Kampf um die Arbeitszeit ein Dauerbrenner, vorausgesetzt natürlich, die eine Seite ist noch fähig und willens zu kämpfen. Als man in der Gewerkschaft noch Marx las, sprach man nicht nur über Gesundheitsrisiken.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (1. Juni 2025 um 07:13 Uhr)Was für ein treffender Kommentar! Hätte ich nicht jüngst erlebt, wie kämpferisch junge Gewerkschafter an der Basis sind, würde ich ebenfalls sagen, dass inzwischen auch vor der Untätigkeit der Gewerkschaften gewarnt werden muss. Ich denke, der Filz bei ihnen da oben wird sich ziemlich bald warm anziehen dürfen. Denn sich vertiefende Widersprüche drängen eben mit größerer Kraft nach Lösungen, als sie die DGB-Spitze gegenwärtig verkörpert. Ich bin da durchaus hoffnungsvoll.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (31. Mai 2025 um 21:40 Uhr)Heute, nach der Lektüre dieses Artikels, bin ich in den Keller hinabgestiegen und habe sie gesucht; die Hängematte, jenes leistungsgefährdende Utensil, das laut Merz, Linnemann und Co. so vielen meiner Zeitgenossen über Jahre zum beliebtesten Zeitvertreib und Deutschland zum Verhängnis geworden sein soll. Ich konnte aber nichts dergleichen finden. Statt dessen fand ich einen alten Wehrmachtsspaten, der noch tadellos in Schuss war, so als habe er kaum »gedient«; so gut sogar, dass man den Eindruck hätte haben können, als habe er die ganzen Jahrzehnte nur auf sein Comeback gewartet, das nun in der Tat auch mir nicht mehr allzu fern erschien. Und so nahm ich ihn mit nach oben, den alten Spaten, vorsorglich für den Tag, da sie wieder marschieren sollten, marschieren im Dienst der Arbeit, mal wieder zu schaufeln Deutschland ein frisches Massengrab. Aber ich werde nicht mitmarschieren und jeden erschlagen mit meinem Spaten, der mich in diesem neue Reich zu befehligen versucht. Dann werden wir in den Garten gehen, mein Spaten und ich, und dort einen Baum pflanzen, einen Ölbaum.
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Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (31. Mai 2025 um 11:03 Uhr)Wenn mensch einen kapitalistischen Staat machen lässt, wie er will, wird er die Arbeitszeit immer per trial and error so hoch schrauben, wie es nur geht. Beschränkt wird das ja nur durch das angestrebte Optimum an der Gesamtarbeitszeit pro Menschenleben: Während der Einzelkapitalist ohne Beschränkungen von außen jede:n Jobnehmer:in in kürzester Zeit bis auf das letzte auspressen würde – und aufgrund der Konkurrenz um der Profite/Mehrwertgenerierung willen auch müsste –, sodass seine Opfer nach zwei bis drei Jahren völlig kaputt und nicht mehr zu gebrauchen sind, somit halt jeweils durch – da es alle so handhaben nicht schnell genug heran schaffbares – Frischfleisch ersetzt werden müssten, versucht der Staat als Interessenvertreter seiner jeweiligen gesamten nationalen Kapitalfraktion die Leute möglichst bis ins hohe Alter arbeitsfähig und somit ausbeutbar zu halten. Nur wenn wie aktuell der Bedarf an niedrig qualifizierter Arbeitskraft gut gedeckt, die Reservearmee fett bestückt ist, können die Leute sich zum Wohle der herrschenden Schmarotzer, aka Kapitalisten, ja ruhig zu Tode schuften, sprich in der Konsequenz dann auch frühzeitig ins Siechtum abgleiten und verrecken. Lassen sich auch gut Gesundheitskosten, Rentenzahlungen etc. einsparen. Und was Gewerkschaften angeht: Wer glaubt denn bitte ernsthaft, dass große Gewerkschaftsorganisationen dauerhaft und nachhaltig funktionieren können, wenn sie – wie ja meistens – im wesentlichen vertikal organisiert sind? Die Kosten, den jeweiligen, relativ kleinen Funktionärswasserkopf an der Spitze, der fast alles kontrolliert, zu korrumpieren, eigene genehme Schranzen von vornherein entsprechend zu platzieren und/oder mittels Kompromat gefügig zu halten, zahlt das Kapital doch aus der Portokasse … Vielleicht wird es wirklich langsam mal Zeit, gut organisierte dezentrale Orgas zu etablieren, wie z. B. in vielversprechenden Ansätzen bei den FAU-Gewerkschaften bereits im Praxiseinsatz.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (30. Mai 2025 um 19:50 Uhr)Das Kalb (der Bourgeois) hat sich einen Merz (seinen Schlächter) doch wissentlich (indirekt) selbst gewählt und sieht sich nun verwundert auf der Schlachtbank diesem gegenüber. Wie blöd kann man eigentlich sein?!
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