Absichtsvolles Verdunkeln

Seit Wochen ist hierzulande eine Debatte darüber in Gang gekommen, wie dieser achte Maitag des Jahres 1945 benannt werden soll. Die Skala umfasst Niederlage, Kapitulation, Kriegsende, Zusammenbruch, Untergang, Stunde Null, Erlösung, Befreiung. In dieser Reihe handelt es sich nicht um einander ausschließende Bestimmungen. Beleuchtet werden verschiedene Seiten eines Ereignisses. Der Begriff Befreiung wertet und sagt, ohne es konkret zu bezeichnen, etwas über das Davor und Danach. (…)
Über der Frage, wie das Kriegsende 1945 benannt werden soll, ist eine andere weithin ungestellt geblieben. Sie scheint geklärt zu sein. Gemeint ist die Frage, was für ein Krieg da eigentlich zu Ende ging. Auch auf diesem Felde konkurrieren verschiedene Bezeichnungen. Unumstritten ist die Kennzeichnung Zweiter Weltkrieg, in der sich nicht nur eine Zählung ausdrückt, sondern mit der eine Beziehung des Krieges von 1914 bis 1918 zu dem von 1939 bis 1945 hergestellt wird. In der Sowjetunion hatte der Krieg die Bezeichnung Großer Vaterländischer Krieg erhalten, womit das Geschehen Massen mobilisierend eine Gedankenbrücke zum Kampf des russischen Volkes gegen die Heere Napoleons bekam.
In der Bundesrepublik wurde die Bezeichnung Hitlers Krieg gebräuchlich, die den »Führer« zweckdienlich als alleinigen Urheber des Krieges erscheinen ließ. Dagegen stand in der DDR die verbreitete Kenntnis der Schriften des Georgi Plechanows über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Weithin bekannt war auch Bertolt Brechts Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« mit der auf Cäsars Zug nach Gallien gemünzten Verszeile »… hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Da jedoch das politisch-ideologische und Klasseninteresse an der Verkürzung der Verantwortlichkeit für den Krieg sich in Bundesdeutschland erhalten hat, hilft kein Argument, diese Kennzeichnung dorthin zu befördern, wo sie hingehört.
Indessen: Höhere Ansprüche bleiben so doch unbefriedigt. Diese Kennzeichnung ist auch nicht exportfähig. In der Wissenschaft geboren, ist die Charakteristik jenes Teils des Zweiten Weltkrieges, der hauptsächlich auf das deutsche Konto geht – ein anderer gehört auf das japanische – als rassenideologischer Vernichtungskrieg inzwischen in die ein wenig anspruchsvollere Publizistik gelangt, wiewohl sie äußerste Anspruchslosigkeit bezeugt. Welche Unterscheidung wird damit vorgenommen? Hat es je einen Krieg gegeben, der nicht auf Vernichtung zielte? Vernichtungskrieg ist bei nur flüchtigem Hinsehen als weißer Schimmel oder schwarzer Rabe erkennbar. Denn stets ging es darum, den Gegner auf dem Schlachtfeld zu vernichten und ihn zur Aufgabe des Kampfes zu zwingen. (…) Doch war bloße Vernichtung auch das Kriegsziel? Allenfalls als Ausnahme oder Zusatz. In der Mehrzahl aller Fälle ging es um Eroberung, Raub von Reichtümern, auch von Frauen und Kindern, Unterwerfung von Menschen zur Nutzbarmachung für die Sieger, Gewinnung von Positionen für den folgenden Krieg. (…)
Die ideologische Verfassung dieser (…) Kriegsherren war unabdingbare Voraussetzung für Tötung oder Ermordung der Juden, von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, von Zivilisten in den eroberten Gebieten, die dem Hunger überlassen und dem Verhungern preisgegeben wurden. Erschöpfen sich aber die Antriebe im Ideologischen? Die das glauben, verfechten abenteuerliche Thesen wie: Der Vorstoß in den Kaukasus habe nicht auf Ölvorkommen und weitere Reichtümer, sondern auf die Vernichtung der dort lebenden Juden gezielt. Die Formel von der Rassenideologie als dem Kriegsmotiv lässt die imperialistischen Eroberungsziele entweder ganz außer Betracht oder stellt deren Bedeutung und Rang auf eine Stufe, auf der sie als Charakteristik des Wesens dieses Krieges nicht benötigt werden. Sie dient als Blende vor der Frage nach den materiellen Zielen und den an ihnen Interessierten. Sie belässt die Antworten auf das Warum dieses Krieges im Bereich von Ideologie und Moral, wie das aktuell wieder im Falle des Krieges gegen den Irak geschieht, als dessen Antriebe ebenfalls ausschließlich ideologische (Schaffung der Demokratie) und moralische (Beseitigung des Bösen) angegeben werden.
Die Verwendung des Begriffs rassenideologischer Vernichtungskrieg, absichtsvoll gerichtet gegen die Markierung der gesamtgesellschaftlichen Ursprünge und der imperialistischen Ziele dieses Krieges, besitzt zwar eine geschichtspolitische Funktion: Er ist bestens geeignet, Geschichte so darzustellen, dass sie den gegenwärtig Gesellschaft und den Staat dominierenden Kräften keine Probleme macht. (…) Erst wenn dieser Kriegscharakter zutreffend bestimmt wird, lässt sich auch vollständig sagen, wovon die Deutschen am 8. Mai 1945 befreit wurden.
Kurt Pätzold: Absichtsvolles Verdunkeln. »Rassenideologischer Vernichtungskrieg«? Noch einmal: Zur Unangemessenheit eines konjunkturellen Begriffs. In: junge Welt, Ausgabe vom 30. April 2005. Wochenendbeilage
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