Das »Wir« in der Biologie
Von Helmut Höge
In zahlreichen Untersuchungen über das anscheinend unabwendbare Aussterben von Tieren und Pflanzen ist von »Wir« die Rede: »Wir müssen«, »Wir sollen« etc. Heißt das, wir alle, die gesamte Weltbevölkerung? Absurd. Doch »so geschieht es den Naturwissenschaftlern«, schreiben Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro in »In welcher Welt leben?« (2019), »wenn sie von den ›geophysischen Parametern‹ hypnotisiert sind, aber nur einen vagen und politisch unwirksamen Begriff von ›Menschheit‹ haben. Während die Sozialwissenschaftler den ununterbrochenen und unvermeidbaren Kampf für die Rechte der Enterbten, also die ›soziale Gerechtigkeit‹, einfach in ›Umweltgerechtigkeit‹ umbenennen.« Das »Wir« meine immer die »weiteste taxonomische Kategorie«, nur selten werde gefragt, »wer dieses ›Wir‹ ist oder was unter ›Menschen‹ in anderen von uns gemeinhin als ›menschlich‹ betrachteten Kollektiven verstanden wird«.
Dass auch der Begriff »Menschheit« unbrauchbar ist, begründete der Historiker Dipesh Chakrabarty in seinem 2022 erschienenen Buch »Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter« so: »Selbst wenn wir uns emotional mit einem Wort wie ›Menschheit‹ identifizieren könnten, wüssten wir nicht, was es bedeutet, eine Spezies zu sein, da in der Geschichte der Arten die Menschen bloß ein Beispiel dieses Konzepts sind, so wie jede andere Lebensform. Aber niemand hat jemals die Erfahrung gemacht, ein Konzept (ein Begriff) zu sein.«
Es gibt freilich auch ein fachlich-kollegial gemeintes »Wir« unter Biologen: Wir müssen eine Art erst gründlich erforschen, damit man sie schützen kann, so der Tenor. Die Genetiker unter ihnen entdecken immer mehr Arten in einer. Einst gab es die Art Roter Panda, laut Laborwissenschaften sind es derweil drei. Mitarbeiter von Zoos müssen fortan bei Nachzuchten darauf achten, die neu entdeckte genetische Vielfalt zu erhalten, das heißt, zu vermeiden, dass sich die verschiedenen Roten Pandas miteinander paaren. Im Internet wimmelt es von Artlisten, die immer länger werden. Wird dadurch der Artenschwund per Genanalyse kompensiert oder eher verdeckt? Hinter der Frage verbirgt sich eine idiotisch-technische Vorstellung der Biodiversitätserhaltung, die von manchen Naturforschern entsprechend scharf kritisiert wird.
Der Meereszoologe Klemens Pütz wiederum kann der wundersamen Vermehrung der Arten durch die Mikrobiologen durchaus Positives abgewinnen: So wurden die auf den Falklandinseln brütenden Felsenpinguine genetisch in eine nördliche und eine südliche Art geteilt, erstere »gilt jetzt als stark gefährdet«, letztere »als gefährdet«. Hinzu komme demnächst wahrscheinlich noch eine dritte Felsenpinguinart, die östliche, so der Pinguinforscher in seinem Buch »Unverfrorene Freunde« (2019). Durch die Aufteilung einer gefährdeten Art mit noch relativ großen Populationen in mehrere kleine erreicht man laut Pütz eine »höhere Gefährdungsstufe, die den Tieren zugute kommt: Forscher und Umweltschützer haben es so viel leichter, weitere Untersuchungen zu finanzieren und so die Tiere zu schützen.« Soll vermutlich heißen: Sie bekommen ihre Anträge zur Finanzierung leichter bewilligt.
Der Meeresbiologe Fabian Ritter hat gerade ein Buch mit dem Titel »Wir Wale« veröffentlicht, in dem er das »Wir« verwendet, weil er »im Namen der Wale« über deren Leben schreibt – ein rhetorischer Trick, aber nicht unsympathisch.
Gemeinhin richtet sich das »Wir« der Naturretter an Kollegen, Politiker, Unternehmer und Naturschutzorganisationen, also an die »wichtigen Leute«. Die Aktionsgruppe der Orcaforscherin Alexandra Morton bei Vancouver kämpfte im Namen der Orcas gegen die Holz- und die Fischfarmindustrie (»Die Sinfonie der Wale«, 2005). Anfangs dachte sie, man müsste die verantwortlichen Regierungsstellen bloß darüber informieren, was vor Ort geschehe. So schrieb sie »Brief um Brief, mehr als zehntausend Seiten«. Man hielt sie für naiv, und es passierte ja auch nichts: »Ich schätze, ich hatte mein ganzes Leben lang Tiere beobachtet und der menschlichen Rasse nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt.« Sie brauchte »elf Jahre für die Erkenntnis, dass es sinnlos war, mit der Bürokratie zu verhandeln«. Aber sie glaubt immer noch: Wahrheit heile, Gewinner sei die »Walheit«.
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