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Aus: Ausgabe vom 30.04.2025, Seite 4 / Inland
Nazivergangenheit

Zwiespältige Erinnerungskultur

Studie untersucht Haltung von BRD-Bürgern zur Nazivergangenheit. 38 Prozent für »Schlussstrich«
Von Max Ongsiek
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80 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau: Ein Holocaustüberlebender zündet eine Kerze an (27.1.2025)

Anlässlich des Endes des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von Vernichtungs- und Konzentrationslagern wie Auschwitz und Buchenwald vor 80 Jahren hat die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) am Dienstag ihre »Gedenkanstoß Memo-Studie« veröffentlicht, die – so die Darstellung der EVZ – eine »Diagnose zum Stand des kritischen Geschichtsbewusstseins in Deutschland« darstellen soll. Im Auftrag der Stiftung hatte das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld im Oktober 2024 insgesamt 3.911 Menschen befragt. Die Autoren der Studie, die »die deutsche Wohnbevölkerung möglichst genau repräsentieren« will, haben dafür Personen mit »dauerhaftem Wohnsitz« in der BRD – mit und ohne deutscher Staatsbürgerschaft – einen Onlinefragebogen vorgelegt, wie die Stiftung erklärte.

Doch wie steht es um die hiesige Erinnerungskultur zur Nazivergangenheit? Zwar gaben 42,8 Prozent der Befragten an, es sei ihnen wichtig, an die Verbrechen des deutschen Faschismus zu erinnern. Allerdings stimmten auch 20,7 Prozent der Teilnehmer der Aussage zu, es sei in Ordnung, wenn künftige Generationen sich nicht mehr mit der Nazizeit auseinandersetzen würden. 38,1 Prozent fanden sogar einen »Schlussstrich« – so die Formulierung der Umfrage – für richtig. Zwar lehnten 37,2 Prozent der Befragten diesen wiederum ab, allerdings stimmten auch 44,8 Prozent der Aussage »Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden« zu.

Allerdings wollen sechs von zehn Befragten – also 58,2 Prozent – die AfD nicht wählen. Tatsächlich sagten sogar rund 50 Prozent, die AfD sei ähnlich bedrohlich für die deutsche Gesellschaft wie früher die NSDAP. 57,7 Prozent hielten es für richtig, die AfD als »rechtsextrem« zu bezeichnen. So erklärte Martina Staats – Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel – in der Studie: »Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation« sei auf keinen Fall mit der von 1933 vergleichbar. Denn im »Gegensatz zur Gesellschaft Anfang der 1930er Jahre« sei die BRD nicht »von existentiellen Weltwirtschaftskrisen und einer Weltkriegserfahrung betroffen«, so die Gedenkstättenleiterin. Demgegenüber steht, dass 44,1 Prozent der Studienteilnehmer der Aussage »Wir brauchen starke Führungspersonen, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können« zustimmten.

Aus Sicht von Joseph Wilson, Fachreferent der Stiftung, zeige die Studie, dass »antisemitische Einstellungen« in der Gesellschaft »präsent« seien. »Teils/teils«-Zustimmungswerte verdeutlichen zudem, so Wilson, dass »einzelne Versatzstücke antisemitischer Narrative auch dort präsent sind, wo Menschen antisemitischen Aussagen nicht zustimmen«. So stimmten 25,9 Prozent der Befragten der Aussage zu: »Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus.« Die Behauptung »Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss« trugen 12,3 Prozent der Befragten mit. Das waren deutlich mehr als in vergleichbaren »Memo«-Studien 2022 (3,2 Prozent) und 2020 (2,4 Prozent). In der jetzigen Studie sagten zudem 44,4 Prozent der Befragten, sie sähen es als persönliche Verantwortung, solidarisch mit Juden in Deutschland zu sein, 23,3 Prozent lehnten dies ab, 32,1 Prozent antworteten mit teils/teils. 39,8 Prozent der Befragten widersprachen der Aussage »Deutschland hat eine besondere Verpflichtung gegenüber Israel«. Zustimmung fand sie bei 28,5 Prozent der Befragten.

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  • Leserbrief von Raimon Brete aus Chemnitz (1. Mai 2025 um 18:06 Uhr)
    Die Ursachen des gewollten Vergessens und des Rechtsruck in der Bundesrepublik Deutschland werden bewusst verschleiert oder ausgeblendet. Nach den Kriegsverbrecherprozessen oder schon mit ihnen begann eine zweigeteilte Entwicklung in Deutschland. Im Osten wurde einer antifaschistischen Ordnung nicht nur Leben eingehaucht, sondern die Entnazifizierung in der Gesellschaft, u. a. durch Antifaschisten und Kämpfer gegen den Faschismus in Verwaltung, Justiz und Polizei sowie Neulehrer vorangetrieben. In den drei Westzonen und später in der BRD wurden mehrheitlich die alten Beamten im staatlichen Machtapparat übernommen. Exemplarisch die Weiterbeschäftigung von Globke als Staatssekretär, Filbinger als Ministerpräsident, Gehlen als Chef des neuen Geheimdienstes, Heusinger als Generalinspekteur der Bundeswehr, Buback als Generalbundesanwalt, Schleyer als Arbeitgeberpräsident. Kasernen der Bundeswehr und Straßen sowie Plätze tragen oder trugen Namen von nazistischen Parteigängern oder Offizieren/Generälen, z.B. von Manteuffel, Moeller, Freiherr v. Fritsch, Rommel, Lent, Marseille, Lilienthal. Als das Grundgesetz für die Bundesrepublik vorbereitet wurde, erklärte einer seiner Väter, »alle deutschen Gebiete außerhalb der Bundesrepublik ist als Irrendes anzusehen«, also als Territorium unter fremder Herrschaft, »deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben« wäre (Nachzulesen im Protokoll der Sitzung der Unterausschüsse des Verfassungskonvents). Wer sich diesem Diktum nicht unterwerfe, hieß es weiter, sei »als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen«. Wehrmachtsdeserteure wurden in der BRD als Vaterlandsverräter behandelt, während Funktionsträger Hitlers sowie ehemalige SS-Angehörige und Kollaborateure Ehrenrenten bekamen und kommunistische Antifaschisten mit Berufsverboten belegt wurden. Der ersten Bundesregierung unter Konrad Adenauer gehörten mehrere Mitglieder der NSDAP an. Wen wundern da noch die erschreckenden Ergebnisse der Studie.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (30. April 2025 um 10:30 Uhr)
    Bei der Studie der »Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« sind nicht nur die Antworten der Befragten interessant, sondern auch die Fragen, die gestellt- bzw. nicht gestellt werden. Damit wird die Erinnerungskultur bereits in eine bestimmte Richtung oder von einer anderen Richtung weg gelenkt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden sechs Millionen Juden umgebracht, 13,5 Millionen Chinesen und 27 Millionen Bürger der UdSSR. Nun ist es für ein Opfer sicher ohne Bedeutung, ob jemand als Jude oder Jüdin als »Untermensch« in einem KZ ermordet wurde, ob er oder sie in einem russischen Dorf mit der gesamten Dorfbevölkerung ebenfalls als »Untermensch« in die Dorfkirche getrieben wurde, die dann von der Wehrmacht versperrt- und angezündet wurde, oder ob dies die damaligen und jetzigen japanischen Verbündeten Deutschlands an den Chinesen verübten. Auch die Japaner fühlten sich rassisch überlegen. Chinesen und Russen waren nicht nur »normale« Kriegstote, sondern auch Tote aus rassischen Gründen. Doch nach der geistigen Aufarbeitung des Schicksals dieser letztgenannten 40 Millionen Toten aus China und der UdSSR fragt die Studie nicht. Das Verhältnis zu Russen hat ja unser küftiger Wadephul ohnehin bereits geklärt: »Russland wird immer ein Feind für uns bleiben« (Berliner Zeitung). Insofern ist es bereits bei der Fragestellung schon eine sehr einseitige Erinnerungskultur, wenn sich fünf Teilfragen des Fragebogens einzig auf das Verhältnis zu Juden bzw. Israel beziehen, obwohl die Russophobie in Deutschland sicher stärker ausgeprägt ist als der Antisemitismus. Russophobie wird von der deutschen Regierung und den Medien seit 1933 nahezu durchgehend allseits gefördert. Außerdem setzen einige Suggestivfragen der Studie den Staat Israel bzw. die Politik Israels mit dem Judentum gleich, wogegen sich sich viele Juden auf der Welt wenden. Zumindest die verwechseln Widerstand gegen israelische Politik nicht mit Antisemitismus.

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