4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Erwerbsdruck nach Flucht

Nützliche Geflüchtete

In EU wächst Druck auf geflüchtete Ukrainer, Jobs anzunehmen. Erwerbsbeteiligung in BRD weit unter Durchschnitt
Von Reinhard Lauterbach
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Jobs für Ukrainer gibt es vor allem im Niedriglohnbereich

Die Ukraine stellt sich offenbar darauf ein, dass sie den Großteil ihrer ins Ausland geflohenen Bürger auf Dauer verloren hat. Außenminister Dmitro Kuleba sagte letzte Woche in Kiew, er rechne nicht damit, dass viele der Geflohenen zurückkehren würden. Vielmehr sei zu erwarten, dass sie sich im Ausland »assimilierten«. Die ukrainischen Behörden hätten die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Personen trotzdem »Ukrainer blieben«.

Dabei sendet das Kiewer Regime ihren im Ausland lebenden Bürgern widersprüchliche Signale: Einerseits sprach Kuleba davon, doppelte Staatsangehörigkeiten zu dulden, andererseits enthält das neue Mobilisierungsgesetz die Drohung, dass die Pässe von Ukrainern, die sich der Einberufung entzogen haben, nicht mehr verlängert werden sollen. Was sie natürlich förmlich in die beklagte »Assimilation« drängt.

In welchem Grad die Geflohenen sich bislang »integriert« haben, ist sehr unterschiedlich. In Polen und Tschechien gehen inzwischen jeweils drei Viertel von ihnen einem regulären Job nach. Auf den ersten Blick könnte man das auf die Verwandtschaft der slawischen Sprachen zurückführen, die es Menschen aus der Ukraine leichter macht, sich in Warschau oder Prag verständlich zu machen, als etwa in Berlin.

Doch dieser Eindruck trügt. Auch in den Niederlanden liegt deren Erwerbsbeteiligung inzwischen bei über 50 Prozent, in Dänemark sogar bei 75, obwohl deren Sprachen dem Ukrainischen so fremd sind wie das Deutsche. In der BRD sind erst etwa 25 Prozent der geflohenen Ukrainer offiziell erwerbstätig. Dabei liegt der Anteil derer, die längerfristig bleiben wollen, bei 44 Prozent und steigt weiter. Das bedeutet, dass aus den etwa 1,2 Millionen Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, die sich Anfang 2024 in der Bundesrepublik aufhielten, mittelfristig eine migrantische Community mit etwa 450.000 Mitgliedern werden könnte. Praktisch dürften es eher mehr sein, weil geschätzte 200.000 ukrainische Männer in Deutschland leben, die vor der Einberufung geflohen sind und sich nirgendwo registriert haben, um nicht abgeschoben werden zu können.

Inzwischen bauen Kommunalverbände politischen Druck auf, die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen. André Berchegger vom Deutschen Städte- und Gemeindebund forderte Anfang dieses Monats einen »Integrationsturbo« für die Geflohenen. Insbesondere sollten künftig Sprach- und Integrationskurse nicht mehr vor der Vermittlung in den Arbeitsmarkt stattfinden, sondern parallel zur Arbeitsaufnahme. Dass die Betroffenen damit wahrscheinlich in den Niedriglohnsektor abgedrängt werden, thematisierte Berchegger nicht. Für ihn stand offenkundig der Aspekt im Vordergrund, Sozialleistungen einzusparen.

Die Frage der Sprach- und Integrationsangebote für Ukrainer ist dabei vom Standpunkt der Kommunalfinanzen verkürzt betrachtet. Ein entscheidendes Hindernis für die langsame Integration dieser Personen in den Arbeitsmarkt ist das langwierige Verfahren bei der Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen. Es kann bis zu 18 Monate dauern. Hierfür sind die Länder zuständig. Das trifft die ukrainischen Geflüchteten besonders, denn sie sind in ihrer Mehrheit qualifiziert: 70 Prozent von ihnen haben einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, weit mehr als die Einheimischen. Gerade bei den Frauen ist auch der Anteil derjenigen, die technisch-naturwissenschaftliche Qualifikationen mitbringen, höher als im BRD-Durchschnitt.

Andere Länder machen ungenierter Druck zur Arbeitsaufnahme als die BRD. Tschechien hat in diesem Frühjahr die Aufenthaltsgenehmigungen für ukrainische Staatsbürger letztmalig pauschal bis zum März 2025 verlängert. Danach sollen nur diejenigen im Land bleiben dürfen, die sich »wirtschaftlich auf eigene Füße gestellt« haben – nachzuweisen durch Job und Wohnung. Norwegen hat ukrainischen Frauen sogar das Kindergeld für ihre mitgebrachten Kinder gestrichen. Es soll es künftig nur noch für Kinder gezahlt werden, die ein Jahr nach der Übersiedlung oder später geboren wurden.

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