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Aus: Ausgabe vom 12.04.2024, Seite 2 / Ausland
Türkisch-israelische Beziehungen

»Es ist eine kosmetische Erklärung«

Türkei: Regierung erlässt Restriktionen für Handel mit Israel. Ein Gespräch mit İlhan Uzgel
Interview: Süheyla Kaplan
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Demonstration gegen den Gazakrieg in Istanbul (28.3.2024)

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan stellt sich öffentlich an die Spitze der Solidarität mit den Palästinensern. Gleichzeitig steht seine Regierung innenpolitisch zunehmend in der Kritik aufgrund der wirtschaftlichen Beziehungen mit Israel. Wie haben sich diese seit dem 7. Oktober 2023 entwickelt?

Die islamistische Politik in der Türkei hat lange Zeit versucht, die palästinensische Frage, die sie als einen religiösen Kampf zwischen Juden und Muslimen ansieht, zu ihrer Sache zu machen. Doch unter der AKP-Regierung seit 2002 stiegen die türkischen Exporte nach Israel um das Sechsfache. Nach dem 7. Oktober verschärfte Erdoğan zwar seine Rhetorik gegenüber Israel, unternahm aber nichts, um die Handelsbeziehungen zu unterbinden.

Profitiert die AKP-MHP-Regierungsallianz direkt von diesen Geschäften?

Es ist ein sehr profitables Geschäft. Deshalb geben sie es auch nicht auf. Im Jahr 2023 exportierte die Türkei zum Beispiel Waffen im Wert von 5,43 Milliarden US-Dollar nach Israel. Die meisten dieser Unternehmen stehen der Regierung nahe und sind Mitglieder des religiös-konservativen Unternehmerverbandes MÜSIAD. Ein Abgeordneter der MHP, der sich in besonders scharfer Form gegen Israel geäußert hat, besitzt sogar ein Unternehmen, das Saatgut aus Israel importiert.

Israel soll bislang 95 Prozent seines Zement- und 65 Prozent seines Stahlbedarfs durch Importe aus der Türkei gedeckt haben. Am Dienstag hat das türkische Wirtschaftsministerium Restriktionen für den Handel mit 54 Exportgütern, darunter Zement, Eisen und Stahl, verkündet, bis ein Waffenstillstand für Gaza ausgerufen und humanitäre Hilfe zugelassen wird. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Es handelt sich um eine vage Formulierung, bei der offengelassen wird, ob es bei den Beschränkungen um die Menge, die Nutzung oder die Quote geht. Es ist zudem kein Handelsverbot, und es gibt keine Beschränkungen für Importe aus Israel. Daher scheint es sich eher um eine kosmetische Erklärung zu handeln, um einen öffentlichen Aufschrei zu vermeiden.

Warum fürchtet die Regierung gerade jetzt so einen Aufschrei?

Am vergangenen Wochenende wurden in Istanbul junge Menschen, die eine Kundgebung zur Unterstützung Palästinas organisiert hatten, in Handschellen abgeführt. Dass darunter auch religiöse Menschen waren – etwa zwei Töchter eines 2010 von israelischen Soldaten auf dem Schiff »Mavi Marmara« getöteten türkischen Staatsbürgers –, hat zu heftigen Reaktionen geführt. Es bereitet der AKP Probleme, dass sich Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Vorstellungen – von konservativen Kreisen über die Mitte bis hin zur radikalen Linken – zu Protesten zusammenfinden und nicht mehr so einfach als Provokateure diffamiert werden können.

Israel bezieht rund 40 Prozent seines Rohöls aus Aserbaidschan über eine Pipeline durch die Türkei. Wäre die türkische Regierung tatsächlich solidarisch mit Palästina, müsste sie dann nicht diese Öllieferungen stoppen?

Erdoğan hat seine Solidaritäts- und Unterstützungsbekundungen immer nur in Worten ausgedrückt und ist nie über Rhetorik hinausgegangen. Aber auch die letzte Erklärung war für die AKP nicht hilfreich. Denn sie hat sich selbst verleugnet und behauptete, es gäbe gar keinen Handel.

Und wie positioniert sich die CHP zum Krieg gegen Gaza?

Unsere Priorität ist das Ende des Krieges, ein dauerhafter Waffenstillstand, humanitäre Hilfe und die Freilassung der Geiseln. Wir finden das Vorgehen der Hamas barbarisch und verurteilen es. Aber Israels unverhältnismäßige Gewalt und die Tötung von 33.000 Menschen ist inakzeptabel. Unser Parteivorsitzender Özgür Özel schrieb unmittelbar nach seiner Wahl im November 2023 einen Brief an die sozialdemokratischen Führer der Welt und rief sie zur Solidarität mit den Palästinensern auf. Er wiederholte diese Forderung auf dem Gipfel der Sozialistischen Internationale in Madrid, wo er zum Vizepräsidenten gewählt wurde. Wir argumentieren, dass eine wirkliche Maßnahme in einer Einstellung des Handels mit Israel bestehen sollte. Für eine dauerhafte Lösung unterstützen wir jedoch die Gründung eines palästinensischen Staates mit Ostjerusalem als Hauptstadt, also eine Zweistaatenlösung.

İlhan Uzgel ist Professor für internationale Beziehungen und seit Ende 2023 stellvertretender Vorsitzender der kemalistischen Oppositionspartei CHP in der Türkei

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