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Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Existenzsichernde Bezahlung

Indien plant Lohnreform

Mit Hilfe der Internationalen Arbeitsorganisation will die Regierung ab 2025 eine Art Existenzgrundsicherung einführen
Von Thomas Berger
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Der informelle Sektor auf dem Subkontinent ist riesig, beschäftigt sind etwa 500 Millionen Menschen

Indien plant die Umstellung seiner bisherigen Mindestlohnregelung hin zu einem System, das auf dem »Living Wage«, übersetzt so viel wie Existenzgrundsicherung, basieren soll. Der forcierte Reformansatz hätte tiefgreifende Auswirkungen, berichtete die Economic Times vergangene Woche. Demnach soll die Änderung 2025 erfolgen und in Abstimmung der Regierung mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgenommen werden. Auf Arbeitsebene sei dazu zwischen den Partnern bereits im Februar eine Einigung erzielt worden, hatte die Economic Times berichtet. Am 13. März war vom Leitungsgremium der ILO die grundsätzliche Zustimmung erfolgt, in den kommenden Monaten an der konkreten Ausführung der Pläne zu feilen und bei der Klärung offener Fragen zur praktischen Umsetzung zu helfen.

Der »Living Wage« wird von der ILO und anderen internationalen Gremien in Verbindung mit UN-Strukturen als Lohneinkommen definiert, »das notwendig ist, um einen menschenwürdigen Lebensstandard der Arbeiter und ihrer Familien zu gewährleisten, dabei die Umstände des Landes betrachtend und geltend für Leistungen, die während normaler Arbeitsstunden erbracht werden«. Mit der Reform, so die Erklärung der Regierung in Delhi, solle der Kampf zur Armutsbekämpfung nachhaltig vorangebracht und Lohn tatsächlich zu einer existenzsichernden Grundlage für das Überleben einer indischen Familie gemacht werden.

Indien mag nach wie vor eine der am stärksten und am solidesten wachsenden Volkswirtschaften der Welt sein, geht es nach den nackten Kennziffern – stolze 8,4 Prozent BIP-Zuwachs im letzten Quartal 2023, 7,5 Prozent in diesem Jahr laut angehobener Prognose der Weltbank vom Mittwoch. Unbeeindruckt von Dellen in der Coronazeit, die es zweifellos gab, oder seit Beginn des Kriegs in der Ukraine vor zwei Jahren stark erhöhten Energiepreisen ist ein Erlahmen des Aufschwungs wie in vielen europäischen Ländern oder eine Konjunkturabkühlung wie zuletzt sogar deutlich in China nicht spürbar. Allerdings sind Reichtum und auch Einkommenszuwächse im Land extrem ungleich verteilt. Nach wie vor hat Indien, das immer mehr Milliardäre aufweist und zum Mond fliegen will, in absoluten Zahlen die meisten Armen auf dem Erdball. Laut Oxfam verfügen die reichsten zehn Prozent über mehr als drei Viertel der Reichtümer des Landes.

Demgegenüber zählten auf Basis der Weltbank-Berechnungen (2,15 US-Dollar pro Tag) nach jüngsten Daten knapp 13 Prozent der mehr als 1,4 Milliarden Menschen der Gesamtbevölkerung als arm. Indien selbst rechnet mit der staatlichen Nahrungsgüterausgabe zu stark verbilligten Preisen (National Food Security Act) sogar 923,9 Millionen als dafür anspruchsberechtigt, schrieb gerade Fortune India unter Verweis auf eine parlamentarische Anfrage vom Juli 2023. Und laut einer an gleicher Stelle erwähnten neuen Harvard-Studie vom Februar haben 19,3 Prozent aller Kinder der Altersgruppe von sechs bis 23 Monaten keine weitere Nahrung als Muttermilch, weil ihre Familien sich das nicht leisten können; ein erster Einstieg zu verbreiterter Mangel- und Unterernährung.

Die Global Living Wage Coalition hat für 2023 die Existenzsicherung einer fünfköpfigen Familie im ländlichen Nordindien mit anderthalb Einkommen bei monatlich 13.535 Rupien (151 Euro) berechnet. Der nationale Mindestlohn liegt aber seit 2017 unverändert bei 178 Rupien pro Tag (zwei Euro). Zudem wird dieser Wert in vielen der über 30 Unionsstaaten und -territorien real gar nicht erreicht. Und monatliche Vollbeschäftigung, die somit für 25 effektive Arbeitstage 4.450 Rupien ergäbe, ist auch eher die Ausnahme. Denn 90 Prozent der abhängig Beschäftigten – über 500 Millionen Menschen – arbeiten im informellen Sektor, also auf Tagelöhnerbasis statt in gesicherter Anstellung. In vielen Branchen bedeutet das stark wechselnde Arbeitszeiten oder nur saisonweise Beschäftigung. Mindestlöhne als grundlegende Existenzsicherung einer Familie zu begreifen, würde in der Tat helfen, noch bis 2030 die von der UN formulierten 17 nachhaltigen Entwicklungsziele zu erreichen.

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