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Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 8 / Ausland
Türkei

»Um ihr demokratisches Wahlrecht betrogen«

Kommunalwahlen in der Türkei: AKP setzt Zwangsverwalter in kurdischen Städten ein. Ein Gespräch mit Leyla Îmret
Interview: Gitta Düperthal
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Der durch einen Zwangsvertreter ersetzte Abdullah Zeydan (Hatay, 2.4.2024)

Nach dem Wahlputsch durch die AKP-Regierung in der Provinz Van im Südosten der Türkei gibt es Proteste, weil dort nach den Kommunalwahlen am Sonntag der Wählerwille der kurdischen Bevölkerung missachtet wurde. Mit welchen Mitteln setzte das Regime der AKP/MHP-Koalition dies um?

Das AKP-Regime muss seine Willkürmaßnahmen schon vorher organisiert haben. Denn der mit 55 Prozent der Stimmen gewählte Bürgermeister Abdullah Zeydan der kurdischen Oppositionspartei DEM in Van erhielt erst gar nicht seine Ernennungsurkunde. Die Wahlbehörde erkannte ihm diese nachträglich und widerrechtlich wegen angeblicher Terrorvorwürfe ab, obgleich sie ihn vor der Wahl noch als Kandidaten zugelassen hatte. Dass die Behörde das so zwei Tage nach den Kommunalwahlen durchzog, und statt dessen den Wahlverlierer der AKP ins Amt lancieren will, sorgt für Aufstände der Bevölkerung. Die sieht sich um ihr demokratisches Wahlrecht betrogen. Seit Dienstag abend gehen Menschen in kurdischen Gemeinden und Städten im Südosten der Türkei dagegen auf die Straße. In Van waren es am Mittwoch mehr als 10.000 Personen, eine Delegation der Oppositionsparteien CHP, TİP, EMEP, DBP reiste an. Sie wissen, wenn sie sich jetzt nicht gegen diese widerrechtlichen Machenschaften wehren und die fehlerhafte Entscheidung dort nicht zurückgenommen wird, kann es auch in anderen Regionen dazu kommen, sogar in Istanbul. Deshalb gibt es vielerorts Proteste.

Der türkische Innenminister sprach am Mittwoch von über 89 Festnahmen. Was ist Ihnen über die aktuelle Lage bekannt?

Die Aufstände gegen die Willkür des AKP-Regimes werden brutal niedergeschlagen. In Van wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, mit eingeschränkten Versammlungs- und Presserechten. Die Menschen, die gegen diese unrechtmäßige Entscheidung auf die Straße gehen, werden brutal mit Knüppeln, Gummigeschossen und Wasserwerfern von Polizei und Armee angegriffen. Es gibt Verletzte. Nachdem es in der Geburtsstadt des Bürgermeisters Zeydan Gever (türkisch: Yüksekova) zu Jugendprotesten mit Straßensperren kam, gingen fünf Polizisten auf einen 15jährigen Jungen los und misshandelten ihn.

Der Gouverneur der Provinz Van untersagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Versammlungen für 15 Tage.

Sie wollen den Willen des Volkes unterdrücken. Die Menschen sind aber so aufgebracht, dass sie trotz eingeschränkter Rechte Widerstand leisten. Denn die Manipulation der Wahlen begann bereits am Sonntag mit einer konzertierten Aktion. Polizisten und Militärs wurden eigens dazu in Wahllokale gefahren. Die Rede ist von etwa 47.000 Betrugsstimmen.

Die gewählte Kobürgermeisterin Serra Bucak der DEM-Partei in Diyabakır erklärte, dass ihre Partei die Wahl in 78 Städten und Gemeinden gewonnen habe. Welche Chancen gibt es, gegen die Missachtung des Wahlergebnisses vorzugehen?

Die Partei geht gezielt gegen Rechtswidrigkeit vor, will wegen Wahlbetrugs erneute Zählung von Wählerstimmen einleiten. Schon in zwei Wahlphasen zuvor wurden gewählte Bürgermeister abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Jetzt geht man rigoroser vor, indem man zwei Tage nach der Wahl erst gar keine Ernennungsurkunde übergibt. Recep Tayyip Erdoğans AKP und die MHP haben bei diesen Kommunalwahlen eine große Niederlage einstecken müssen und reagieren derart. Die Menschen aber wissen bereits seit acht Jahren, welche Einschränkung ihrer Rechte ihnen droht. Nun reicht es den Kurdinnen und Kurden.

Sie selbst wurden 2015 als Bürgermeisterin in Cizre, ebenso im Südosten der Türkei, mit Terrorvorwürfen überzogen und abgesetzt. 2019 kam es erneut zu Amtsenthebungen, Zwangsverwalter der AKP wurden eingesetzt. Was muss die deutsche Bundesregierung tun, um ihren Einfluss dagegen geltend zu machen?

Wir rufen die internationale Gemeinschaft, die Europäische Union und die deutsche Bundesregierung auf, sich gegen dieses antidemokratische Gebaren der türkischen Regierung zu positionieren.

Leyla Îmret ist Kovorsitzende der DEM-Vertretung Deutschland und war Bürgermeisterin in Cizre, einer Stadt in den kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei. Seit 2017 lebt sie im Exil in Deutschland

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