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Aus: Ausgabe vom 25.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Leipziger Buchmesse

Die Story des Blues

Erster Vorgeschmack auf Digitalmarketing: So ging die Leipziger Buchmesse 2024 dahin
Von Peter Merg
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Danse Macabre auf der Leipziger Buchmesse: Die Manga-Comic-Con schickt ihre Abgesandten

Die Zukunft ist ungewisser denn je, aber man begegnet ihr mit geschäftiger Normalität. Lächeln, winken, drücken – fast alle gewohnten Gesichter sind da, fast alle sind freundlich. Wie immer ist die Halle 5, die Heimstatt der unabhängigen Verlage, der Ort, um sich auf der Buchmesse in Leipzig rumzutreiben. In der großen Glashalle kann man zum Auftakt schließlich nicht einmal aufs Klo gehen, weil irgendwo der Bundespräsident rumsteht.

Am Stand von Papyrossa berichtet Raphael Molter, wie man Fußballultras agitiert, die Edition Nautilus feiert ihr 50jähriges Jubiläum mit einem Sektempfang, und der unvergleichliche Andreas Schäfler vom Verlag Antje Kunstmann verabschiedet sich in den verdienten Ruhestand. Am Stand von Ex-jW-Bundesliga-Kolumnist Klaus Bittermann geht es unversehens um die tragikomischen Abgründe der Demenz, während sich Redaktionskollegen mit den antideutschen Kleinverlegern von ça ira darauf einigen, in so gut wie allem unterschiedlicher Meinung zu sein, Sohn-Rethel-Gesamtausgaben aber sehr zu begrüßen. Gegen Mittag vertreiben die ersten Standbetreiber den Kater vom Vorabend mit dem ersten Prosecco.

Es ist das Jahr nach der eindrücklichen Wiederauferstehung – Pandemie, da war doch was –, und noch fließen die staatlichen Stützgelder, wenn auch deutlich weniger. Fragt sich nur, wie lange noch. Der geräuschvollere Abschied von Übervater Oliver Zille, der die Leipziger Bücherschau nach dem Anschluss als Publikumsmesse und Lesefest dem Frankfurter Straight-to-business entgegenstellte, schrammte hart an der Grenze zum Skandal. Die Andeutungen sind nicht allzu schwer zu verstehen. Offenbar ging es ums Geld, das man nach Ansicht der Gesellschafter (Freistaat und Stadt) reinholen können soll. Alles wird teurer, ob Papier, Druck oder Gemeinkosten, wieso also nicht auch Standpreise, Besuchertickets oder Käsebrezeln? Die kleine Leseinsel, die die Messe jahrelang linken Verlagen kostenlos zur Verfügung stellte, wurde gestrichen. Man könne sie zukünftig gerne anmieten, heißt es. Ein erster Vorgeschmack auf das, was unter der neuen Buchmessedirektorin Astrid Böhmisch noch folgen dürfte.

Die versteht sich auf Literaturverfilmungen und Digitalmarketing, also die Überführung buchgebundener Stoffe in vermeintlich ertragreichere Medien. Auffällig, wie häufig offiziellerseits von »Booktok« die Rede ist. Junge Leute posieren in sozialen Netzwerken mit Büchern, sprechen über sie, könnten sogar hineingesehen haben. Man hätte es kaum zu hoffen gewagt: Tatsächlich sieht man einige Bunthaarige mit Kameras und Mikrophonen durch die Hallen wandern, in denen es dank der angegliederten Manga-Comic-Con nicht an jüngeren Besuchern mangelt. Am Reclam-Stand balgen sich vor einer großen Regalwand Deutschabiturientinnen mit Seniorinnen um die gelben Bände, als wären es Sonderangebote bei Aldi.

Ob sie aber das nötige Geld bringen, das man offenbar nach und nach aus der Messe zu wringen sucht? Das Lesefest »Leipzig liest« erfreut sich noch immer großen Zuspruchs, doch klagen nicht wenige Veranstalter, dass Unterstützungen gestrichen würden; die Sichtbarkeit sinke, während die Werbekosten steigen. Jedes Jahr zur Messe sei die Stadt wie verwandelt, sagt ein örtlicher Galerist. Die temporäre Begeisterung finde ihren Ausdruck in den vielen kleinen und größeren Veranstaltungen rund um die Messe. Hier zu sparen, setzte ihren Charakter als Publikumsmesse aufs Spiel. Was als schonender Schnitt gedacht sein mag, legt die Axt an die Wurzeln.

In den Hallen spürt man davon wenig. Alles geht seinen Gang, trotz multipler Krisen scheint die Zeit der großen Aufreger vorbei. Seit Götz Kubitschek und seine Faschos nicht mehr kommen, ist es langweilig geworden. Der böse Putin lockt keinen mehr so recht hinterm Ofen vor, und auch der Gazakrieg provoziert hier keinen neuen »Antisemitismusskandal« – was wahrscheinlich daran liegt, dass weder Israel noch die Hamas mit Ständen vertreten sind.

Während am ersten Tag noch der professionelle Austausch im Vordergrund steht, widmet man sich anschließend den trotz Warnstreiks im Nahverkehr zahlreich strömenden Besuchern und feiert sich abends selbst. Die Branchenlage ist schon schlecht genug, da muss es nicht auch die Stimmung sein. Am Samstag abend schwingen Kleinverleger bei der Party des Verbrecher-Verlags im Conne Island zu 80er-Hits und Heulern aus der Nuller-Jahre-Indie-Disco das Tanzbein, bis die Vöglein wieder singen. Leipzig macht sich locker. Als der Nachtbus kommt, fehlt die Anzeige. »Wo lang fährt der?« »Ist doch egal, Hauptsache die Richtung stimmt.« Könnte auch von Frau Böhmisch stammen.

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