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Aus: Ausgabe vom 20.03.2024, Seite 14 / Feuilleton
Rotlicht

Erste Internationale

Von Marc Püschel
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Friedrich Engels’ Mitgliedsbuch der Ersten Internationale

Die St. Martin’s Hall in London war »bis zum Ersticken besetzt«, so schrieb es später Karl Marx seinem Freund Engels. Rund 2.000 Menschen versammelten sich dort am 28. September 1864, um einem historischen Moment beizuwohnen: der Gründung der »Internationalen Arbeiter-Association« (IAA), der Ersten Internationale.

Lange hatte es nach der Niederschlagung der Revolutionen von 1848 gedauert, bis die Arbeiterbewegung stark genug war, um sich zu organisieren. London, das in den 1860er Jahren Zufluchtsort für politische Flüchtlinge aus ganz Europa war, bot ein günstiges Pflaster. Auf Anregung der starken britischen Gewerkschaftsbewegung wurde dort der Gründungskongress der IAA aus der Taufe gehoben. Obwohl Marx nicht an der Initiative beteiligt gewesen war, wurde er sofort in das Provisorische Komitee gewählt und binnen eines Monats der führende Kopf der Internationale. Geschickt zog er die Aufgabe, nachträglich eine Gründungserklärung zu verfassen, an sich.

In dieser Inauguraladresse gab Marx einen Überblick über die Lage der britischen Arbeiterklasse, deren Elend auch den Werktätigen der noch nicht industrialisierten Länder bevorstand, und folgerte: »Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen.« Die Erklärung blieb allerdings sehr vage, da zunächst die Sammlung aller progressiven Strömungen, die sich für die Arbeiter einsetzten, an der Tagesordnung war. So verbanden sich in der IAA die Anhänger Marx mit englischen Gewerkschaftern, französischen Sozialisten und russischen Anarchisten.

Als Mitglied des Generalrats versuchte Marx, in den Folgejahren in mühseliger Kleinarbeit die IAA kommunistisch auszurichten: »Es war sehr schwierig, die Sache so zu halten, dass unsre Ansicht in einer Form erschien, die sie dem jetzigen Standpunkt der Arbeiterbewegung acceptable machte«, schrieb er an Engels. Den größten Streitpunkt stellte die Frage nach der Organisationsstruktur dar. Während die Anarchisten um Michail Bakunin für eine föderale Struktur eintraten, wollte Marx die Internationale streng zentralistisch organisieren.

Der schlussendliche Ausschluss Bakunins auf dem IAA-Kongress in Den Haag 1872 wurde zu einem Pyrrhussieg. Die daraufhin von dem Russen gegründete »Antiautoritäre Internationale« zog viele Gruppen, Arbeiter und Intellektuelle ab. Auch von rechts bröckelte die Internationale: Nachdem sie sich im September 1871 mit der Pariser Kommune solidarisiert hatte, begannen die eher konservativen britischen Gewerkschaftsführer, sich von ihr zu lösen. Um die IAA vor weiteren Grabenkämpfen zu schützen, wurde ihr Sitz 1872 nach New York verlegt. Doch dort besaß sie kaum noch Anbindung an ihre Mitgliedsorganisationen in Europa. 1876 wurde auf einem Kongress in Philadelphia festgestellt, dass die Vereinigung faktisch nicht mehr existiere, und konsequenterweise ihre Auflösung beschlossen.

Franz Mehring formulierte über die Erste Internationale nüchtern: »Sie war eine Durchgangsform des proletarischen Emanzipationskampfes, und ihr geschichtliches Wesen bedingte sowohl, dass sie notwendig, als auch dass sie vergänglich war.« Doch trotz der kurzen Lebensdauer von zwölf Jahren war sie nicht umsonst. Erstmals hatte die Arbeiterklasse sich über Grenzen hinweg vereinigt, ein bedeutender Erfahrungsschatz war gewonnen. Die IAA wurde auch ein der wichtigsten Triebkräfte bei der Schaffung nationaler Arbeiterparteien. So gründeten etwa August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erklärtermaßen als eine deutsche Sektion der IAA. Zugleich schuf die Internationale ein kollektives Bewusstsein, dem Eugène Pottier mit dem Kampflied »Die Internationale« 1871 bleibenden Ausdruck verlieh. So schuf die IAA selbst die Voraussetzungen für ihren Nachfolger, die Zweite Internationale von 1889.

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