junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Montag, 13. Mai 2024, Nr. 110
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 15.03.2024, Seite 16 / Sport
Boxsport

Neuköllner Champ

Comeback: Der Berliner Supermittelgewichtler Tyron Zeuge will sich am Sonnabend in Birmingham für einen weiteren WM-Fight in Stellung bringen
Von Oliver Rast
imago0203278331h.jpg
Tyron Zeuge (links) schlägt sich wieder nach oben (Stuttgart, 18.2.2023)

So etwas ärgert ihn: Kaffee­flecken. Auf seiner nigelnagelneuen silbergrauen Jogginghose. Er benetzt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand, rubbelt kräftig am koffeinhaltigen Rückstand. Der Effekt, der Klecks auf dem Textil am rechten Oberschenkel verschmiert. »Shit!« grummelt Tyron Zeuge. In dem Moment schreitet Manager Jan Gronke durch die verglaste Tür eines Fitnessstudios in Berlin-Spandau. Mit einer bunten Einkaufstüte unterm Arm. Darin ein hellbrauner Pappkarton eines Versandgiganten. Der Supermittelgewichtler blickt ungläubig, kurzerhand öffnet er die Schachtel. Ein neuer Kopfschutz, pechschwarz. Anprobe stante pede. Passt.

Es ist Ende Februar, Zeuge bereitet sich vor. Er will wieder auf die Bretter, die für ihn die Welt bedeuten. Auswärts im englischen Birmingham. Ein Ranglisten-Fight für den Ex-WBA-Weltmeister. Vorher heißt es aber ackern; stundenlang, täglich. Eine Auszeit bleibt, für einen Smalltalk mit jW. Gut drei Wochen vor dem Insel-Fight gegen Zach Parker am 16. März.

Wir nehmen in einer Ecke im Vorraum des Studios Platz. Holzwürfel dienen als Sitzmöbel. Zeuge zieht eines der beigefarbenen Kissen unter den Allerwertesten und rückt seine marineblaue Wollmütze hoch an den Haaransatz. »Wir sind ein Low-Budget-Projekt«, sagt er spitzbübisch. Das war mal anders. Blitzlichtgewitter, Schlagzeilen, Liveübertragungen. Und Aussicht auf kräftig Knete. Jahre her. Jahre, in denen viel passiert ist. Ohne Boxen. »Ich habe einfach nur noch eine Leere verspürt.« Längst sei er aber wieder voller Tatendrang. Dazu gleich.

Zeuge ist in Nordneukölln aufgewachsen, in einem Genossenschaftswohnkomplex mit Bauhaus-Architektur aus den späten 1920ern mitten im früher toughen, inzwischen sehr gentrifizierten Schillerkiez. Schule war nie so sein Ding. Oder wie er keck bemerkt: »Ich war wohl zu intelligent für den Unterricht, habe mich deshalb oft gelangweilt.« Ihm war lieber nach »Action, Scheiße bauen.« Er sei halt ein »Straßenköter«; einer, der keinem Stress ausgewichen ist. Nie.

Mit sechs Jahren begann Zeuge zu boxen. Ein Rat seines Vaters, einem Hausmeister und Taxifahrer. Die Entwicklung des Sohnes verlief rasant. Der junge Bengel fightete für die Neuköllner Sportfreunde (NSF). Urkunden, Medaillen, Pokale zierten fortan Zeuges vier Wände. Nur, eine emotionale Bindung zu seinen Erfolgen konnte er damals nicht so recht aufbauen. »Der Kram war für mich unwichtig, vieles hab’ ich an Kumpels verschenkt.«

Wenig überraschend war, dass die Big-Promoters auf das Toptalent aufmerksam wurden. Zeuge wurde mit 19 Profi und unterschrieb 2012 beim Sauerland-Stall. Kämpfe in Serie folgten, fünf, sechs Ringschlachten in zwölf Monaten. Im Juli 2016 dann die Chance, Fight um den WBA-Titel im Supermittelgewicht gegen den Italiener Giovanni de Carolis. Die Kontrahenten trennten sich remis, de Carolis blieb Champion. Aber nicht lange. Im Rematch vier Monate später Zeuges Triumph, Sieg nach technischem K.o. (TKO) in Runde 16.

Der Teenie ist am Ziel, der zweitjüngste deutsche Weltmeister. Und immer wieder der Vergleich zum jüngsten Titelträger bislang: Graciano Rocchigiani. Stört ihn der Vergleich? Zeuge: »Nee, Quatsch, überhaupt nicht, ich sehe viele Parallelen zu Grace.« Welche? Einfach eine ehrliche Haut sein, sich von unten nach oben boxen – und trotz der Erfolge bodenständig bleiben. Das Motto, simpel: Hinfallen, aufstehen, wieder hinfallen, wieder aufstehen. Eine Frage der Mentalität. Haltung war bei den Titelverteidigungen gefragt. Etwa bei den blutigen Scharmützeln mit Isaac Ekpo. Der Nigerianer verlangte Zeuge alles ab. Der Berliner behielt zweimal die Oberhand.

Jeder Höhenrausch endet irgendwann. Endstation war für Zeuge im Juli 2018. Niederlage gegen den Briten Rocky Fielding. Bis 24 Stunden vor dem ersten Gong lief alles nach Plan. Dann knackte es im Oberkörper: Wirbelblockade. »Eigentlich hätte ich den Kampf absagen müssen«, sagt Zeuge rückblickend. In Frage kam das für den »Krieger« indes nicht. Ergebnis: Aufgabe in Runde fünf, WM-Gürtel futsch.

Danach wurde es richtig turbulent; nicht sportlich, sondern privat. Promotorwechsel, Motivationsprobleme, Perspektivlosigkeit. Zu allem Überdruss knockten Lockdowns Zeuge aus. Dazu literweise Bier und kiloweise Currywürste. Dickmacher als Nahrungsergänzung in der Coronakrise. 120 Kilogramm brachte Zeuge in der Spitze auf die Waage. Als Beleg zeigt er eine Fotostrecke auf seinem I-Phone. Zeuge mit aufgedunsenem Gesicht und Dreifachkinn im illustren Kreis seiner Kumpels. Irgendwie durchschlagen musste er sich trotzdem. Als Türsteher in angesagten Klubs der Hauptstadt, »in Dissen«, wie er augenzwinkernd sagt.

Aber eines Tages habe es »Klick im Kopf gemacht«. Auch der Liebe wegen. Zeuge verschlug es nach Augsburg, zur Profiboxerin Cheyenne Hanson. Beide teilten Passion und Profession. Der Spaß am Boxen kam zurück. Zeuge heuerte im August 2022 bei der Magdeburger Promotion Fides Sports von Burim Sylejmani an. Wie gehabt, Fights in Serie, 2023 drei in sechs Monaten. Der reaktivierte Faustkämpfer brachte alle souverän über die Bühne. Im November 2023 musste Zeuge verletzungsbedingt passen. Zurückgeworfen hat ihn das nicht. »Ich bin mit Anfang dreißig gereift«, sagt er. Ferner ist er nach Berlin zurückgekehrt. Keine Liaison hält ewig.

Nun ist Zeuge in die zweitgrößte Stadt des UK gereist – und wird Parker am Sonnabend vor den geballten Fäusten haben. »Siegt Tyron, rangiert er bei den großen Verbänden weit oben«, erwartet Sylejmani. Und dann könnte neuerlich ein WM-Ticket winken, hofft der Promotor. Zeitnah sogar. Parker ist für Zeuge kein Unbekannter, sie standen sich früher beim Sparring im Sauerland-Stall gegenüber. Darauf angesprochen, zuckt Zeuge nur mit den Schultern – und sagt: »Auf die Schnauze habe ich von ihm wohl nicht bekommen, sonst würde ich mich erinnern.« Da ist es wieder, das typische schelmische Schmunzeln. Dennoch, wie bereitet er sich auf seinen Gegner vor? Klar, hin und wieder schaue er mit seinem Staff Videoschnipsel von Parker. Kirre machen lässt er sich davon aber nicht. Zeuges Marschroute: Rüberfliegen, weghauen, abfeiern. Und: »Um Mitternacht nach dem Fight bin ich ratzevoll«, verspricht er. Flecken von Spirituosen auf Hosenbeinen bei der Siegessause dürften ihm dann egal sein.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Mehr aus: Sport