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Aus: Ausgabe vom 27.02.2024, Seite 1 / Titel
Palästina

Gaza wird abgewickelt

Israelischer Angriff auf Grenzstadt Rafah konkretisiert sich. Premier Netanjahu betreibt mit »Evakuierungsplan« Augenwischerei
Von Knut Mellenthin
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Der gesamte Gazastreifen soll überrollt werden – bis zum »totalen Sieg« (26.2.2024)

Eine umfangreiche israelische Bodenoffensive auf die Stadt Rafah im äußersten Süden des Gazastreifens steht anscheinend kurz bevor. Das Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu meldete in der Nacht zum Montag ohne Angabe konkreter Einzelheiten, dass die Streitkräfte dem Kriegskabinett einen Plan für die »Evakuierung« der Bevölkerung der künftigen »Kampfzonen« und für die militärische Durchführung der Operation vorgelegt haben. In Rafah, das direkt an der Grenze zu Ägypten liegt, sind rund 1,3 Millionen Menschen zusammengedrängt, von denen die meisten durch die israelische Kriegführung schon mindestens einmal aus anderen Teilen des Gazastreifens vertrieben wurden.

Mit einem Angriff von Bodentruppen auf die Stadt und ihre Umgebung würde Netanjahu die breiten internationalen Warnungen vor »massenhaften Verlusten« in der palästinensischen Bevölkerung und einer »humanitären Katastrophe« ignorieren. Sogar engste Verbündete haben Israel aufgefordert, mit der Offensive nicht zu beginnen, »bevor es einen klaren und durchführbaren Plan zum Schutz der Zivilisten, für ihre Ernährung, Bekleidung und Unterkunft gibt«, wie es der Nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, Jacob Sullivan, am Sonntag (Ortszeit) in einem Gespräch mit dem Sender NBC formulierte. »Einen solchen Plan haben wir noch nicht gesehen.«

Diesen Einwand will Netanjahu offenbar mit dem Hinweis auf einen »Evakuierungsplan« entkräften. Das Wort soll den Eindruck eines organisiert und verantwortlich durchgeführten Vorgangs erwecken. Das hat es aber in der israelischen Kriegführung noch niemals gegeben. Zu rechnen ist statt dessen mit einer ultimativen Anweisung an die Bevölkerung, auf bestimmten Fluchtwegen ihre Wohnungen und Behelfsunterkünfte zu verlassen. Ägypten fürchtet, dass dann Hunderttausende versuchen könnten, die Grenze zu durchbrechen. Luftaufnahmen zeigen, dass auf ägyptischem Gebiet eine Mauer und ein Auffanglager gebaut wurden.

Am Sonntag hatte Netanjahu nach langem Drängen aus dem In- und Ausland dem Sicherheitskabinett – in einem Papier von nur einer Seite Umfang – skizzenhaft seine Vorstellungen für die »Nachkriegszeit« mitgeteilt. Im Sicherheitskabinett sind die wichtigsten Ressorts vertreten. Das Kriegskabinett besteht nur aus Netanjahu, Verteidigungsminister Joaw Gallant (beide ­Likud) und dem früheren Generalstabschef Benjamin Gantz von der oppositionellen Partei Nationale Einheit.

Das Papier mit dem Titel »Der Tag nach Hamas« sieht vor, dass Israel die alleinige und totale »Sicherheitskontrolle« im gesamten Gebiet westlich des Jordans übernimmt, im Gazastreifen ebenso wie auf der besetzten Westbank. Der Gazastreifen soll »vollständig demilitarisiert« und »entradikalisiert« werden. Diesem vermutlich langwierigen Prozess unter israelischer Kontrolle sollen alle unterzogen werden, die in den Bereichen der Religion, des Bildungswesens und der Sozialpolitik tätig sind. Die Verwaltung der Enklave soll örtlichen Fachleuten auf verschiedenen Gebieten übertragen werden, die keiner der palästinensischen Fraktionen angehört haben.

An der »Entradikalisierung« sollen nach Netanjahus Plan »soweit wie möglich« auch arabische Staaten beteiligt werden, die in diesem Bereich eigene Erfahrungen haben. Mit dem Wiederaufbau des Gazastreifens soll nicht begonnen werden, bevor die »Entmilitarisierung« abgeschlossen ist und der »Entradikalisierungprozess« begonnen hat.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (27. Februar 2024 um 10:09 Uhr)
    Das politische Machtspiel eines Kriegspremiers. Wenn Benjamin Netanjahu, der Premierminister Israels, verkündet, dass nur noch ein einziger Einsatz in Rafah notwendig sei, um den Sieg über die Hamas zu erringen, wirkt seine Rhetorik eher wie die eines Märchenerzählers. Netanjahus visionäre Worte verfangen kaum noch. Selbst als am vergangenen Samstag die Geiselplattformen in Tel Aviv auf die Straße gingen, wurden sie vom Schwall der Wasserwerfer der Polizei getroffen. All das blendet Netanjahu aus. Er vertraut darauf, dass ein Regierungswechsel nicht von unten erzwungen wird. Solange die Koalition zusammenhält und keiner seiner Partner abtrünnig wird, glaubt der machthungrige Premier, dass er an der Befehlsgewalt festhalten kann. Daher unternimmt er alles, um seine Anhänger zusammenzuhalten. Selbst wenn die rechtsgerichteten Parteien einen Geiseldeal ablehnen, erfindet Netanjahu neue Forderungen, die einen Verhandlungserfolg erschweren. Die israelische Delegation, die seit Monaten in Paris und Doha um Fortschritte ringt, spürt immer wieder, dass ihr Erfolg in Jerusalem nur bedingt erwünscht ist. (…)

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