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Aus: Ausgabe vom 26.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Philosophie

»Eine Brücke inmitten von Abgründen«

Was treibt junge Leute zur Dialektik? Über die Hans-Heinz-Holz-Tagung 2024. Ein Gespräch mit Mesut Bayraktar
Von Bill Wizz
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»Stimmen unsere Begriffe nicht, ist die Praxis blind.« Nachdenken mit Hans Heinz Holz

Nicht allen ist Hans Heinz Holz bekannt. Was ist an ihm so bemerkenswert, dass die »Gesellschaft für dialektische Philosophie« seit Jahren eine Tagung zu seinem Werk veranstaltet?

Wer es mit materialistischer Dialektik ernst meint, kommt heute um Hans Heinz Holz nicht herum. Als durch und durch marxistischer Philosoph hat sich Holz sein gesamtes Leben (1927–2011) mit dem begrifflichen Rüstzeug der Arbeiterklasse beschäftigt, es erweitert und vertieft. Bekanntlich wimmelt es darin von Einheit und Widerspruch, da die arbeitende Klasse historisch lebendig ist. Dieses Rüstzeug durchleuchten wir auf den Tagungen, kollektiv, öffentlich und kritisch. Denn stimmen unsere Begriffe nicht, ist die Praxis blind, ein Grundsatz des wissenschaftlichen Sozialismus. Das weiß jeder Marxist.

Was ist das diesjährige Thema?

Die Tagung trägt den Titel: »Das Werk von Hans Heinz Holz und seine Wirkung: Perspektiven der Forschung«. Es ist uns wichtig, darzustellen, zu welchen holzspezifischen Themen gegenwärtig geforscht wird. Manuel Sassmann wird zur ästhetischen Widerspiegelung mit Beispielen aus der chinesischen Kunstgeschichte vortragen. Das ergänzt Dean Wetzel mit einem Vortrag zur Spiegelstruktur des Schauspielens. Gregor Schäfer wird über die spekulative Lesart des Hegelschen Systems sprechen. Außerdem wird Martin Küpper zur Biographie von Holz nach 1989 referieren.

Anscheinend gibt es ein Interesse bei jungen Studierenden an den Arbeiten von Hans Heinz Holz. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich denke, das hat ganz entschieden mit der letzten Epochenschwelle des Klassenkampfs zu tun, die Grunderfahrungen vor und nach dem Sieg der Konterrevolution 1989. Die prägen nicht nur die Welt von heute. Sie sind die Pulsschläge im Werk von Holz. Vor diesem Hintergrund ist die begriffliche Systematisierung der Niederlage und der Zukunft des Sozialismus eine herausragende philosophische Leistung von Holz. Da hat er eine ähnliche Stellung wie Hegel, der seinerzeit die Begriffe der bürgerlichen Revolution des 18. Jahrhunderts erst in der Phase der feudalen Konterrevolution ausgearbeitet und damit für die dann kommenden Kämpfe die Dialektik entdeckt hat. So schließt Holz in seiner Philosophie die Erfahrungen der proletarischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts mit den Kämpfen des 21. Jahrhunderts zusammen – eine Brücke inmitten von Abgründen. Junge Menschen finden hier Ansatzpunkte für ihre Suche nach gesellschaftlichen Auswegen aus dem kapitalistischen Elend. Ich selbst gehöre ja auch dazu. Im Bestreben, tiefer an die philosophischen Wurzeln des Marxis­mus vorzudringen, musste ich in die dicken Bretter Hegels bohren. Wenn die Bohrmaschine heißlief, gab mir Holz die richtigen Aufsätze zur Hand. Belohnt wurde ich mit Orientierung.

Ein Vortrag handelt von der Biographie von Hans Heins Holz. Was ist zu erwarten?

Martin Küpper beschäftigt sich schon seit Jahren mit Holzens Biographie. In dem Vortrag wird es darum gehen, wie dessen Werk nach dem Ende des Sozialismus politisch und philosophisch wahrgenommen wurde – und zwar von denen, die zuvor Marxisten waren und nach 1989 andere Wege einschlugen, aber auch von denen, die Marxisten blieben oder überhaupt erst welche wurden. Außerdem wird es darum gehen, wie seine Philosophie in der Fachzunft wahrgenommen wurde.

Bisher fand die Tagung in Wien oder Berlin statt. Warum jetzt Hamburg?

Wir freuen uns, dass es neben Wien und Berlin seit September 2022 auch eine Grundorganisation der Gesellschaft für dialektische Philosophie im Norden gibt. Wir haben uns sozusagen die Worte von Bertolt Brecht zu Herzen genommen, dass es ohne die Organisierung von Dialektikern nicht geht. Mit der Unterstützung aus Wien und Berlin konnten wir uns dann in Hamburg zusammenfinden, und nun stemmen wir sogar die Holz-Tagung. Auch Jörg Zimmer, Vorsitzender der Gesellschaft für dialektische Philosophie, wird eigens aus dem spanischen Girona anreisen. Alle Freunde der Dialektik sollten seinem Beispiel folgen.

Mesut Bayraktar ist Schriftsteller und Koordinator der Gesellschaft für dialektische Philosophie in Hamburg

»Das Werk von Hans Heinz Holz und seine Wirkung: Perspektiven der Forschung«, 2. März 2024, ab 10.45 Uhr, Magda-Thürey-Zentrum, Lindenallee 72, 20259 Hamburg

dialektische-philosophie.org

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