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Aus: Ausgabe vom 22.02.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Bauernproteste in Polen

»Putin, schaff Ordnung«

Bauernproteste in Polen: 200 Straßenblockaden im ganzen Land, Ermittlungen wegen »Verherrlichung des Totalitarismus«
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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»Putin, schaff Ordnung mit der Ukraine, Brüssel und unseren Regierenden« (Gorzyczki, 20.2.2024)

Eine Straße zu blockieren, ist ganz einfach. Die Manie der Straßenplaner, überall Kreisverkehre anzulegen, hilft. Ein Traktor fährt hinein, einmal rundherum, lässt den nächsten Kollegen vor, und fertig ist der Stau. Zu besichtigen war das am Dienstag unter anderem im westpolnischen Krotoszyn. Einige Dutzend Landwirte fuhren mit ihren Schleppern zwischen nicht weit voneinander entfernten Kreisverkehren hin und her und blockierten auf diese Weise über Stunden den regionalen Straßenknotenpunkt. »Die Regierung frisst und feiert, und wir gehen pleite« stand auf einem ihrer Transparente. Ein anderes forderte die Schließung der Grenze für ukrainische Agrarimporte.

Ähnliche Situationen gab es am Dienstag an rund 200 Orten im ganzen Land. Am Mittwoch gingen die Proteste weiter. Landesweit waren Autobahnen und Schnellstraßen blockiert. Die Traktoren sind mit bis zu vier polnischen Flaggen dekoriert, oft haben die Landwirte heranwachsende Kinder mit auf dem Bock, damit sie schon in jungen Jahren Demonstrationserfahrung bekommen. Es sind auch gerade Schulferien.

Am Eisenbahngrenzübergang Medyka bei Przemyśl leerten Protestierende am Dienstag zwei Waggons mit ukrainischem Mais und schütteten das Getreide auf die Gleise. Ansonsten hielten sich die Aktionen bisher in friedlichem Rahmen. Auch die von den Bauern in den Stau gezwungenen Autofahrer waren dem Anschein nach meist verständnisvoll; es gab keine Hupkonzerte und keine nach außen dringenden Unmutsäußerungen.

Die Polizei unternimmt in der Regel nichts dagegen und organisiert statt dessen Umleitungen. Nur an einer Stelle griff sie am Dienstag ein. Im oberschlesischen Gorzyczki tauchte ein Traktor mit der Parole auf »Putin, schaff Ordnung mit der Ukraine, Brüssel und unseren Regierenden«. Dazu eine Flagge der Sowjetunion. Er fuhr nicht lange mit; die Polizei holte ihn aus der Kolonne, beschlagnahmte Fahne und Parole und leitete Ermittlungen wegen »Verherrlichung des Totalitarismus« ein.

Im nachhinein distanzierten sich alle von dem Fahrer; der regionale Koordinator der Bauernbewegung zog in Zweifel, dass es sich bei ihm um einen »echten Landwirt« handle. Es gibt Anzeichen dafür, dass die auch im Parlament sitzende rechtspopulistische Partei Konfederacja an der Organisation der Proteste beteiligt ist. Das Portal money.pl recherchierte, wo die regionalen Anführer der Proteste mit dieser Partei verbunden sind. Ergebnis: in 15 von 16 polnischen Wojewodschaften. Unterstützt werden die Bauern von Lkw-Fahrern, Imkern und Pelztierzüchtern, die sich den Protesten angeschlossen haben.

Man sollte die Proteste nicht idealisieren; nicht alle Forderungen der Landwirte machen sie zu Sympathieträgern. Etwa, wenn sie den Erhalt der schrecklichen Bedingungen der Pelztierzucht oder die Rücknahme der von der EU angeordneten Beschränkungen des Pestizideinsatzes verlangen. Doch was vom Standpunkt des Verbrauchers als Beharren der Bauern auf Giftspritzerei erscheint, ist aus Sicht der agrarischen Kleinunternehmer konsequent. Die Restriktionen beim Pestizideinsatz verschlechtern für den einzelnen Landwirt das Verhältnis von Aufwand und Ernteertrag, gleichzeitig lässt die EU aus politischen Gründen ukrainische Produkte auf den Markt, die zu weit geringeren Kosten produziert werden und bei denen niemand nach Giftrückständen auch nur fragt.

Der Import von Weizen aus der ­Ukraine nach Polen hat sich nach einem Bericht der Tageszeitung Rzeczpospolita seit 2022 verzehnfacht, der von Raps ist demnach auf das Zwanzigfache des Vorkriegswerts gestiegen. Abgesehen vom hierdurch ausgelösten Preisverfall war im vergangenen Jahr, als die Bauernproteste begannen, schlichtweg kein Platz mehr in den Silos für die Ernte der polnischen Landwirte.

Die Regierung versucht einstweilen, die Protestierenden zu beschwichtigen. Landwirtschaftsminister Czesław Siekierski sagte am Dienstag, das Anliegen der Bauern sei berechtigt; die Sicherheit der Lebensmittelversorgung hänge vom Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft ab. Nun sollen Kommissionen gebildet werden, um die Probleme wie üblich zu zerreden. Die Bauern trauen den Ankündigungen nicht. Ihre Proteste sollen mindestens bis Ende Februar weitergehen. Dann ruft irgendwann die Feldarbeit, da ist keine Zeit mehr, um Kreisverkehre zu blockieren.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Februar 2024 um 11:03 Uhr)
    Nach tagelangen Protesten polnischer Bauern beabsichtigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nun, Regierungschef Denys Schmyhal und weitere Kabinettsmitglieder zu Verhandlungen an die blockierten Grenzübergänge zu schicken. Dabei richtete der ukrainische Präsident auch Appelle an den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk und den Staatspräsidenten Polens, Andrzej Duda. »Ich bitte dich, Donald, Herr Ministerpräsident, ebenfalls an die Grenze zu fahren. Andrzej, Herr Präsident, ich ersuche auch dich, diesen Dialog zu unterstützen«, appellierte er an die polnische Führung. Er zeigte sich zudem bereit, selbst an die Grenze zu reisen. Gleichzeitig wandte sich der Präsident an die Europäische Kommission mit der Bitte, ebenfalls Vertreter zu dem gewünschten Treffen zu entsenden. Sein Appell spiegelt sein Demokratieverständnis wider: Wir haben das Sagen, nicht die Bauern! Wir entscheiden hier, was geschieht, nicht das Bauernvolk! In diesem Zusammenhang wird jedoch nicht und nirgend erwähnt, dass der Präsident der Ukraine die Interessen internationaler Großkonzerne vertritt, die bereits die Agrarindustrie der Ukraine als ihr Eigentum haben. Die von den Protesten betroffenen Einnahmen beeinträchtigen nicht primär das ukrainische Budget, sondern die Gewinne der Eigentümer. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass bestimmte Anteile als Steuern an die Ukraine entfallen könnten.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (21. Februar 2024 um 23:28 Uhr)
    Ursprünglich sollten die Beschränkungen zwecks Transit (!) aufgehoben werden, wenn ich nicht irre. Was ist denn daraus geworden? Ist doch logisch, dass durch unverzollten Import die Preise in den Keller gehen. Die vollen Silos sind demzufolge auch nicht das primäre Problem, sondern Symptom (!). Die sind für heimische Erträge und ggf. für Reserven in schlechten Erntejahren; drei in Folge hatten wir ja kürzlich, also sollte reichlich Kapazität frei sein. Und ich teile auch die Ansicht über den Gifteinsatz bei ukrainischem Getreide. Ich habe merkwürdigerweise seit dem Öffnen besagter Schranken arge Verdauungsprobleme nach Verzehr von Weizengebäck aus dem Supermarkt. Ist das nun spontane Glutenallergie oder kaufen die lieber das billigere ukrainische Getreide? Ist vielleicht auch einfach psychosomatisch. Eine Antwort erwarte ich auch nicht, denn dazu müssten die richtigen Fragen gestellt werden, was aber politisch heikel ist. Zurück zum Transit: Was ist eigentlich aus verplombten LKW geworden. Kann mich noch vage an die mit dem »TIR«-Schild am Heck erinnern, die man häufig in der DDR sah. Genau sowas bräuchten wir jetzt, damit sichergestellt werden kann, dass die Fracht nicht auf einem gesättigten Markt landet, und fertig ist die Laube. (…)

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