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Aus: Ausgabe vom 22.02.2024, Seite 6 / Ausland
Polizeigewalt

Kontinuität des Kolonialismus

Kenia: In den Armenvierteln sind Polizeigewalt und Festnahmen an der Tagesordnung
Von Tim Krüger, Nairobi
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Im Bezirk Kayole der kenianischen Hauptstadt Nairobi gibt es für die Jugend kaum Perspektiven

Menschenmassen stieben panisch auseinander. Schwarzer Rauch qualmt aus dem schmelzenden Plastik brennender Autoreifen. Polizisten in blauen Overalls stürzen aus ihren Fahrzeugen und rennen hektisch von einer Seite zur anderen. Ein Tränengaskanister zischt auf der ungeteerten Straße; weiße Schwaden versperren die Sicht. Immer wieder wird das Stimmengewirr aus Geschrei und Kommandorufen durch das ohrenbetäubende Krachen der Kalaschnikowsalven zerissen. »Das war vor etwas mehr als zwei Jahren. Die Bullen haben damals einen Mann aus der Gemeinschaft totgeschlagen, einfach nur, weil er gegen eine Ausgangssperre verstoßen hatte«, berichtetet der Aktivist Okakah Onyango und zeigt auf den Bildschirm des Computers. Das Youtube-Video zeigt die darauffolgenden Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung des Stadtteils Kayole in Nairobi und den kenianischen Einsatzkräften. Die Polizei war damals mit Tränengas und scharfer Munition gegen die aufgebrachte Menge von Anwohnern vorgegangen.

Kayole gilt als einer der ärmsten und gefährlichsten Bezirke der kenianischen Hauptstadt. Hier leben auf engstem Raum etwa 190.000 Menschen, zumeist in Wellblechverschlägen. In Kenia wird derzeit von einer Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Prozent ausgegangen, über 85 Prozent der Bevölkerung erwirtschaften ihr täglich Brot im informellen Sektor. In Vierteln wie Kayole sind die Zahlen vermutlich noch höher. Als selbstorganisiertes Zentrum arbeitet das Kayole Community Justice Center mit den Jugendlichen und den Familien im Viertel. »Wir haben unser Zentrum 2018 gegründet und es uns zur Aufgabe gemacht, gegen extralegale Hinrichtungen, Polizeigewalt und willkürliche Festnahmen aber auch gegen die fortschreitende Umweltzerstörung und geschlechtsspezifische Gewalt im Viertel zu kämpfen«, erklärt Gerald Kamao, Aktivist der ersten Stunde und Gründer des Zentrums.

Das Zentrum in Kayole ist Teil eines stadtweiten Netzwerkes von mittlerweile 21 Gemeinschaftszentren mit ähnlichen Konzepten. Die Aktivisten beschäftigt dabei vor allem die anhaltende und willkürliche Polizeigewalt im Viertel. Die Jugend hier werde »kriminalisiert, als Gangmitglieder und Verbrecher abgestempelt und zum Abschuss freigegeben« so Kamao. Immer wieder verlieren Jugendliche im Viertel durch Polizeikugeln ihr Leben. Meist heißt es danach, sie seien auf frischer Tat ertappt oder auf der Flucht erschossen worden. Die von den Gesellschaftszentren dokumentierten Fälle von Gewalt gegen die Bewohner der Armenviertel umfassen allein seit dem Amtsantritt der Regierung William Ruto im September 2022 mindestens 480 Fälle von Folter, Mord oder Verschwindenlassen.

Auch die Aktivisten selbst seien regelmäßig von Übergriffen der Polizei betroffen. Maryanne Kasina und Okakah Onyango schildern, wie sie erst kürzlich von Zivilpolizisten ohne Angabe weiterer Gründe auf die Polizeiwache verschleppt wurden: »Sie haben 40 Leute in eine Zelle gezwungen, die eigentlich für fünf gedacht war.« Die meisten ihrer Mitgefangenen seien Jugendliche von der Straße gewesen, die die Polizei unter vorgeschobenen Gründen festgenommen hatte. Meist passieren solche Festnahmen am Freitag, wenn bis zum Montag kein Untersuchungsrichter bereitsteht. Für die beiden hat das System. »Am Wochenende konnte ich feststellen, dass 300 Individuen verhaftet wurden. 95 Prozent waren schon am Sonntag morgen, nach der Zahlung von Bestechungsgeldern, wieder entlassen worden«, so Onyango.

Die immer wieder stattfindenden Morde durch die Polizei und die willkürlichen Festnahmen sind für die Aktivisten Teil eines Krieges gegen die arme städtische Bevölkerung. »Das ist natürlich auch eine Klassenfrage«, meint Gerald Kamoa. »In den Reichenvierteln wird niemand über den Haufen geschossen.« Auch die fortbestehende Kontinuität des Kolonialismus sei eine der Hauptursachen der Gewalt. So habe Kenia zwar eine eigene Verfassung, doch das Problem sei das Strafgesetzbuch, das noch aus Zeiten der britischen Herrschaft stammt und die Verfassung selbst ad absurdum führt. »Kenia ist nie wirklich unabhängig geworden. Die Polizei und die Armee werden in den britischen und US-amerikanischen Basen ausgebildet, die Spezialeinheiten erhalten Training zur Aufstandsbekämpfung vom israelischen Nachrichtendienst«, so Kamoa. »Kein Wunder, dass sie das, was sie dort beigebracht bekommen, dann gegen uns einsetzen.«

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