Vor der Richtungswahl
Von John McAulayEs geht um nichts Geringeres als die Seele Argentiniens. Diesen Sonntag findet in dem südamerikanischen Land die Stichwahl um das Präsidentenamt statt. Sergio Massa, der Führer einer Mitte-links-Koalition, tritt gegen Javier Milei an, einen extrem rechten »Anarchokapitalisten«. Milei hat die politische Szene erschüttert, indem er sich in seiner Rhetorik die katastrophale wirtschaftliche Lage des Landes zunutze gemacht hat, die durch eine verheerende Hyperinflation verursacht wurde. Es handelt sich um die wichtigste Wahl seit Jahrzehnten, bei der sich zwei Kandidaten mit gegensätzlichen Visionen gegenüberstehen, die über wirtschaftliche Fragen weit hinausgehen.
Einer der sichtbarsten Streitpunkte ist die Frage der Frauenrechte. Milei hat bereits versprochen, das kürzlich geschaffene Ministerium für Frauen, Geschlechter und Vielfalt wieder zu schließen, was laut Kabinettschefin Erica Laporte »katastrophal« wäre. Die derzeitige Mitte-links-Regierung habe bei der Eroberung neuer Rechte für Frauen eine Vorreiterrolle gespielt. Laporte warnt, dass ein Regierungswechsel einen Rückschritt bedeuten könne: »Es gibt ein Gefühl unter den Wählern, dass diese Rechte nicht verlorengehen, selbst wenn Milei gewinnt. Ich denke aber, wir müssen uns daran erinnern, dass sie uns nicht auf magische Weise gegeben wurden, sondern dass wir für sie kämpfen mussten.« Auch Analía Mas, Anwältin und Veteranin der Frauenbewegung, appelliert an die Wähler, sich klarzumachen, dass sie keinen Einfluss mehr darauf haben werden, welche Politik der künftige Präsident schließlich umsetze. »Milei hat gefährliche Vorschläge, die über wirtschaftliche Aspekte hinausgehen, und er wird sich nicht scheuen, sie umzusetzen«, warnt sie.
Milei hat außerdem angekündigt, dass er im Falle seiner Wahl ein Referendum zur Abschaffung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch abhalten will. Das Recht auf freien Schwangerschaftsabbruch stand jahrelang an der Spitze der Forderungen der starken argentinischen Frauenbewegung, bis Abbrüche 2020 endlich entkriminalisiert wurden. »Es war ein schöner Moment, anders kann man es nicht beschreiben«, erinnert sich die 25jährige María in Buenos Aires. Wie viele andere macht sie sich Sorgen, dass ein Sieg des extrem rechten Kandidaten einen großen Rückschritt bedeuten würde. »Was mir am meisten Angst macht, ist, dass die Gewalt gegen Frauen zunehmen wird«, sagt sie. »Es gibt eine Reihe von Männern, die sich durch Mileis Hassreden zu gewalttätigen Handlungen ermutigt fühlen.«
Im Gegensatz zu Milei, dem sich bereits zahlreiche Frauen in Protestmärschen entgegengestellt haben, hat der Peronist Sergio Massa eine breite Unterstützung der Frauenbewegung gewonnen und sich als jemand präsentiert, der den Kampf für neue Rechte fortsetzen wird. In der Präsidentschaftsdebatte vom vergangenen Wochenende im öffentlichen Fernsehen rief der Mitte-links-Kandidat seinem Gegner Milei öffentlich zu, er solle »aufhören, Frauen gegenüber respektlos zu sein«. Massa hofft nun, dass die Gefahr eines Wahlsiegs der extremen Rechten ausreicht, um die weiblichen Wähler zu mobilisieren und ihn am Sonntag bei den Präsidentschaftswahlen über die Ziellinie zu bringen.
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